Im Bundestag wurde vorgestern über einen längst überfälligen Antrag abgestimmt, den die FDP-Fraktion eingebracht hatte. Es ging darin um das Missverhältnis zwischen dem Verhalten der Vereinten Nationen (UN) gegenüber Israel auf der einen Seite und gegenüber sämtlichen repressiven, korrupten und mörderischen Regimes der Welt auf der anderen Seite. Dieses Missverhältnis ist lange bekannt und lässt sich eigentlich nur als pervers bezeichnen. Der Antrag verfolgte ein Anliegen, das in Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein sollte, aber leider nicht ist: dass sich die Bundesregierung nicht mehr am Fortbestand dieses Missverhältnisses beteiligen möge. Der FDP-Antrag war voller richtiger Feststellungen. Er stellte generell fest:
„Seit Jahrzehnten verabschieden verschiedene Gremien und Sonderorganisationen der Vereinten Nationen (VN) eine Vielzahl an Resolutionen, in denen ausschließlich Israel verurteilt wird, während andere Akteure des Nahostkonflikts nicht benannt oder zu Verhaltensänderungen aufgefordert werden. Deutlich weniger Resolutionen richten sich an alle übrigen Mitgliedstaaten der VN. Dadurch besteht ein erhebliches Ungleichgewicht an Verurteilungen durch die VN zuungunsten Israels. Deutschland und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterstützen diesen gegen Israel gerichteten Kurs häufig durch Zustimmung zu den einschlägigen VN-Resolutionen.“
Er blickte auf die beschämende Bilanz UN-seitiger Verurteilungen im Jahr 2018 zurück (die untenstehenden Hyperlinks ersetzen im Antragsdokument ausgeschriebene Internetadressen):
„Die VN-Generalversammlung hat 2018 21 Resolutionen verabschiedet, in denen Israel verurteilt wird[,] von insgesamt 26 Verurteilungen von Staaten durch Resolutionen. Nach Angaben des Auswärtigen Amts stimmte Deutschland 16 dieser Resolutionen zu und enthielt sich bei vier weiteren der Stimme. Demgegenüber stehen im gleichen Zeitraum nur jeweils eine einzige Resolutionzu Ländern wie Iran, Nordkorea und Syrien. Beschlüsse, die das Handeln anderer Akteure des Nahostkonflikts, wie der Terrororganisation Hamas, verurteilen, sucht man in den Resolutionen zum arabisch-israelischen Konflikt in der Regel vergeblich. Im Dezember 2018 scheiterte in der VN-Generalversammlung der Versuch, zum ersten Mal die Hamas für ihre terroristischen Aktivitäten in einer Resolution zu verurteilen. Die Resolution fand keine ausreichende Mehrheit im Plenum der VN-Vollversammlung, insgesamt 58 Staaten stimmten gegen die Initiative.“
Auch Resolutionen des UN-Menschenrechtsrates und der UNESCO bilanzierte der FDP-Antrag. Die folgende Bilanz der UNESCO ist an Absurdität nicht zu überbieten. (Nun gut, das stimmt nicht: Es hätten auch gleich 47 von 47 Resolutionen gegen Israel gerichtet sein können.)
„Von den durch die UNESCO verabschiedeten 47 Resolutionen zwischen 2009 und 2014, in denen einzelne Länder wegen vermeintlicher Verstöße gegen UNESCO-Grundsätze verurteilt wurden, richteten sich 46 gegen Israel.“
Zusammenfassend diagnostizierten die FDP-Bundestagsabgeordneten zutreffend:
„Das rein zahlenmäßige Bild macht deutlich, dass mit Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten in verschiedenen VN-Gremien um ein Vielfaches häufiger für teils unterstellte Regelbrüche und Menschenrechtsverletzungen verurteilt wird, als autoritäre Regime in der Region oder weltweit. Dieses erhebliche quantitative Ungleichgewicht der Verurteilungen durch VN-Resolutionen besteht seit vielen Jahren. Dass dies die Realität tatsächlicher Verstöße gegen VN-Regeln oder der Menschenrechtslage in den verschiedenen Staaten der Welt nicht annähernd widerspiegelt, scheint offensichtlich. Es muss deshalb thematisiert werden, inwieweit eine Mehrheit der VN-Mitgliedstaaten einen völlig anderen Maßstab an Israel anlegt als an jedes andere Mitgliedsland der Weltorganisation. Eine andauernde zahlenmäßig überproportionale Verurteilung Israels geht im Gesamtbild weit über legitime Kritik hinaus und ist nur vor dem Hintergrund einer beabsichtigten Delegitimierung Israels durch eine signifikante Zahl von VN-Mitgliedstaaten erklärbar.“
Und schließlich zogen die Antragsverfasser überfällige Schlüsse aus ihren Feststellungen. Es sei, schrieben sie,
„... dringend geboten, das deutsche Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen zu ändern. Auf europäischer Ebene sollte Deutschland darüber hinaus eine aktive Führungsrolle für eine Neuausrichtung des gemeinsamen Abstimmungsverhaltens der europäischen Partner annehmen.“
Es folgte eine Liste konkreterer Aufforderungen an die Bundesregierung, diesen Kurswechsel im Rahmen der UN und der EU umzusetzen.
Jetzt raten Sie bitte einmal zwei Dinge.
Erstens: Wie wurde über diesen Antrag im Bundestag abgestimmt? Zweitens: Wie hat die der Freundschaft zu Israel verpflichtete BILD-Zeitung darüber berichtet?
Details zur ersten Frage finden Sie auf dieser Bundestags-Seite. Die namentlichen Abstimmungsergebnisse hier. Die SPD stimmte geschlossen gegen den Antrag. Die LINKE stimmte mit überwältigender Mehrheit dagegen. Die CDU/CSU stimmte fast geschlossen gegen den Antrag (nur CSU-Bundestagsvizepräsident Hans-Peter Friedrich stimmte dafür, MdB Gnodtke enthielt sich). Die GRÜNEN enthielten sich geschlossen ihrer Stimmen. Die FDP stimmte naturgemäß für ihren Antrag. Und die AfD? Als einzige Fraktion neben der FDP stimmte die AfD mehrheitlich für den Antrag. Und das sogar fast geschlossen, ohne eine einzige Nein-Stimme (81 Ja-Stimmen, drei Enthaltungen).
Das heißt: Es haben mehr AfD-Abgeordnete für den Antrag der FDP zur deutschen Israelpolitik gestimmt als Abgeordnete aller anderen Parteien zusammengenommen.
Nun zur zweiten Frage: Wie hat die BILD-Zeitung über die Abstimmung berichtet? Ganz einfach: Sie hat berichtet, als sitze die AfD überhaupt nicht im Bundestag. Nach einem für BILD-Online-Verhältnisse langen Erklärtext zum Hintergrund des Antrags schrieb Antje Schippmann zur Bundestagsabstimmung lediglich diesen einen Absatz (eine Archivseite habe ich hier angelegt):
„Der FDP-Antrag scheiterte am Donnerstagabend im Bundestag. Nach einer hitzigen Debatte lehnten SPD, CDU und die Linken ihn ab, die Grünen enthielten sich. Nur Linken-Politiker Michael Leutert und Hans-Peter Friedrich von der CSU stimmten entgegen ihrer Fraktionslinie dem Antrag zu.“
Viele Leser werden sich bei der Lektüre des BILD-Artikels gefragt haben, wie wohl die drittgrößte und überwiegend erklärtermaßen israelfreundliche Fraktion im Bundestag gestimmt haben möge. Sie mussten es selbst recherchieren.
Dieselben Leser werden bei der Lektüre bereits geahnt haben, dass die AfD nicht gegen den Antrag gestimmt hat. Als vernünftiger und informierter Rechtsliberaler hat man längst einen Riecher für so etwas entwickelt. Wenn die AfD etwas macht, was nicht in die erwünschte Erzählung von der zu ächtenden Partei passt, dann wird es schon einmal kurzerhand verschwiegen.
Nichts könnte den Klonovsky‘schen Begriff der „Lückenpresse“ einfacher und präziser veranschaulichen als diese gezielte journalistische Auslassung.
Nicola Beer, FDP-Generalsekretärin, kommentierte die Abstimmung zum Israel-Antrag in einem zu Recht beliebten Tweet so:
„Während die Hamas Raketen auf Israel feuert, stimmt Bundestag mit Stimmen der GroKo & Linken bei Enthaltung der Grünen gegen einen Antrag auf Neuausrichtung der deutschen Israelpolitik in der UN. Es ist beschämend.“
Dass Beer in solch einer Kurzmitteilung die Ja-Stimmen der AfD-Fraktion für den FDP-Antrag unerwähnt lässt, ist noch parteipolitische Normalität, zumal hier ohnehin das Beschämende der Nein-Stimmen im Vordergrund steht. Aber Beers Tweet verbreitet auch den BILD-Artikel weiter, der den Eindruck erweckt, nur die FDP habe für den Antrag gestimmt und die AfD sitze nicht einmal im Bundestag.
Ein sehr vernünftig wirkender, junger „Politkbeobachter“ kommentierte unter Nicola Beers Tweet: „Auch wenn es Ihnen nicht passt, könnten Sie ruhig erwähnen, dass die AfD Ihrem Antrag zugestimmt hat!“ Die Antwort, gezeichnet von „Team Beer“: „Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn.“ Ach so.
Dem anonymen blinden Huhn im Mitarbeiterteam Beer – wie auch anderen FDPern – empfehle ich die Lektüre eines kurzen Kommentars von Henryk Broder zu den Reaktionen auf eine fünfminütige BundestagsredeAlexander Gaulands im vergangenen Frühling. Diese Rede hielt Gauland anlässlicheines Antrags zum 70. Jahrestag der israelischen Staatsgründung. Auch damals ging es um das Verhältnis von Deutschland und Israel.
Auch damals ging es um eine kluge und angemessene Positionierung aus den Reihen der AfD, die nur aus einem Grund nicht gewürdigt wurde: weil es darauf ankam, wer etwas sagt anstatt darauf, was er sagt. Das hat sich nicht geändert.