Jesko Matthes / 29.03.2023 / 10:00 / Foto: Achgut.com / 38 / Seite ausdrucken

Ostpolitik: Sind wir Deutsche verlässliche Partner?

Vorsicht: Die Sache ist verwirrend, und sie soll es sein. An der Stelle lächle ich dann geheimnisvoll. Denn für deutsche Parteien bin ich kein verlässlicher Partner.

Sind die Grünen die neuen Konservativen? – In der Frankfurter Rundschau äußert sich der ukrainische Euromaidan- und Ökologie-Aktivist, der Kiewer Kulturwissenschaftler Vasyl Cherepanyn, zu den Fehlern Europas im Umgang mit den ehemaligen Staaten des Ostblocks: Europa sei in sein postkoloniales Gegenteil verfallen, bis hin zu einer „Fetischisierung“ des „Nie wieder Krieg“, lasse aber koloniale Interessen anderer auch an seiner Grenze bereitwillig zu, in einem bemerkenswerten Desinteresse an den aus dem ehemaligen Ostblock hervorgegangenen Staaten, das seinerseits in unmittelbarer Kontinuität zur früheren Ostpolitik stünde, die gar keine gewesen sei, sondern ein Hinnehmen sowjet-russischer Hegemonialstrukturen. Hört, hört! Für uns Deutsche ist diese Ostpolitik immerhin mit dem Namen Willy Brandts verbunden.

Solche Einschätzungen wie die des Vasyl Cherpanyn hat man früher ausschließlich von rechts zu hören bekommen, von Konrad Adenauer, Rainer Barzel oder Gerhard Löwenthal. Letzteren sehen manche immer noch in erster Linie als einen Exponenten des Kalten Krieges, obwohl – oder weil – er noch nach 1989 warnte, erneut „auf die Russen reinzufallen“. Heute liest man solche Argumente und Warnungen also in der FR oder, aus derselben Feder Vasyl Cherepanyns, in einer europäischen Publikation für Ökologie, dem Green European Journal. Cherepanyn selbst hat mit seinem Eintreten für eine von Russland unabhängige, „europäische“ Ukraine bereits reichlich Prügel kassiert, doch auch mit Europa hadert er weiterhin und zweifelt an dessen „Werten“, eine Einschätzung, die hierzulande ebenfalls nicht gerade mit dem Mainstream assoziiert wird, sondern üblicherweise „rechts“ verortet oder zumindest „separatistisch“.

An dieser Stelle ist es sehr wichtig, überhaupt erst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass der hiesige Mainstream für den Zentralismus, Bürokratismus und dessen supranationale Dysfunktionalität in der EU nicht im Geringsten den Vorstellungen der Osteuropäer entspricht. Auch in diesem Blog war dies zuletzt an prominenter Stelle in den Worten des Ministerpräsidenten Polens nachzulesen, der sicher einem ganz anderen politischen Kontext entstammt als Vasyl Cherepanyn.

Appeasement als neue „Entspannungspolitik“?

Dieser Diskurs ist politisch verblüffend und geistesgeschichtlich hoch interessant, denn für Deutschland gilt unter umgekehrten Vorzeichen Ähnliches, und auch hier betrifft er alle politischen Lager und legt deren innere Widersprüche schonungslos offen.

Jene aus SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP, die vorgeben, sich für den postkolonialen Osten Europas auch über die bloße Erweiterung der EU hinaus zu interessieren, sind gleichzeitig diejenigen, die die Alleingänge Polens, Ungarns und zuweilen Tschechiens am schärfsten kritisieren, während sie deutsche Alleingänge in der Migrationspolitik diesen Ländern nur allzu gern überstülpen möchten.

Linke und AfD dagegen sind vielleicht am wenigsten mit der „Entspannungspolitik“ verbunden, obwohl man die Linkspartei als ihre posthume Nutznießerin betrachten kann, und auch die AfD eine starke ostdeutsche Verankerung hat. Beide Parteien reden zwar Osteuropa auf den ersten Blick weniger ins Wort; dafür aber reden sie dem Nachgeben als Reaktion auf die russische Aggression das Wort, dem Appeasement gegenüber dem Kreml, der neuen „Entspannungspolitik“, mit deren Wurzeln sie selbst historisch am wenigsten zu tun haben. SPD und CDU/CSU aber haben sich durch ihre jahrzehntelange Politik der wachsenden Abhängigkeit von Russland zutiefst verstrickt und sehen daher in Sachen „Interesse an Osteuropa“ ebenfalls wenig glaubwürdig aus.

Man muss Vasyl Cherepanin in seiner Kritik an Europa also zustimmen. Gerade Deutschland ist für Osteuropa kein verlässlicher Partner, schon fast ohne Ansehen des politischen Lagers, vielleicht mit Ausnahme der Grünen und Teilen der FDP; doch auch für sie dürfte diese Rolle als Hoffnungsträger und potenzieller Partner Polens, Ungarns, Tschechiens und der Ukraine verblüffend und neu sein.

Ein Europa freier Nationen kein „rechter“ Blödsinn

Ebenso unvorhergesehen argumentieren die Grünen gegenüber dem Kreml in etwa auf einer Linie mit Konrad Adenauer, Rainer Barzel und Gerhard Löwenthal, worüber auch dem Neuen Deutschland ein bisschen mulmig wird. Das ND bleibt noch erstaunlich zurückhaltend. Dafür wird der freitag deutlicher, indem er feststellt, der „Westen“ verbaue sich durch seine Unterstützung der Ukraine diplomatische Chancen und lasse China den Vortritt. Siehe da, Die Grünen, die Sprösslinge und Hätschelkinder der Linken, sind die neuen Konservativen, gar die neuen Kalten Krieger! Es ist hier politisch Einiges in Bewegung geraten, in den Parteien, in der Presse. Und die Nachkriegszeit endet erst jetzt. Kunststück: Es ist ja wieder Krieg in Europa.

Mein Dank gilt dennoch dem Kiewer Kulturwissenschaftler, weil er sich ein anderes Europa, eine andere EU für sich und sein Land wünscht als jenen Zustand, den er und ich heute kennen. Mein Dank gilt auch der FR, dass sie einen so scharf EU- und Ostpolitik-kritischen Artikel überhaupt abdruckt – und allen anderen aus den deutschen politischen Parteien, denen es nun in all ihrer Zerrissenheit und historischen Verstrickung klar werden könnte, dass ein Europa freier Nationen kein „rechter“ Blödsinn ist.

Klar doch, den nächsten Grünen oder SPD-Zeitenwende-Protagonisten, den nächsten Merkel-Jünger aus CDU oder CSU, der mir begegnet, und auch die Scharfmacher aus der FDP spreche ich gern auf Konrad Adenauer, Rainer Barzel und Gerhard Löwenthal an, unter Verweis auf Vasyl Cherepanyn. Es wird mir ein Vergnügen sein. Aber, Vorsicht: Die Sache ist verwirrend, und sie soll es sein. An der Stelle lächle ich dann geheimnisvoll. Denn für deutsche Parteien bin ich kein verlässlicher Partner.

Foto: Achgut.com

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Hans-Joachim Gille / 29.03.2023

Werter Herr Matthes, Sie können, wie viele Achgut-Autoren, gut schreiben, dazu auch schlüssig. Wenn es um Osteuropa geht, so darf man festhalten, daß die Osteuropäer bis zum heutigen Tage zu viel West-TV geschaut haben. Das, was die Osteuropäer, einschließlich vom Westen erwarten, ist eine ewige Treuhand mit den Wohnungen, die man nur im Tatort oder sonstigen Krimis zu Gesicht bekommt. Unser Problem waren weder Russen noch Ukrainer. Militärisch wurden wir mit beiden, zumindest bis zum Atomzeitalter, immer fertig. Der Hund liegt im Westen begraben. Jedesmal, wenn wir uns in Osteuropa eingemischt haben, egal ob die Kaiserlichen oder die Nationalsozialsten, ist man uns aus dem Westen in den Rücken gefallen. Wie kommen Politiker im Kalkutta an der Spree auf die Idee, daß das zukünftig anders sein soll? Ist doch unsere geopolitische, wie geostrategische Lage dieselbe wie vor 110 Jahren, nur, daß wir kleiner geworden sind.

Karsten Dörre / 29.03.2023

Man erinnere sich an 1944/45, als “Osteuropäer” (aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern, Sudeten) Richtung Westen flüchteten und alles andere als willkommen waren. Das Deutschland nach 1990 ist farblos und wertefrei. Das Einzige, was Deutschland zusammenhält und verlässlich macht, ist Rudi Völler. Und Letzteres ist, bei aller Sympathie für Rudi Völler, zu wenig und lässt die Zukunft Deutschlands düster aussehen. Es kann nur eine Energieart geben, es kann nur ein Klima geben, es kann nur E gefahren werden - sind absolutistische Vorstellungen. Und diese haben eine Vorgeschichte in der deutschen Demokratie: als alternativlose Entscheidungen, alternativlose Politik öffentlich hoffähig wurden (als Grüne noch eine kleine Partei ohne große Wählerschaft waren).

Fritz kolb / 29.03.2023

Wer sind wir Deutsche denn nach Ihrer Auffassung? Alle die hier leben, alle die einen deutschen Pass haben, alle die mit Doppelpass hier leben oder doch die autochthonen Bürger? Oder die Regierungs-Parteien, die von weniger als jedem fünften Wahlberechtigten gewählt wurden? Deren Repräsentanten, und da in erster Linie Kanzler und Aussenamt, eher der EU huldigen als den Wählern, die sie ins Amt gebracht haben. Viele Fragen, kaum Antworten, was erwarten Sie dann erst vom Ausland, wie soll es denn so ein zerrissenes Volk einschätzen? Um es einmal konservativ auszudrücken: unser Land ist in totale Zerrissenheit geraten, es ist keine integrative Kraft sichtbar und es wird tendenziell ganz sicher nicht besser werden. Schade drum.

Matthias Böhnki / 29.03.2023

Aha. “............Gerhard Löwenthal. Letzteren sehen manche immer noch in erster Linie als einen Exponenten des Kalten Krieges, obwohl – oder weil – er noch nach 1989 warnte, erneut „auf die Russen reinzufallen“. Soso. Wann und bei was ist denn G.L. vor 1989 auf die Russen hereingefallen? 1942/43 vor Stalingrad ? Oder meinte er den 01.08.1914 ? Oder Brest-Litowsk ? Schön ist immer, wenn man Ursache und Wirkung nicht so richtig definieren will und sich zur Herleitung von historischen Wahrheitstheorien einfach Zeitpunkte aus der Geschichte als Startpunkte der Betrachtung heraussucht, die einem in die eigene Agenda passen. Also vor 1989, und damit meine in das 20.Jhdt. bis dahin, war in Europa eigentlich ausschließlich Deutschland für “reinlegen” zuständig. Wer als Startpunkt allen russisch/sowjetischen Übels die Oktoberrevolution von 1917 annimmt, muß sich die unfaßbaren Verwirrungen bis etwa 1921 rund um den 1.Weltkrieg, polnisch-sowjetischer Krieg, ukrainisch-sowjetischer Krieg, Freiheitskriege Estland, Lettland und Littauen mit all ihren Untertützermächten zu Gemüte führen. Und danach den 2. Weltkrieg. Und wo genau bis 1989 hatten die Russen dabei wen reingelegt? Oder meinte Löwenthal doch Gorbatschow und dessen Perestroika ? Wenn einem bei Kanal-Ede im Schwarzen Kanal übel wurde, bei Löwenthal mußte man dann endlich kotzen.

T. Gilde / 29.03.2023

Putin ist schon lange klar, daß es für Rußland keine Zukunft unter der Vorherrschaft der USA gibt. Und so hat er seit 2014 Rußland auf diesen Krieg vorbereitet. Die Amerikaner wollen Deutschland schwächen und die Rohstoffe Rußlands. Auch die Böden der Ukraine sind ihr Ziel. Dafür wird im Notfall alles platt gemacht. Für die Ukraine gibt es keine Zukunft. Nach dem Bevölkerungsrückgang, sind inzwischen Millionen geflohen, die russische Minderheit verloren und die jungen Männer auf den Schlachtfeldern gefallen. Zurück bleiben im besten Fall 30 Millionen Alte und Kranke. Eine einzige Katastrophe.

Ludwig Luhmann / 29.03.2023

Rechts und Links - das sollte von uns überwunden werden. Denn, wenn wir das nicht tun, dann wird das der alles zersetzende Great Reset tun.

Thomas Szabó / 29.03.2023

Ein geistreicher Artikel, der die Kapazität zweier grüner Gehirnzellen weit überlastet.

J.walraven / 29.03.2023

Mit den Osteuropäischen Ländern verbunden sein. Deutschland ist selbst mit seinem osteuropäischem Deutschland nie verbunden gewesen oder hat sich nie verbunden gefühlt. Darum war es so einfach für sie um das deutsche osteuropäische Land als Geschenk an ein anderes Land zu geben. Türkei ist dichter bei dann Osteuropa. In der Türkei ist viel Diktatur aber man schließt die Augen. Nur osteuropäische Länder werden kritisiert.

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