Die Stadt war kaputt, das war ihr bewusst. Nur zugeben durfte sie es nicht. Musste irgendwie weitermachen. Der nächste Tag würde die Entscheidung bringen.
Wahlkampf bis zum letzten Tag. Jetzt ist‘s aber auch mal gut, dachte Franziska, als sie aus der Dusche trat und ihre 128 Etuikleider und Kostüme begutachtete. Es gab tatsächlich Leute, die sie für rechts hielten, weil sie sich weiblich zu kleiden pflegte, Perlenohrringe und Hochsteckfrisuren trug. Außerdem hatte sie aus ihrer Neuköllner Zeit den Ruf, auf Heinz‘ Spuren zu wandeln, auch mal „Stopp!“ zu rufen respektive zu piepsen. Sie hatte sogar für Abschiebung nach schweren Straftaten plädiert und gesagt, beim Sport- und Schwimmunterricht dürfe es „keine kulturellen oder religiösen Ausreden geben“. Dafür war sie aber auch bereit, Kompromisse einzugehen, von wegen Burkinis und so.
Und dass es an vielen Berliner Schulen zuging wie in Mogadischu 2014, wollte sie auch nicht hinnehmen. Also, offiziell. Nur musste man das Problem sozialdemokratisch lösen oder zumindest so tun, als wollte man es: Nach den „Bleib cool am Pool“-T-Shirts tragenden Anti-Konflikt-Teams in den Horror-Schwimmbädern jetzt Anti-Mobbing-Profis an ausgewählte Schulen schicken. „Religiöses Mobbing in Klassenzimmern und auf Schulhöfen müssen wir sehr ernst nehmen. Egal von wem es ausgeht“, hatte sie gesagt. Dabei wusste sie natürlich, von wem es ausgeht – von Juden, Buddhisten und Zeugen Jehovas jedenfalls nicht. Sondern von denen, deren Vornamen man nicht aussprechen durfte.
Diese Burschen kannte sie ja noch aus ihrer Zeit als Bürgermeisterin von Neukölln. Im Rückblick war sie ganz froh, nicht Lehrerin geworden zu sein. Ihre Kehlkopfmuskelschwäche wäre ein gefundenes Fressen für die Lümmel gewesen, Ältere erinnerte ihre Stimme eher an einen TV-Star der 60er-Jahre. Stattdessen also die Politik. Da war es ja oft auch nur so semi-gut gelaufen, dachte Franziska auf dem Weg zum Roten Rathaus. Der Karsten hatte Mist gebaut, falsche Arbeitszeiten vorgetäuscht und sich Reisekosten erschlichen. Vor allem hatte er sich erwischen lassen, der Depp, und ihr war diese verdammte Doktorarbeit auf die Füße gefallen.
70.000 hatte die Vogelscheuche ausgegeben
„Täuschung über die Eigenständigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistung“, hatte es geheißen. Sie selbst hatte von „Fehlern“ gesprochen, die ihr unterlaufen seien. Mist, verdammter. Jetzt konnte sie den Doktortitel abschreiben. Das war wirklich schmerzhaft gewesen, sie hatte immer voller Stolz ihren „Dr.“ dem Namen vorangeschrieben, selbst auf Geburtstagskarten an Freunde und Notizen an ihren Sohn („Milch und Obst sind im Kühlschrank, gez. Dr. F.G.“). Darauf war der kurze Karriereknick gefolgt, obwohl sie noch immer fand, dass ihre Wortschöpfungen, das „Gute-Kita-Gesetz“ und das „Starke-Familie-Gesetz“, nicht nur knorke sondern geradezu genial waren. Zum Glück hatte Michael um die Zeit gerade die Nase voll von Berlin und wollte in den Bundestag, da konnte sie in die Lücke stoßen.
*Tüdelüt*. Ihr Smartphone meldete sich. Oh nein, Raed war dran. Dieser Nullinger. Franziska verdrehte die Augen, während ihr Genosse sein aktuelles Leid klagte. Wie er nervte! Sie musste zugeben, dass sie sich diebisch gefreut hatte, als er beim Krömer zerlegt worden war. Was ging er auch dahin, der Klappspaten! Das wäre ihr nicht passiert. Noch einfältiger war nur noch seine Landsfrau, die Sawsan. Aber es musste eben bunt und multikulti zugehen, das war Berlin hier.
Nach dem Grußwort beim Empfang der Handwerkerinnung einige kurze Erledigungen im Büro, noch ein Wort-Bild-Termin. 35.000 Euro hatte sie letztes Jahr für externe Fotografen und Videofilmer extra ausgegeben, war kürzlich zu lesen gewesen. Bettina hatte natürlich das Doppelte investieren müssen. Mit mäßigem Erfolg, dachte Franziska mit süffisantem Grinsen, als sie wieder in der Limousine saß und an einem Plakat mit dem Konterfei ihrer grünen Konkurrentin vorbeifuhr. Ihre verhasste Koalitionspartnerin war scharf auf ihren Job, das musste sie unbedingt verhindern. Das eine oder andere Prozentpünktchen noch holen, falls es für R2G noch einmal reichen sollte. Vielleicht noch einmal rechts blinken, bevor sie links abbog, hatte letztes Mal doch auch geklappt.
Das „Chaotische-Wahl-Gesetz“ musste her
Am nächsten Tag würde sich alles entscheiden. Den Umfragen nach reicht es nur für Platz 2, dachte Franziska, aber sie hatte sich noch immer am eigenen Dutt aus dem Sumpf gezogen. Hauptsache nicht Dritter, sonst müsste sie doch noch Nancy als Innenministerin beerben, falls die in Hessen das Rennen machen sollte. Hätte aber auch was für sich, diese kaputte Stadt nicht mehr regieren zu müssen.
Sie sehe Berlin nicht als Chaosstadt, hatte sie neulich der Berliner Zeitung erzählt. Das war natürlich gelogen, sie war ja nicht blöd. Ehrlicherweise musste sie sich eingestehen, dass die Oberchaoten im Roten Rathaus saßen, aber sie sprach lieber von den 145 Chaoten, die in der Silvesternacht „Mist gebaut“ und ein schlechtes Licht auf die anderen fast vier Millionen fleißigen und superhöflichen Berliner geworfen hätten. Ha!
Hoffentlich würden diesmal nicht allzu viele Pannen passieren. Noch einmal so ein Chaos, und die Genossen konnten wirklich einen neuen Job für sie suchen. Der Andreas strahlte immer noch eine unfassbare Ruhe aus, obwohl er die Wahl im vergangenen Jahr grandios in den Sand gesetzt hatte. Machte einfach weiter, nur in einem anderen Ressort. Vielleicht konnte Franziska mit ihm etwas Neues ausarbeiten. Etwa das „Chaotische-Wahl-Gesetz“, mit dem das Desaster institutionalisiert würde; Wahlunterlagen nur jedem Zweiten und per Losverfahren zugeteilt, Wahllokale von 0.00–3.00 Uhr geöffnet sein, Jusos und Grüne Jugend als Betreuer ermächtigt sein würden, für ältere Leutchen die Briefwahlunterlagen auszufüllen. Vor allem mussten die bewährten Schätzungen legalisiert werden.
Heute mal chillen, dachte Franziska, bevor am Sonntag der Stress noch einmal so richtig losgehen würde. Vielleicht für jeden Eventualfall schon mal ein paar Floskeln für die Interviews notieren.
Wenige Kilometer vor ihrem Domizil bremste der Fahrer abrupt ab. Verdammt – ein Stau! Die Klima-Kleber schon wieder. Das konnte dauern. Franziska stöhnte auf. Na gut, musste sie eben die Reststrecke mit der U-Bahn fahren. Sie vergewisserte sich, dass die Dose mit dem Pfefferspray noch in ihrer Handtasche war. Franziska kannte ihre Stadt, da gab es keinen Zweifel.
Claudio Casula arbeitet als Autor, Redakteur und Lektor bei der Achse des Guten.