Als Selbstständiger im Finanzdienstleistungsbereich bin ich es gewohnt, Anrufe von mir unbekannten Menschen und Organisationen zu erhalten, die mich als Kunde oder Vertriebsmitarbeiter gewinnen wollen. Neben seriösen Anrufen von Versicherungen und Banken tummeln sich auf dem deutschen Markt allerdings auch viele – nennen wir sie freundlich – „originelle Geschäftsideen“.
Ich hätte da schon einige „lukrative Kapitalanlagen“ verticken können, würde sich mein Intelligenzquotient auf der linken Seite der Gausschen Normalverteilung befinden und würde ich mir die Bedienungsanleitung für Schuhe mit Klettverschluss durchlesen. Sehr gelacht habe ich über eine „Filmbeteiligung mit 12 Prozent Rendite“ an der Produktion eines russischen Zeichentrickfilms, ich hätte meinen Kunden aber auch schon unerschlossene Bohrlöcher von entschlossenen Arschlöchern in Alaska oder Rübenfelder in der Nähe von Toronto/Kanada anbieten können („Dochdoch, Toronto wächst in diese Richtung und sobald die Rübenäcker Bauland werden, da geht der Preis für die Rüben aber nach oben, aber hallo, das sach isch Ihnen! Da sind 200 Prozent Rendite aber die Untergrenze!“).
Wieder andere suchten vor allem ihr eigenes Heil im Ankauf von gebrauchten Lebensversicherungen, in der Hoffnung, der Verkäufer stirbt vor Ablauf der Versicherung, hier wurde das versicherungstechnische Grundprinzip der „Wette auf das Überleben“ auf das Individuum heruntergebrochen. Ich glaube, eine Direktinvestition in die Camorra oder die Bordellszene wäre hier moralischer gewesen.
„Dann wären Sie doch dabei, was, Herrschneider?“
Selbstverständlich lege ich bei derart unwiderstehlich dämlichen und amoralischen Angeboten lachend auf, ich will schließlich weder meine Kunden noch mich in den Ruin treiben. Selbst wenn ich damit an „fantastischen Renditemöglichkeiten“ vorbeigeschrammt bin, so ist doch mein Leben nicht bedroht, und keiner meiner Familienangehörigen wird auf der Straße bespuckt. Zu 100 Prozent blieben die „fantastischen Renditemöglichkeiten“ nämlich genau das: fantastisch.
Ich biete nur Produkte an, die ich entweder wenigstens rudimentär verstehe oder selbst im Portfolio habe. „I like the story“ gibt es nicht, und selbst wenn die Idee wirklich hübsch auf Hochglanzpapier präsentiert wird – wenn mein nicht billiger Bauch „nein“ sagt, dann bleibt es dabei. Bisher bin ich damit ganz gut gefahren und habe daher auch nicht gesessen.
Der Anruf gestern allerdings hat alles Bisherige getoppt.
„Herrschneider“, sagte die nette Dame am Telefon, „Herrschneider, Sie wollen doch auch das Beste für Ihre Kunden, gell?“ Ja, klar will ich das. Happy client, happy clerk! „Das ist ganz prima, Herrschneider, deswegen rufe ich Sie an!“ Aha. „Herrschneider, wie Sie wissen, haben wir ja derzeit Corona!“ Ja, weiß ich. Habe ich am Rande mitbekommen. „Prima, Herrschneider, wissen Sie auch, wie Sie und Ihre Kunden daran profitieren können?“
Ja. Ich könnte in Pharmaunternehmen oder in einen Pizzabringdienst investieren. „Hihi, nein, fast, Herrschneider, aber gesetzt den Fall, wir hätten eine Anlage, die Ihren Kunden garantiert 9 Prozent Rendite PRO MONAT bringt, dann wären Sie doch dabei, was, Herrschneider?“
„Wissen Sie, was eine Beerdigung kostet?“
Ich hasse es, wenn mich Verkaufsdunseln im Danebenberuf in jedem Satz mit meinem Nachnamen ansprechen und Suggestivfragen stellen, aber es ist Jahresbeginn und ich habe gut gefrühstückt, deswegen sage ich brav einmal „ja“. „Prima, Herrschneider, jetzt fragen Sie sich sicher, worum es sich handelt, nicht wahr, Herrschneider?“ Ja. Frage ich mich. Vor allem, wie lange ich mir den Scheiß noch anhören will. „Ja, das frage ich mich“, antworte ich wie ferngesteuert.
„Das ginge mir an Ihrer Stelle auch so, Herrschneider“, bestärkt mich meine Telefonbelästigerin und dribbelt sich um eine konkrete Aussage herum. „Herrschneider, wir von FinanceSolutionWorldEcology haben für diese Zeiten ein Produkt entwickelt, das nicht nur jeder braucht, sondern jeder sich auch leisten kann UND will!“, rückt meine Anruferin heraus, „und Sie und Ihre Kunden können davon profitieren!“ Cool. „Jetzt sind Sie sicher schon ganz neugierig, worum es sich handelt, nicht wahr Herrschneider?“ HERRGOTT, JA!
„Herrschneider, wissen Sie, was eine Beerdigung kostet?“ Ja, so um die 2.500 bis Einfamilienhaus, je nachdem, ob es sich um die Beerdigung einer alleinstehenden autochthonen Katzenbesitzerin oder um ein allseits beliebtes und geachtetes Familienoberhaupt eines kriminellen Libanesenclans mit Polizeischutz handelt. „Genau, Herrschneider, und hier setzen wir an. Wie Sie ja mitbekommen haben, sterben die Menschen an Corona wie die Fliegen im Spätherbst und wir von FinanceSolutionWorldEcology bieten nicht nur fantastisch günstige und ökologisch abbaubare Earth-Container aus Hartpappe an, nein, wir haben auch entsprechende Grundstücke erworben, in denen Ihre Kunden sozusagen endgelagert werden können. Wir rechnen mit einer hohen Übersterblichkeit für 2020 und 2021, nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen der Begleiterscheinungen des Lockdowns wie erhöhten Suizidraten aufgrund finanziellen oder persönlichen Ruins, und somit sind den Renditen der Überlebenden keine Grenzen gesetzt. Na, Herrschneider, was sagen Sie dazu? Ist das nicht ein Win-Win-Geschäft für alle Beteiligten?“
Und weiter, hastig, „sicher fragen Sie sich jetzt, wann es losgeht und was es dabei zu verdienen gibt!“ Und da kracht es aus mir heraus. „Nein, das weiß ich alles schon. Ich glaube, jetzt geht es los und Sie und Ihre Totengräberfirma haben sich meine tiefste Verachtung verdient. Habe die Ehre!“, brülle ich in den Hörer und lege auf. Man kann es mit dem Kapitalismus auch übertreiben. Was kommt als Nächstes? Soylent Green?
(Weitere kapitalistische Einblicke des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.