Roger Schawinski, ein Schnellschreiber, Schnellsprecher und Schnelldenker, hat ein kluges, aufschlussreiches, ja brillantes Buch geschrieben, das mir gefällt – und mich ab und zu auch geärgert hat. Wer mich kennt, weiß, dass das durchaus als Kompliment zu verstehen ist „Verschwörung!“ lautet der Titel des Buches, das dieser Tage im Verlag NZZ Libro erschienen ist, und Schawinski kümmert sich vielleicht als einer der ersten bekannten Journalisten um ein Phänomen, von dem wir alle wissen, das wir manchmal belächeln, oft nicht ernst nehmen – und das wir aber je länger, desto mehr ernst nehmen sollten. Das überzeugend vermittelt zu haben, ist eines der großen Verdienste des Buches.
Tatsächlich, das weist Schawinski nach, haben sich Verschwörungstheorien in der jüngsten Gegenwart stark verbreitet – und vor allen Dingen haben sie viel mehr Gewicht erhalten. Dass Schawinski glaubt, dass manche dieser Ansätze selbst bis ins Weiße Haus vorgedrungen sind und den amerikanischen Präsidenten Donald Trump befallen haben, gehört zu den Thesen des Buchs, die mich ärgern, weil sie so überzogen sind. Dennoch bleibt der Fakt richtig: Verschwörungstheorien genießen eine beispiellose Hochkonjunktur – immer mehr Menschen vertrauen wildesten Erzählungen über wichtige Vorgänge in unserer Welt; immer häufiger lassen sich selbst gut informierte Zeitgenossen davon täuschen, immer mehr Bücher, Artikel, Filme mit kaum überprüftem, unwissenschaftlichem, ja tollkühnem und bösartigem Inhalt erscheinen und finden ein dankbares Publikum, das stetig wächst. Selbst intelligente Menschen wie etwa der Basler Friedensforscher Daniele Ganser sind inzwischen Teil und Akteur einer Informationsverseuchung, die nurmehr schwer zu bändigen ist.
Dem promovierten Historiker und Bestsellerautor Ganser widmet sich Schawinski ausführlich – und seine Recherche in dieser Hinsicht gehört zum Besten im Buch: Viel Neues und Bedenkliches erfahren wir – auch Deprimierendes. Dass nämlich Ganser, den ich als Diskussionspartner durchaus schätze, weil er den Widerspruch liebt und erträgt, sich dermaßen verrannt hat, wenn es um die Interpretation der Anschläge auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 geht, ist für mich schwer nachzuvollziehen.
Surreale Irrfahrt eines Wissenschaftlers
Gewiss, jedes historische Ereignis wirft Fragen auf und lässt sich oft nicht bis ins letzte Detail klären, mit neuen Forschungsergebnissen ist stets zu rechnen – das gilt auch für 9/11. Dennoch wirkt es abstrus und fahrlässig, wenn Ganser allen Ernstes meint, hinter diesem Anschlag, dem rund 3.000 Menschen zum Opfer gefallen sind, die Mehrheit davon Amerikaner, könnten die USA selber stecken, – seien es auch nur unbekannte Mitglieder ihrer Regierung oder Geheimdienste. Warum ist das abstrus? Weil einer solchen Interpretation eine Annahme zugrunde liegt, die den Kern vieler Verschwörungstheorien bildet: dass sehr, sehr wenige Leute eine gigantische Verschwörung planen und ausführen, ohne dass dies je jemand bemerkt und ohne dass je jemand nachher diese Sache verrät. Terrororganisationen wie die RAF oder Al-Qaida sind dazu in der Lage, hin und wieder, meistens scheitern auch sie, aber Regierungen oder Geheimdienste, also bürokratische, politisierte, in der Öffentlichkeit stehende Institutionen, wo tausende von Menschen arbeiten und allenfalls involviert werden, sind dazu nie und nimmer imstande.
Also zu glauben, es lasse sich innerhalb der amerikanischen Regierung oder Verwaltung derart Monströses, Kriminelles und Komplexes entwerfen – und alle Beteiligten hielten nachher jahrzehntelang den Mund, hat etwas Surreales. Wenn man darüber hinaus daran denkt, wie ungeheuerlich ein solches Komplott wäre, wird klar, wie halluzinatorisch diese Theorie wirkt: Gibt es einen einzigen amerikanischen Staatsangestellten, der den Tod von tausenden von Amerikanern in Kauf nehmen würde – allein deshalb, um einen Vorwand zu erhalten, einen Krieg im Nahen Osten auszulösen? Einen Krieg notabene, für den einen Anlass zu finden schon vorher jederzeit möglich gewesen wäre. Al-Qaida, das sich in Afghanistan unter dem Schutz der Taliban versteckte, hatte schon vorher Anschläge ausgeübt; Saddam Hussein hielt sich nicht an die Sanktionen der UNO, lange bevor in Manhattan Menschen starben. Kurz, es ist ein Fiebertraum, eine Fata Morgana, wirres Zeug, das Ganser und viele seiner Anhänger glauben, so dass ich mich frage, was ihnen den Verstand geraubt hat.
9/11 und die damit verbundene Verschwörungstheorie ist jedoch lange nicht die einzige Fata Morgana, mit der sich Schawinski befasst, im Gegenteil, man staunt, wieviel Unsinn kursiert. Ob die Angst, Impfungen könnten Autismus auslösen, was offenbar Trump befürchtet, oder die Erwartung, die Außerirdischen würden uns irgendwann wieder einmal besuchen: Es sind der Fantasie wenig Grenzen gesetzt, was ja in Ordnung wäre, wenn die betreffenden Menschen wüssten, dass es sich um Fantasien handelt. So gesehen liest man Erich von Dänikens Märchen noch gerne, die Schawinski fast liebevoll darstellt, wohl weil sie so harmlos wirken im Vergleich zum Gift, das sonst neuerdings gemischt wird. Von Däniken, ein begnadeter Fabulierer, der so gut fabulierte, dass er sich wohl selber zu glauben begann, gehört offensichtlich einer anderen Epoche an. Denn davon geht Schawinski aus, und er dürfte recht haben: Die Verschwörungstheoretiker befinden sich im Aufschwung – und was sie auslösen, ist lange nicht mehr so kurios, sondern mitunter richtig gefährlich.
Das Internet als „Brandbeschleuniger"
Warum hat die Neigung zugenommen, Verschwörungstheorien zu verfallen? Schawinski nennt zwei Ursachen: Zum einen sieht er in 9/11 ein Ereignis, das wie kein anderes zuvor den Verschwörungstheoretikern Stoff zum Spintisieren und Spekulieren verschafft hat, was nicht der Logik entbehrt, zumal 9/11 ein epochaler, unheimlicher Einbruch war, der die Ängste und Albträume aller Menschen beschäftigte.
Zum anderen, so Schawinski, habe das Internet wie ein „Brandbeschleuniger“ gewirkt. Ohne Frage hat er hier einen Punkt: Was vorher allein in gedruckten Zeitungen, Büchern oder Sendern ausgebreitet werden konnte, was immer gewisse empfindliche Anfangsinvestitionen erforderte, lässt sich seit des Aufkommens des World Wide Web mit Leichtigkeit milliardenfach unter die Leute bringen. Schawinski: „Die Kombination einer neuen, unglaublich wirkungsvollen Verbreitungstechnologie mit einem sensationsträchtigen Ereignis [9/11] erwies sich als geradezu explosiv.“
Jedes Buch hat auch Schwächen, jeder Text birgt Ärgernisse. Schawinskis Befürchtungen hinsichtlich Trump habe ich angedeutet, sie hier zu vertiefen, macht keinen Sinn, wir streiten uns jeden Montag auf Radio 1 darüber.
Worin ich eine andere Schwäche sehe, ist eine gewisse Einseitigkeit. Schawinski räumt zwar ein, dass es Verschwörungstheorien auf der linken und der rechten Seite gibt, und er geht auch auf einige linker Provenienz ein, doch richtig zu beschäftigen scheint ihn das kaum, viel Raum gewährt er ihnen nicht – und wenn er vor Gefahren warnt, und das tut er engagiert, dann lauern die Gefahren in der Regel rechts. Ich halte dies nicht bloß für eine Schwäche, weil sie politisch motiviert wirkt und darum seine Ausführungen an Glaubwürdigkeit einbüßen, sondern auch aus analytischen Gründen. Wer hier den Beitrag der Linken zu wenig würdigt, vergibt sich mancher Chance, diese neuartige intellektuelle Epidemie zu durchdringen.
Der Marixmus ist eine Verschwörungstheorie
Ganser zum Beispiel ist ein Linker – und deutet damit an, wie wichtig und wirkungsmächtig Verschwörungstheorien auf der Linken waren und nach wie vor sind. Der Marxismus ist im Grunde genommen nichts anderes als eine groß angelegte Verschwörungstheorie, in der die Bourgeoisie das Proletariat unterdrückt und alles, was der Staat und die Behörden unterlassen oder tun, nur diesem Zweck unterworfen ist. Die paranoide Angst mancher Verschwörungstheoretiker vor dem Staat, ja ihr Hass und die Bereitschaft, den Behörden, insbesondere der Polizei und den Geheimdiensten, jedes Verbrechen zu unterstellen, geht nicht zuletzt auf die Paranoia von Karl Marx zurück. Dieses Phänomen bleibt bei Schawinski unterbelichtet.
Trotz dieser Einwände handelt es sich hier um ein kleines, schlankes Meisterwerk: gut, flüssig, zeitweise wie ein Krimi geschrieben, immer anregend und vor allem relevant, da ein Thema beleuchtend, das wir lange unterschätzt haben, lohnt sich die Lektüre des jüngsten Buches eines der produktivsten Journalisten unseres Landes auf jeden Fall.
Roger Schawinski: „Verschwörung! Die fanatische Jagd nach dem Bösen in der Welt“, NZZ Libro, Zürich 2018, 192 Seiten.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung.