Ja, er war ein Wendehals, redete heute so und morgen so. Na und? Der geschmeidige Franke wusste sich eben anzupassen. Survival of the Fittest, so war das. Seinetwegen konnte statt des Löwen auch der Wetterhahn auf dem Landeswappen Bayerns prangen.
„Uuuuaaaah!“ Markus gähnte, als er frühmorgens das Badezimmer betrat, und griff zur Zahnbürste auf dem Waschbecken. Aus dem Spiegel blickte ihm ein verschlagenes Gesicht entgegen. Alles wie immer, dachte Markus und grinste hinterfotzig. Ihn mochte eh kein Mensch, aber das war er seit seiner Kindheit gewöhnt. In Schweinau geboren, war er am Nürnberger Dürer-Gymnasium natürlich als Streber und Oberpetz Nummer 1 bekannt und von den Mitschülern jeden Tag in die Brennnesseln geschubst worden, aber wo waren sie jetzt und wo war er?
Markus duschte, ausgiebig und warm natürlich („Nimm das, Habeck!“), zog sich an und ließ sich eine Weißwurst zum Frühstück bringen. Während er das breiige Brät aus dem Darm zutzelte, tippte er bei der Google-Bildersuche „Müsli“ ein, zog sich ein Foto und postete es gleich bei Instagram – mit dem Text: „Es geht doch nichts über einen gesunden Start in den Tag! #söderisst“. Foodporn, er liebte es. Gut, mit der Wahrheit nahm Markus es nicht so genau, aber das machte ihm nichts aus. So bin ich Ministerpräsident geworden und beinahe sogar Bundeskanzler, dachte Markus und richtete den Blick empor zu den gebogenen Balken an der Decke über seinem Arbeitszimmer. Dann ging er den Terminplan für den Tag durch:
Um 10.00 Uhr Spatenstich für den Bau des Radwegzubringers zum Airport. Dann gleich rüber zum feierlichen Festakt anlässlich der Eröffnung des Zahnstochermuseums, wo er eine Ansprache halten musste. Verspätetes Mittagessen. Am frühen Nachmittag würde er sich über das Pilotprojekt „Lärmschutzwand mit integrierter Selbstschussanlage“ informieren, danach Pressetermin, anschließend Spaziergang mit den Pressbengels, die ihm ebenso aus der Hand fraßen wie Labradorhündin Fanny und Zwergpinscherweibchen Bella, die bei der Runde dabei waren. Zum Abschluss am frühen Abend noch ein Grußwort zum 150-jährigen Bestehen der Fleischerei Hintermoser.
Gegen Flaschet verloren! Eine Schande!
Geht ja noch, dachte der 1,94-m-Mann, als er beim Einstieg in die Dienstlimousine den Kopf einzog. Hauptsache nicht nach Berlin. Obwohl: Er hätte es in Kauf genommen, damals, als er beinahe Kanzlerkandidat der Union geworden wäre. Hätte er die Abstimmung im Vorstand nicht gegen Flaschet verloren. Gegen Flaschet! Mit 31:9 abgewatscht, was für eine Schande. Aber der ist ja dann grandios gescheitert, dachte Markus mit wohligem Behagen. Ihm wäre das im Ahrtal nicht passiert, er konnte sich immer schon besser verstellen als der kreidefressende Wolf bei den sieben Geißlein. Aber gut, jetzt musste der Scholzomat mit dem schlumpfigen Grinsen und dem schlechten Gedächtnis alles ausbaden und nicht er. Trotzdem: Corona war seine Chance gewesen, und er hatte sie versemmelt wie der Glubb den Aufstieg. Dabei hatte er sich so spektakulär in den Vordergrund spielen können. Er war der Hardliner gewesen, „Team Vorsicht“, hatte ständig von einer dramatischen Lage auf den Intensivstationen und drohender kompletter Überlastung schwadroniert, hatte auf die Frage, wo wir uns in der Pandemie befinden würden auf einer Skala von 1 bis 10 (totale Apokalypse), kackdreist „9“ gesagt. „Corona kriecht durch jede Ritze“ und „Es ist ein heimtückisches und fieses Virus“ bei Maischberger.
Heimtückisch und fies, das traf ja eigentlich auf ihn zu. Die Panikmache hatte ihm ein richtig gutes Gefühl verliehen. Nicht einmal vor der Behauptung, jeden Tag stürben so viele Menschen an Corona wie bei zwei Flugzeugabstürzen, war er zurückgeschreckt. Har har. Ja, wenn in den Fliegern ausschließlich multimorbide 84-Jährige gesessen hätten. Markus grinste diabolisch. Dann post mortem noch einen Corona-Test machen, so werden selbst Absturzopfer noch zu Covid-Toten. „An oder mit!“, lachte Markus. Die Leut‘ hatte man schön an der Nase herumgeführt, und er war ganz vorne dabei gewesen bei der Fake-Pandemie. Permanente Medienpräsenz, wie hatte er es genossen. Zurückhaltung war seine Sache nicht. Du musst auf die Kacke hauen, wenn du Aufmerksamkeit willst, das war ihm sehr wohl bewusst. 100.000 Leben habe er gerettet, hatte er vor dem Landtag geprahlt. Um gleich hinterherzuschieben, dass er das ja auch nur als seine Pflicht betrachtet habe.
Spatenstich, kurzes Statement, wieder rein in den Wagen. Mit markigen Sprüchen auffallen, dachte Markus. Auch mal Fotos machen lassen, die anderen peinlich wären. Er war sich nicht einmal zu schade gewesen, den Treehugger zu geben, um den Grünen Konkurrenz zu machen. Und dann die Auftritte beim Fasching! Seine Kostüme waren legendär. Er war schon als Eisbär Flocke, Gandalf, Gene Simmons, Punk, Shrek, Mahatma Gandhi, als der Kini und als Homer Simpson gegangen. Am liebsten hätte er sich als Idi Amin, sein großes Idol, verkleidet, aber dann hätte es Ärger wegen Blackfacing gegeben. Markus hielt zwar nichts von Woko Haram, aber er wollte es sich auch nicht mit einem zukünftigen Koalitionspartner verscherzen.
Rekordmeister bei Lügen und Kehrtwenden
Als Markus den Termin im Zahnstochermuseum hinter sich hatte und die Kantine des Landtags betrat, ließ er seinen Blick über die Teller der Gäste schweifen. Schäuferla mit Kartoffelsalat gab's heute, sehr gut! Wenig später machte er sich über die herzhafte Speise her. Kaum war der Teller blankgeschleckt, ging Markus an den Nebentisch, machte mit seinem iPhone ein Foto vom kleinen gemischten Salat einer Landtagsabgeordneten, öffnete seinen Instagram-Account und schickte das Bild los: „Leicht, aber nahrhaft. Für ein gesundes Bayern! #söderisst“.
Die kleinen Flunkereien des Alltags, dachte Markus, darauf kommt es nun wirklich nicht mehr an. Selbst bei den großen Lügen hatte er es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht – ähnlich stark wie seine Fähigkeit, heute das eine zu erzählen und morgen das andere. Der Groucho-Marx-Spruch war sein Leitmotiv: „Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch andere.“ Seit ich Landesvater bin, müsste eigentlich der Löwe im bayerischen Wappen durch den Wetterhahn ersetzt sein, dachte Markus. Er kam schon selber nicht mehr mit, wie oft er politische 180-Grad-Wenden vollzogen hatte. Oder 360-Grad-Wenden, wie Annalena sagen würde.
Auf dem Weg zur Pressekonferenz versuchte er sich zu erinnern: Klar, er war nie ein Linker gewesen, im Gegenteil schon als Teenager jeden Morgen mit dem Blick auf das Franz-Josef-Strauß-Poster an der Dachschräge aufgewacht. War natürlich immer für Atomkraft gewesen. Bis 2011, weil die Hexe aus der Uckermark über Nacht den Ausstieg beschlossen hatte. Dann war er plötzlich auch gegen Kernenergie. Jetzt wieder dafür, weil die Umfragen zuletzt gezeigt hatten, dass die Leute angesichts der Energiekrise doch lieber an der Kernkraft festhalten wollten. Man muss flexibel bleiben, dachte Markus. Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern. Adenauer. So wie er noch im Juli 2021 gegen eine Impfpflicht gewesen war („ein starker Grundrechtseingriff“) und im Dezember meinte: „Impfen ist der Weg zur Freiheit“.
Was war das für eine geile Zeit!
Ja, er war ein Wendehals. Na und? Politik war nun mal ein schmutziges Geschäft. So hatte er für wirksame Grenzsicherung plädiert und von „Asyltourismus“ gesprochen, später „Für mich ist das individuelle Grundrecht auf Asyl unantastbar“ gesagt. Wie es eben passte. Mal standen Grüne für ihn „für Bevormundung, für Fahrverbote, für unbegrenzte Zuwanderung, für höhere Steuern“, dann wieder fand er, „dass Schwarz-Grün einen großen Reiz hätte, weil beide politischen Kräfte die ganz großen Fragen unserer Zeit im Blick haben“. Noch früher: die Diskussion ums Rauchverbot. Erst dagegen, dann dafür. Die Milliarden für die Pleite-Griechen: erst dagegen, dann dafür. Die dritte Startbahn am Münchner Flughafen: erst dafür, dann dagegen. Und er hatte geklagt, dass der Föderalismus ausgehöhlt werde, sich in der „Pandemie“-Zeit dann aber mehr Kompetenzen des Bundes über das Infektionsschutzgesetz gewünscht. Ach, die gute alte MPK. Was war das für eine geile Zeit gewesen!
Das Grußwort zum 150-jährigen Bestehen der Fleischerei Hintermoser brachte Markus routiniert hinter sich. Nun ab nach Hause. Markus trat auf den Balkon, hängte sein Mäntelchen nach dem Wind und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Die neue Folge für seinen Podcast „Auf eine weiß-blaue Tasse" vorbereiten, ein paar Talking Points und markige Sprüche für Anne Will am Sonntag notieren, Hubsi anrufen und ihn daran erinnern, dass er, der Maggus, auch mit den Grünen könnte. Nicht, dass der übermütig wurde. Außerdem war das mit der Kanzlerkandidatur für ihn noch längst nicht ganz abgehakt, auch wenn er das neulich dem Lanz erzählt hatte. Ehe der Hahn zweimal krähte, hatte er schon die nächste Volte vollzogen. Der Friedrich war so ein Pizzarandabschneider, so ein Festnetztelefonierer, den würde er noch vor dem Frühstück wegbeißen.
Wie auch immer. Er war zufrieden mit sich und dem Tagwerk. Gleich zur Karin runter, Brotzeit mit ordentlichem Schinken. Die Karin. Gute Frau. Sie hielt ihm „den Rücken frei“, wie er der Presse mal gesagt hatte, um seine Untätigkeit im häuslichen Bereich zu kaschieren. Vielleicht hatte sie noch eine Idee für seine Rede anlässlich der Fronleichnamsprozession der Bayerischen Gebirgsschützen in Gmund am Tegernsee. Nicht unbedingt was Witziges. Eher was Menschliches. Da tat er sich schwer. Markus bleckte die Zähne.
Claudio Casula arbeitet als Autor, Redakteur und Lektor bei der Achse des Guten.