Henryk M. Broder / 05.11.2018 / 15:00 / 12 / Seite ausdrucken

Normalität, die in Deutschland nur später ausbricht

In Hessen wurde ein neuer Landtag gewählt. Wie von allen Demoskopen vorhergesagt, verloren die beiden „Volksparteien“, Union und SPD, so viele Wähler, dass es nicht einmal für eine „Große Koalition“ reichen würde. Also bleibt alles beim Alten. Schwarz und Grün werden wieder koalieren.

Die Kommentare zu dem Wahlergebnis lesen sich wie Nachrufe auf die Bundesrepublik. Eine Ära gehe zu Ende, Merkel habe die Kontrolle verloren, Deutschland bewege sich auf einen Abgrund zu. Wäre das Land ein Schiff, müsste der Kapitän die Passagiere auffordern, in die Rettungsboote zu gehen. 

Aber Deutschland ist kein Dampfer in Seenot, und das, was da passiert ist, keine Katastrophe. Es ist praktizierte Demokratie.

Nicht, dass die Deutschen keine Demokraten wären. Sie sind es. Aber sie haben es auch gerne übersichtlich. Sechs Parteien im Bundestag bzw. in einem Landtag sind zu viel des Guten. Die Älteren erinnern sich mit Wohlgefallen an die Bonner Republik, als drei Parteien im Bundestag saßen und die FDP als Zünglein an der Waage darüber entscheiden konnte, ob die CDU oder die SPD den Kanzler stellt. Auch VW bot damals nur eine Handvoll Modelle an, nicht dutzende wie heute.

Normalität, die in Deutschland nur später ausbricht

Es zeugt nicht vom logischen und konsequenten Denken, sich einerseits ein buntes, offenes und vielfältiges Deutschland zu wünschen, andererseits aber auf stabile Verhältnisse in der Politik zu hoffen. Deutschland diversifiziert sich, politisch, sozial, kulturell. Der Sauerbraten und das Jägerschnitzel treten gegen den Döner und die Pizza an. Buttermilch heißt jetzt Ayran, und Frikadellen werden aus Kichererbsen gemacht. 

Ebenso sinnlos wie vergeblich ist das Klagen über den Untergang der Volksparteien. Wer braucht noch Volksparteien, wenn das „Volk“ zugunsten der „Bevölkerung“ abgedankt hat? 

Das alles ist weder schlimm noch gefährlich. Es ist die Normalität, die nur, wie üblich, in Deutschland später ausbricht als bei unseren Nachbarn. Merkel hat die Zeichen an der Wand erkannt. Ihr Rückzug auf Raten, zuerst als Vorsitzende der CDU, dann als Kanzlerin, ist kein Debakel, es ist der beste Dienst, den sie Deutschland erweisen konnte. Schade nur, dass sie sich nicht schon eher dafür entschieden hat. 

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

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Leserpost

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Frank Stricker / 05.11.2018

Lieber Herr Broder , der Vergleich Merkel=Kapitän und das deutsche Volk in die Rettungsboote paßt sehr gut , nur zu blöd dass dem Volk gerade jetzt auffällt , dass der Kapitän (Merkel) gar kein Kapitän ist sondern ein Scharlatan , der sein Patent irgendwie bei Ebay ersteigert hat !

R.E:Rath / 05.11.2018

Herr Broder, Sie sprechen von Merkels Rückzug auf Raten. Das ist Schein. Sie wird ihre Arbeit nur zukünftig von anderen Menschen, die sich auf ihrer Schleimspur bewährt haben machen lassen. Vorbereitungen dazu laufen bereits. Sie heutiges Ergebnis der Forsa-Umfrage.

Karla Kuhn / 05.11.2018

“Schwarz und Grün werden wieder koalieren.”  Mal sehen, OB die neue Auszählung etwas bringt. Es sollen ja zu Ungunsten der CDU und AfD die Stimmen in zumindest einem Wahlkreis nicht korrekt gezählt worden. sein ? Das Geschrei nach jeder Wahl soll meiner Meinung nach wahrscheinlich dazu dienen, daß die Sache doch gar nicht so übel ist, dann wird noch meistens mit anderen Parteien verglichen oder mit Zahlen aus der Vergangenheit, was ein großer Schmarrn ist. Hauptsache, es wird sich irgendwie rausgewunden. Am besten hat mir gefallen, Bouffier rettet Merkel o.s.ä. !! Wie, mit Mund zu Mund Beatmung ??  “Der Sauerbraten und das Jägerschnitzel treten gegen den Döner und die Pizza an. Buttermilch heißt jetzt Ayran, und Frikadellen werden aus Kichererbsen gemacht. ” Meine auch weiterhin aus Rinderhackfleisch !  SCHADE, daß sie überhaupt Kanzlerin geworden ist !!  Für mich nicht nachvollziehbar !

Achim Gleichmann / 05.11.2018

Manchmal habe ich den Eindruck, dass es im derzeitigen Sprachgebrauch weder „die Bevölkerung“ noch „das Volk“ gibt. Dafür gibt es den inflationären Gebrauch von „die Menschen“. Als wären die Sprecher keine Menschen… Matrix lässt grüßen!

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