Von Euro-Rettung bis zum Corona-Wiederaufbauprogramm hat sich der Deutsche Bundestag nicht als Gestalter der Haushaltspolitik verstanden. Dieses Verhalten steht im Widerspruch zu den verbindlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Spätestens in seinem Lissabon-Urteil am 9.6.2009 hat das Bundesverfassungsgericht die unveräußerlichen Pflichten des Deutschen Bundestags in der Haushaltspolitik unterstrichen. Der Deutsche Bundestag müsse zentraler Gestalter der Haushaltspolitik bleiben. Alles, was Einnahmen und Ausgaben sowie finanzielle Risiken, die den Bundeshaushalt betreffen, angeht, müsse von ihm gesteuert werden. Er stünde bei Haushaltsfragen im Mittelpunkt des Geschehens. Das Parlament könne auf diese Rolle nicht verzichten, weil die Zuständigkeit des Bundestages für die Haushaltspolitik der unverzichtbare Kern des demokratischen Prinzips sei.
Das Bundesverfassungsgericht nennt diese Pflicht, angesichts immer weiter ausgreifender europäischer Ermächtigungen den Primat der Haushaltspolitik des Bundestages sicherzustellen, Integrationsverantwortung. Es handelt sich also um die Obliegenheit des deutschen Parlamentes, neben der Bundesregierung den Integrationsprozess kritisch zu begleiten und immer dann, wenn die Haushaltspolitik und Verantwortung tangiert ist, sich machtvoll und gestaltend zu Worte zu melden.
Wie dies bisher bei den Euro-Rettungen gehandhabt wurde, wissen wir noch zu gut. Angefangen bei der Griechenland-Rettung bis zu den Notkrediten für Zypern, Portugal, Spanien und Irland wurde der Bundestag immer nur in allerletzter Minute informiert. Stets wurde darauf hingewiesen, dass eine kurzfristige Beratung oder eine ultimativ schnelle Rettung alternativlos sei. Beim ESM, dem europäischen Stabilisierungsmechanismus, ist das Bundesverfassungsgericht sehr präzise geworden. Die Ausreichung von Krediten unter den Bedingungen des Art. 136 AEUV (Gefahr für die Stabilität des gesamten Euro-Gebietes und hohe Konditionalität für den ausgereichten Kredit) müssen erstens vom Bundestag beachtet werden und zweitens kann der Vertreter Deutschlands im ESM keinem Kredit zustimmen, ohne zuvor den Bundestag für eine Ermächtigung gehört zu haben. Die Corona-Krise wirft nun alles über den Haufen.
Die Europäische Komission verschleiert, worum es im Kern geht
Bereits am 14. Mai 2020 stimmte der Bundestag einer Beschlussvorlage des Bundesfinanzministeriums zu, wonach die Mitglieder der Euro-Zone insgesamt 240 Mrd. Euro und einzeln bis zu 2 Prozent des BIPs vom ESM borgen können, allerdings – entgegen der Vereinbarung – ohne Konditionalität, also ohne Bedingungen, die sicherstellen, dass der Kredit erhaltende Staat seine öffentlichen Finanzen reformiert, also neu ordnet.
Am 18.Juni.2020 stimmte der Deutsche Bundestag den Garantien zu – für Deutschland insgesamt 4,6 Mrd. Euro – um das Europäische Kurzarbeitergeld, genannt SURE, in Höhe von insgesamt 100 Mrd. Euro ausschüttungsfähig zu machen.
Für den Wiederaufbaufonds in Höhe von 750 Milliarden Euro steht ein entsprechender Beschluss des Bundestages zusammen mit den Parlamenten der anderen EU‑Staaten noch aus. Die Europäische Kommission ist bislang sehr geschickt vorgegangen. Sie verschleiert, worum es im Kern geht: Um die phänomenale Verstärkung ihrer Machtstellung. Sie schlägt ganz ungeniert den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Selbstkastration ihrer fiskalischen Demokratien vor. Die Mitgliedsstaaten sollen der kollektiven Haftung für einen Wiederaufbaufonds in Höhe von 750 Milliarden Euro zustimmen, der erst 2028 rückzahlbar ist und im Wesentlichen aus dem dann erhöhten EU-Haushalt getilgt werden soll.
Die Kommission verschweigt indessen, dass die hierfür im mindesten jährliche Tilgungsraten von 25 bis30 Milliarden Euro auch aus einem erhöhten EU-Haushalt nicht gezahlt werden können, also folglich die EU weitere Eigenmittel braucht, die sie nur durch Steuern erzielen kann, obwohl ihr eine Steuerhoheit nicht zusteht. Da niemand in der EU leichten Herzens der Kommission das zugestehen will, was die Verträge ihr verweigern, die Souveränität über Steuermittel (Art. 114 AEUV ist diesbezüglich eindeutig), zögern sie gegenwärtig noch, sich auf das süße Gift der Subventionsversprechen einzulassen. Doch die Kommission lässt nicht locker. In Machtfragen kennt sie keine Kompromisse und scheut auch vor unseriösen Lockerungen nicht zurück.
Die Nordländer werden unter Druck gesetzt
Polen, dem widerspenstigen Land im Osten Europas, verspricht die Kommission aufgrund des Verteilungsschlüssels für den Wiederaufbaufonds 64 Milliarden Euro. Dies ist ungefähr acht Mal so viel wie in Polen im Verteidigungshaushalt ausgegeben wird. In deutschen Kaufkraftgrößen würde dies ungefähr 350 Milliarden Euro entsprechen. Einem solchen Angebot wird sich ein polnischer Ministerpräsident – egal welcher Partei er angehört – kaum widersetzen können. Gleichzeitig werden die Nordländer – insbesondere „Die sparsamen Vier“ – unter Druck gesetzt. Wollen sie wirklich die Schuldigen dafür sein, dass Europa nicht aus der Corona-Krise heraus kommt? Sie diskutieren nur noch über die Frage, wie hoch der Fonds sein soll und wie das Verhältnis von Subventionen und Krediten ausfallen soll. Im Kern haben sie sich bereits damit abgefunden, dass es jedenfalls eine gemeinsame Haftung geben wird. Aus alledem wird die Methode der Europäischen Kommission deutlich. Sie kauft die Zustimmung sowohl in Südeuropa und auch bei den widerspenstigen Ländern Osteuropas und sie erpresst die Nordländer, die – außer Deutschland – von dem gesamten Konzept nichts halten.
Sollte die EU-Kommission dann über die 750 Milliarden Euro verfügen, wird sie zur Herrin Europas werden. Sie entscheidet daaüber, welche Region coronageschädigt ist, wie viel Geld sie für welches Projekt erhält. Und sie kann aus dem großen 750 Milliarden-Euro-Topf auch gleichzeitig ihre Chef-Propagandisten in den unterschiedlichen Wissenschaftsinstitutionen bezahlen. Das Collège de l’Europe bekommt jährlich 10 Millionen Euro, CEPS einer von vielen kommissionsnahen Think Tanks bekommt 2 Millionen Euro, ganz zu schweigen von Bruegel, wo das gesamte Brüsseler Establishment wissenschaftlich flaniert.
Die Kommission ist längst zu einer völlig autonomen Instanz geworden, die sich durch diesen einmaligen coup d’État in die Lage versetzt, ihre Macht exponentiell auszubauen. Wer eine europäische Zentralregierung unter Leitung von Frau von der Leyen wünscht, möge dem Wiederaufbauprogramm zustimmen. Wer fiskalische Verantwortlichkeit der Nationalstaaten erhalten will, der möge sich sehr genau überlegen, ob nicht der Zeitpunkt gekommen ist, neue Widerstandsformen gegen das Diktaturprojekt, das sich Europäische Integration nennt, zu erfinden.
Markus C.Kerber ist Professor für öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin, Gründer von www.europolis-online.org