Der ARD-Faktenchecker Pascal Siggelkow warf amerikanischen Christen vor, sie glaubten, „dass die USA von und für weiße, konservative Christen gegründet sei“. Als ich nach der Quelle fragte, geriet ich in eine ganze Kette von Weiterverweisen und endete bei einer amerikanischen Religionswissenschaftlerin, die so etwas aber nicht stützen wolle. Eine Reise mit der Stillen Post.
Ich muss mit einer Entschuldigung beginnen. Es liegt nun drei Monate zurück, dass hier mein Beitrag „Die Gotteskrieger und die Käse-Expertin“ erschien und fünf Monate, dass ich über den Faktenchecker von tagesschau.de schrieb. Beide Artikel standen in einem Zusammenhang, und ich hatte einen dritten Teil versprochen („Lesen Sie im nächsten Teil: Ein Dialog mit Annika Brockschmidt.“), der aber nie kam. Bis jetzt. Bevor das Jahr endet, möchte ich diesen dreiteiligen Beitrag zu Ende bringen und dabei noch einmal ein Licht auf die fröhliche Welt der Faktenchecker werfen.
Sie haben vergessen, worum es in den beiden ersten Teilen ging oder sie gar nicht gelesen? Ich fasse es kurz zusammen: Der ARD-Faktenchecker Pascal Siggelkow hatte behauptet, dass die allermeisten amerikanischen Christen – aufgezählt wurden: „rechte Katholiken“, Evangelikale und andere Protestanten, Mormonen und denominationslose Christen – Menschen seien, die glaubten, „dass die USA von und für weiße, konservative Christen gegründet sei“. Vulgo: alles Rassisten. Ich fragte den NDR, der für tagesschau.de verantwortlich ist:
„Hat Herr Siggelkow das überprüft? Welche Belege hat er dafür, dass die Vorstellung, die USA seien ‚für weiße, konservative Christen gegründet worden‘, bei den genannten christlichen Bevölkerungsgruppen präsent oder sogar dominant ist?“
Die Antwort des NDR: Bei der Aussage handele es sich „um eine Expertenmeinung“, der Expertin Annika Brockschmidt. Sie stütze sich „auf die Recherchen zu ihrem Buch „Amerikas Gotteskrieger”. Annika Brockschmidt wird oft in öffentlich-rechtliche Talkshows eingeladen, wenn es darum geht, auf Amerika zu schimpfen. Sie war nie in den USA, weiß aber, dass es einen „Amerika inhärenten Faschismus“ gebe (hier ab 33:25) und es auf republikanischen Wahlkampfveranstaltungen für Journalisten „nicht so ungefährlich“ sei, weil Konservative nämlich glauben, dass alle Linken „Mitglieder eines satanischen Kabals“ seien (ab 1:19:15). Wie bitte? Sie wissen nicht, was ein Kabal ist? Ja, kennen Sie denn nicht Friedrich Schillers Telenovela „Kabal und Lieb“?
Der NDR weiter:„Experten zu einem Thema zu befragen und deren Erkenntnisse in einen Text einfließen zu lassen, gehört zum journalistischen Handwerk.“ Ich bin auch ein Handwerker, also machte ich mich daran, Brockschmidts literarisches Hauptwerk zu studieren: Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet.
Wer könnten wohl „Amerikas Gotteskrieger“ und „religiöse Rechte“ sein, die die Demokratie gefährden? Leute wie Nihad Awad, der Exekutivdirektor des islamistischen Lobbyverbands Council on American-Islamic Relations (CAIR), der öffentlich seine „Freude“ über die Hamas-Massaker an Juden am 7. Oktober bekundete? Nein, auf dem Ohr ist Annika Brockschmidt taub. Gefahr kommt für sie immer vom Christentum, nicht vom Islam.
Deutsche Verlage
Manchmal hole ich ein Buch aus der Folie, schlage es irgendwo in der Mitte auf, und gleich als erstes fällt mein Blick auf eine Aussage, bei der offensichtlich ist, dass sie gar nicht stimmen kann – so dass man sich fragt, ob die Manuskripte in den Verlagen überhaupt noch gelesen werden, ehe sie in den Druck gehen. So ging es mir vor drei Jahren mit einem Buch aus dem Ullstein Verlag, dessen Verfasser behauptete, der 1904 gestorbene Theodor Herzl habe die Vertreibung von „Palästinensern“ befürwortet.
Wie sich zeigte, berief sich der Autor auf einen Tagebucheintrag Herzls aus dem Jahr 1895, in dem Herzl die Zweifel eines reichen Pariser Philanthropen an Herzls Idee eines autonomen jüdischen Gemeinwesens reflektierte, das Herzl in Argentinien zu gründen hoffte. Selbst wer von Herzl nie gehört hat und jenen Tagebucheintrag nicht kennt, hätte wohl wissen können, dass damals niemand auf die Idee gekommen wäre, die Bewohner Jerusalems oder Jaffas als „Palästinenser“ zu titulieren und dass der Sultan sicherlich etwas dagegen gehabt hätte, wenn jemand zu ihm in den Topkapi-Palast gekommen wäre und gefragt hätte, ob er wohl die Mohammedaner aus Jerusalem vertreiben dürfe, weil er dort gern einen neuen Staat gründen würde. Es war einfach Mumpitz.
Nachdem ich darauf aufmerksam gemacht hatte, hat der Verfasser die entsprechende Stelle in der englischen Fassung, die kurze Zeit später erschien, dann auch tatsächlich geändert. Der Ullstein Verlag hingegen wollte von einem Fehler nichts wissen. Jene falsche Behauptung finde man auch bei einigen Historikern, und wenn ein Fehler oft genug wiederholt werde, werde er zur Wahrheit, lautete – sinngemäß – die Argumentation. Wörtlich schrieb mir die Redakteurin:
„Fragen der Auslegung historischer Texte sind immer wieder Thema legitimer wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Zu einem solchen faktenbasierten Austausch können wir Sie nur ermutigen. Aber wir weisen entschieden Ihre Aufforderung zurück, die Ullstein Buchverlage hätten sich in dieser Sache zu 'erklären'. Ebenso möchten wir Sie auffordern, von der Verdachtsäußerung Abstand zu nehmen, unser Autor würde Fakten fälschen bzw. dies gar in 'böswilliger' Absicht tun. Bitte beachten Sie, dass wir in dieser Angelegenheit nicht weiter mit Ihnen kommunizieren werden.“
Und so jemand ist für „Öffentlichkeitsarbeit“ zuständig. Das ist der Ullstein-Verlag der Gegenwart: Beleidigte Leberwurst und Beharren auf dem Irrtum statt wissenschaftlicher Lauterkeit. Ein ähnliches Erlebnis hatte ich diesen Sommer mit der Schriftstellerin Annika Brockschmidt.
Sie warnt also davor, wie Christen Amerikas Demokratie gefährden. Wollen die Jesusfreunde Barrikaden bauen und eine Revolution anzetteln? Nein, schlimmer. Sie wollen die Sklaverei aus der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg wieder einführen. So jedenfalls steht es in Brockschmidts Buch. Über den evangelistischen amerikanischen Schriftsteller Stephen McDowell schreibt sie:
„Außerdem ist McDowell der Meinung, dass ‚Heiden‘, damit sind alle Nicht-Christen gemeint, dauerhaft versklavt werden können (…).“
Ich kenne McDowell und seine Schriften nicht; dass aber Christen die Nichtchristen in Ketten legen und auf Sklavenmärkten verkaufen wollen, klingt ungewöhnlich. Es sind eher Anhänger anderer Religionen, die so etwas tun. Stimmt das überhaupt, was Brockschmidt sagt?
Sie verweist per Fußnote auf diesen Text von McDowell mit dem Titel: The Bible, Slavery, and America’s Founders. Also lese ich ihn. Das Traktat beschäftigt sich mit der Frage, wie Christen die Vorstellung, dass Amerika auf Grundlage christlicher Werte gegründet worden sei, in Einklang bringen können mit der historischen Tatsache, dass es von der Gründung der Vereinigten Staaten im Jahr 1776 bis zum Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1865 Sklaverei gab. An keiner Stelle wird Sklaverei befürwortet beziehungsweise die These aufgestellt, dass „alle Nicht-Christen“ „dauerhaft versklavt werden können“.
"Das habe ich nicht gesagt"
Um zu wissen, was von Frau Brockschmidt als Quelle der Wahrheit des ARD-Faktencheckers zu halten ist, muss ich dem auf den Grund gehen. Und so wende ich mich an die Pressesprecherin des Rowohlt Verlags, wo Brockschmidts Buch erschienen ist. Ich schreibe ihr, dass Brockschmidts Behauptung über die angebliche Begeisterung, die der christliche amerikanische Autor Stephen McDowell für die Sklaverei hegt, offenbar aus der Luft gegriffen ist. Die Pressesprecherin leitet meine E-Mail an Frau Brockschmidt weiter. Über den Umweg der Presseabteilung – jemand wie Frau Brockschmidt kommuniziert nicht direkt mit dem einfachen Volk – lässt diese antworten:
„McDowell, ein Christlicher Rekonstruktionist, folgt in dem von Ihnen angesprochenen Text nahezu wortwörtlich den Schlüssen des Extremisten Rushdoony, und beschreibt dort die Versklavung von ‚Heiden‘ als gerechtfertigt. Rushdoony versteht ‚Heiden’ als nicht-Christen. McDowell sieht die Versklavung als Folge des Ungehorsams gegenüber Gott. Ich empfehle Ihnen die Analyse der Religionswissenschftlerin Julie Ingersoll, hier aus „Building Gods Kingdom“, dem religionswissenschaftlichen Standardwerk schlechthin zu christlichem Rekonstruktionismus.“
Das ist alles. Es folgt ein langer englischsprachiger Textabschnitt aus diesem Buch – in dem aber nichts von dem steht, von dem Brockschmidt meint, dass es dort stehe. Ich muss mit Julie Ingersoll reden, der Verfasserin des religionswissenschaftlichen Standardwerks schlechthin. Sie ist Dozentin an einer Universität in Florida. Ich frage sie:
„Die deutsche Autorin Annika Brockschmidt behauptet in ihrem Buch ‚Amerikas Gotteskrieger‘, dass Stephen McDowell, Vorsitzender der Providence Foundation, die Versklavung der nicht-christlichen Bevölkerung unterstützt. Sie verweist auf seinen Artikel ‚The Bible, Slavery, and America's Founders‘ und auch auf Ihr Buch ‚Building God's Kingdom‘. In beiden Büchern habe ich jedoch keinen Beweis dafür gefunden, dass Stephen McDowell sich tatsächlich für die Versklavung von Nichtchristen ausgesprochen hat. Könnten Sie bitte etwas Licht in diese Angelegenheit bringen?“
Sie antwortet: „Ich würde gerne den Kontext für das sehen, was Annika sagt. Das habe ich in meinem Buch nicht gesagt, und ich bin mir nicht bewusst, dass er das propagiert.“ Ingersoll erläutert, dass mit „Sklaverei“ im Kontext der Bibel ein zeitweiliges Dienstverhältnis gemeint sei – etwa, um Schulden zurückzuzahlen. Das sei etwas anderes als die Sklaverei, wie es sie etwa in Amerika gab. Weiter schreibt sie: „Ich kenne Annikas Arbeit, und sie ist sehr sorgfältig, so dass es mich verwundert, dass sie behauptet, McDowell *befürworte* die Versklavung von Nichtchristen.“ Tja. Da hat Annika Brockschmidt offenbar etwas Falsches behauptet. Ich schreibe wieder an den Rowohlt Verlag und sende die gesamte E-Mail von Julie Ingersoll mit.
Die Pressesprecherin antwortet, dass sie meine E-Mail an Annika Brockschmidt weitergeleitet habe, sie aber nicht versprechen könne, dass ich noch ein zweites Mal Antwort erhalten werde – Frau Brockschmidt sei nämlich sehr beschäftigt. Tatsache: Auch ein halbes Jahr später hat sie nicht reagiert und denkt offenbar nicht daran, die falsche Behauptung – für die sie in den USA wegen Verleumdung verklagt werden könnte, falls McDowell sich für ihr Buch interessieren würde – zurückzunehmen.
Die Stille Post der Faktenteufel
Einige Leser werden nun fragen: „Wieso verschwenden Sie damit Zeit?“ Weil die Sache, die wir hier ausgebreitet haben, zeigt, wie im Gewerbe der Faktenchecker – dem, wie man sagt, ältesten Gewerbe der Welt – die Verantwortung flöten geht, durch eine Kette von Experten, die nach dem Prinzip „Stille Post“ funktioniert. Der ARD-Journalist X stellt eine Behauptung auf. Fragt man bei der Presseabteilung nach Beweisen, heißt es: Er hat sich auf die Expertin Y berufen. Fragt man die Expertin Y, beruft sich diese auf eine noch größere Autorität, die Expertin Z. Wendet man sich an die Expertin Z, erfährt man, dass diese von Y falsch wiedergeben wurde. Keiner denkt daran, einen Fehler zuzugeben, und weder die ARD noch der Verlag von Y fühlen sich veranlasst, Verantwortung für das von ihnen veröffentlichte Produkt zu übernehmen und eine falsche Aussage zu korrigieren – wie in dem oben angeführten Beispiel mit dem Ullstein-Autor.
Lassen Sie mich zum Schluss meine Lieblingsumfrage aus dem Jahr 2023 zitieren, die „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, deren vollständiger Titel lautet: „Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23“. Die „distanzierte Mitte“ ist das, was Mao „Rechtsabweichler“ nannte. In dieser Mitte tummeln sich laut den Autoren „entsichert Marktförmige“, die „sich und ihre individuelle Freiheit – entsprechend der Logik des libertären Autoritarismus – gegen staatliche oder gesellschaftliche Autoritäten in Stellung bringen.“ Sie beharren auf ihrer individuellen Freiheit und zweifeln staatliche oder gesellschaftliche Autoritäten an – ja, sind die denn wahnsinnig? Aufmüpfige Untertanen also. Sie werden erschrecken, wenn Sie erfahren, was die Studie (die sicherlich ein paar Millionen gekostet hat) über diese wehrkraftzersetzenden Elemente ans Licht bringt:
„Auch wird unter ihnen deutlich häufiger öffentlich-rechtlichen Medien misstraut oder mit knapp 80 % den Anti-Establishment-Aussagen zugestimmt (Durchschnitt: 45 %).“
Ja dann, Gute Nacht!
Stefan Frank, geboren 1976, ist unabhängiger Publizist und schreibt u.a. für Audiatur online, die Jüdische Rundschau und MENA Watch. Buchveröffentlichungen: „Die Weltvernichtungsmaschine. Vom Kreditboom zur Wirtschaftskrise“ (2009); „Kreditinferno. Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos“ (2012).