Von Markus C. Kerber
Der Verfassungsrichter Peter Müller stimmte gegen die Mehrheit seiner Richter-Kollegen. Die "Transformation der Europäischen Union in eine Transfer- und Verschuldungsunion" durch die Hintertür hätte man nicht durchwinken sollen.
Beobachtern, die mit der Richteroligarchie in Karlsruhe langjährige Erfahrungen haben, war seit der mündlichen Verhandlung zur Vereinbarkeit des mittlerweile in Gang gesetzten EU-Verschuldungsprojektes „Next Generation EU“ (NGEU) eines klar: Das Bundesverfassungsgericht würde den Fall nicht einmal dem Europäischen Gerichtshof vorlegen, sondern aus eigener Machtvollkommenheit einen Ultra-vires-Akt verneinen. Denn so voreingenommene Richter wie Frau Langenfeld hatten in der mündlichen Verhandlung bereits angedeutet, dass sie trotz des Volumens von 800 Mrd. Euro die Budgethoheit des Bundestags nicht gefährdet sahen. Entgegenstehende Gutachten – wie die quantifizierten Hinweise des Finanzwissenschaftlers Heinemann auf gesamtschuldnerische Ausfallhaftung – wurden vom Zweiten Senat gar nicht erst erörtert.
Doch das Urteil vom 6. Dezember 2022, mit dem das Bundesverfassungsgericht das Verschuldungsprojekt „Next Generation EU“ (NGEU) als „nicht offensichtlich“ kompetenzüberschreitend würdigt, hat einen hohen Preis: Zum einen zeichnet das Bundesverfassungsgericht den legalen Weg in die EU-Schuldenunion, eine Gebrauchsanweisung für Frau von der Leyen & Co., um die Gemeinschaftsverschuldung voranzutreiben. Zum anderen sind die argumentativen Defizite so gravierend, dass sich ein Mitglied des Zweiten Senats, Peter Müller, zu einem geharnischten Sondervotum verpflichtet sah. Darin heißt es:
„Die Behauptung der Senatsmehrheit, es handele sich bei NGEU um ein ‚einmaliges Instrument zur Reaktion auf eine präzedenzlose Krise‘ und ‚nicht um den Einstieg in die Transferunion‘ ist in mehrfacher Hinsicht nicht belastbar. Dem widerspricht nicht nur die fehlende Begrenzung der Verwendungszwecke des NGEU auf die Bewältigung der Folgen der COVID-19-Pandemie und die regelmäßige Verstetigung temporär eingeführter Instrumente über das Ende der jeweiligen Krise hinaus. Die Senatsmehrheit lässt auch außer Betracht, dass die Bundesregierung in Anknüpfung an Äußerungen des Bundesfinanzministers im Deutschen Bundestag erklärt hat, dass NGEU ‚einen notwendigen und überfälligen Schritt in Richtung Fiskalunion Europäische Union‘ darstelle.“
Französischer Traum ist deutscher Albtraum
Indes gibt sich Müller mit dieser methodischen Kritik an der Urteilsfindung nicht zufrieden. Er weist auf die Folgen dieser Judikatur hin: Transferunion ohne Vertragsänderung:
„Mit der Hinnahme von Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe a Eigenmittelbeschluss 2020 öffnet die Senatsmehrheit den Weg zu einer grundlegenden Veränderung der Finanzarchitektur der Europäischen Union, die durch ein dauerhaftes, nahezu paritätisches Nebeneinander von Eigenmitteln und Kreditaufnahmen geprägt ist. Die Haushaltsstrukturen der Europäischen Union verändern sich damit evident in Richtung auf eine Fiskal- und Transferunion. Zwar mag es dafür sehr gute politische Gründe geben. Dies ändert jedoch nichts daran, dass in keiner Weise ersichtlich ist, dass diese Haushaltsarchitektur dem Integrationskonzept, wie es in Art. 310 ff. AEUV festgelegt ist, entspricht. Der Weg zur Transformation der Europäischen Union in eine Transfer- und Verschuldungsunion führt daher nach meiner festen Überzeugung nur über eine Änderung der Verträge im Verfahren nach Art. 48 EUV.“
Jetzt können die Brüsseler Kommissare von der Leyen, Gentiloni und Breton den französisch-italienischen Traum der EU endlich legal zum deutschen Albtraum machen: Deutschland haftet demnächst für weitere EU-Schulden. Frau von der Leyen nennt das „europäische Souveränität“. Die legale Liquidation nationaler Souveränität, hat durch die Karlsruher „Verfassungshüter“ am 6. Dezember 2022 einen neuen Impuls erhalten. Das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts ist damit nicht nur schwer angeschlagen, sondern seine Autorität als Hüter des Grundgesetzes ist sicher bei vielen Bürgern in Frage gestellt. Dies führt zurück zum Anfangsstatement von Richter Müller:
„‚Den Vorhang zu und alle Fragen offen‘ scheint mir keine geeignete Maxime zum effektiven Schutz des grundrechtsgleichen Rechts auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zu sein.“
Dies ist gewiss eine höfliche Formulierung der Zweifel eines Verfassungsrichters an der Funktionalität des Gerichts, dem er angehört. Aber dahinter verbirgt sich vielleicht eine bohrende Frage: Wann könnte der Vorhang der Geschichte für das Bundesverfassungsgericht fallen?
Markus C. Kerber ist Dr. jur. Professor für öffentliche Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin, Gastprofessor an der SGH in Warschau und an der Universität Paris 1 Sorbonne, Verfasser des Buches „Europa ohne Frankreich? Deutsche Anmerkungen zur französischen Frage.“ Suhrkamp 2006/ Edition Europolis Berlin 2015. Gründer von www.europolis-online.org