Georg Etscheit / 15.08.2023 / 10:00 / Foto: Raimond Spekking / 44 / Seite ausdrucken

Neue Katakomben

Heute ist Mariä Himmelfahrt, eines der höchsten Feste des katholischen Kirchenjahres, das aber immer mehr Menschen hierzulande gar nichts sagt. Die Entchristlichung des Landes hat dramatische Ausmaße angenommen​​​​​​. Dabei gibt es sie immer noch: die Traditions-Katholiken.

Heute ist Mariä Himmelfahrt, eines der höchsten Feste des katholischen Kirchenjahres, in Italien als „Ferragosto“ bekannt und bei Urlaubern berüchtigt, weil an diesem Tag noch mehr geschlossen hat als ohnehin zur sommerlichen Reisezeit. In öffentlich-rechtlichen Nachrichten wird manchmal noch über das „Hochfest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel“ berichtet. Dann heißt es im Erklärbär-Jargon, „die Christen“ feierten an diesem Tag die Aufnahme Mariens in den Himmel. Es heißt nicht mehr „heute wird gefeiert“ oder „heute ist Mariä Himmelfahrt“. Denn Nicht-Christen sind in Deutschland längst in der Mehrheit. Ihnen muss man erklären, was „die Christen“ – oder sagen wir besser manche von ihnen – an diesem Tag noch in die Gotteshäuser und auf die Straßen treibt.

Die Entchristlichung des Landes hat zweifellos dramatische Ausmaße angenommen. Einer jüngst veröffentlichten Statistik der Deutschen Bischofskonferenz zufolge kehrten im vergangenen Jahr mehr als eine halbe Million Menschen der Katholischen Kirche den Rücken. Im Jahr zuvor waren es fast 360.000 – schon diese Zahl hatte als historisch gegolten. Ein Exodus, man möchte fast sagen, biblischen Ausmaßes. In der evangelischen Kirche sieht es ähnlich aus.

Noch ernüchternder ist ein Blick auf die Zahl der in deutschen Diözesen alljährlich geweihten Priester. Von 1962 bis heute sank deren Zahl von 557 auf 33 – etliche Diözesen, darunter so bedeutende wie das Erzbistum München-Freising mit dem als „liberal“ geltenden Kardinal Reinhard Marx an der Spitze konnten 2022 überhaupt keinen Neupriester in den Klerus aufnehmen. Viele Priesterseminare stehen mehr oder weniger leer. 1980 lag die Zahl der aufgenommenen Priesteramtskandidaten noch bei stattlichen 795. Heute ist es ein Zehntel. Besserung ist nicht in Sicht.

Ein offenbar unaufhaltsamer Prozess des Ausblutens

Das Netz der Seelsorge ist längst zerrissen und die Lücken sind auch durch Priester aus Indien oder afrikanischen Staaten nicht mehr zu schließen. Schon in naher Zukunft wird man, wenn man nicht in einer Großstadt lebt, weite Wege auf sich nehmen müssen, um, wenn man Wert darauf legt, noch einen geweihten Priester oder zumindest Diakon zu treffen und die kirchlichen Sakramente empfangen zu können.

In Österreich, auch eine einstige Hochburg des Katholizismus, sieht es nicht anders aus. In einem Interview mit der Tageszeitung Die Presse prophezeite der Wiener Kardinal Christoph Schönborn, dass die Zahl der Katholiken in Wien vermutlich auf 20 Prozent sinken werde, österreichweit sicher auf 40 Prozent oder weniger“. Ihm sei angesichts der Schrumpfung nicht bange, sagte der Kardinal. Wie kann einem angesichts solcher Zahlen, die noch immer nicht das Ende der Fahnenstange darstellen, nicht bange sein? Es sei denn, man ist der Überzeugung, dass Gott seiner Kirche eine harte, aber vielleicht gerechte Prüfung auferlegt habe.

In den Medien werden zwar immer die innerkirchlichen Missbrauchsfälle und eine angeblich mangelnde Reformfreudigkeit des Klerus etwa in Sachen Zölibat und Frauenpriestertum für den offenbar unaufhaltsamen Prozess des Ausblutens verantwortlich gemacht. Doch man darf annehmen, dass die vom Mainstream – nicht zuletzt in der Absicht, mit den Kirchen eine der letzten überkommenen Autoritäten zu vernichten – hochgespielten Skandale für den Einzelnen oft nur die letzte moralische Rechtfertigung darstellen, sich von einer angesichts der Verlockungen von Materialismus und Individualismus bedeutungslos oder sogar hinderlich gewordenen Glaubensorientierung endgültig zu verabschieden.   

Windräder als „Kirchtürme der Neuzeit“

Nun würde ein überzeugter Agnostiker oder Atheist einwenden, es sei ja nur zu begrüßen, wenn wieder einmal ein Aberglaube im hellen Licht der Aufklärung zerbrösele wie der Körper eines Vampirs bei Sonnenaufgang. Doch mit dem Christentum zerbröselt nicht mehr und nicht weniger als das kulturelle Fundament des einst christlichen Abendlandes. Nur ein Schlaglicht: Was geschieht eigentlich mit all den Kirchen, die bald nur noch dazu dienen, von ihren Türmen herab die Zeit anzuzeigen? Werden sie umgewidmet (zu was eigentlich?) oder am Ende dem Verfall preisgegeben?

Und die spirituellen Bedürfnisse der Menschen verschwinden ja nicht mit dem verdampfenden Glauben an Jesus Christus und die Heilige Dreifaltigkeit. Sie suchen sich nur andere Ausdrucksformen, angefangen von den evangelikalen Bewegungen, die in vielen Ländern auf dem Vormarsch sind, über den Körper- und Genderkult bis zur Klimareligion. Windräder seien „die Kirchtürme der Neuzeit“, schrieb ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung. So weit sind wir also schon. 

Viele dieser Angebote, darunter auch der Islam, sind weit intoleranter und schwerer zu kontrollieren als das in zahlreichen Glaubenskämpfen und Kirchenkrisen geläuterte und hierzulande in öffentlich-rechtlichen Körperschaften verfasste und eingehegte Christentum, ungeachtet der schweren Verfehlungen einzelner Amtsträger, die umso schwerer wiegen, als die Kirchen einen hohen moralischen Anspruch verkörpern.

Heilige Messe im alten Ritus

Spätestens jetzt scheint sich die Diagnose des Theologen Joseph Ratzinger, des späteren Papstes Benedikt XVI., zu erfüllen, der 1958 in seinem Aufsatz „Die neuen Heiden und die Kirche“ geschrieben hatte, das sich „über kurz oder lang mit dem oder gegen den Willen der Kirche nach dem inneren Strukturwandel auch ein äußerer, zum pusillus grex, zur kleinen Herde vollziehen“ und es „der Kirche auf Dauer nicht erspart bleiben (wird), Stück für Stück von dem Schein ihrer Deckung mit der Welt abbauen zu müssen und wieder das zu werden, was sie ist: Gemeinschaft der Glaubenden“.

Wie das konkret aussieht, kann man an einem Sonntagmorgen in der etwas heruntergekommenen Kreuzkirche in der Münchner Innenstadt erleben. Hier wird die Heilige Messe von einem Priester der „traditionalistischen“ Petrusbruderschaft im alten Ritus gefeiert, am Hochaltar mit dem Rücken zum Volk, besser gesagt, mit dem Gesicht zu Gott, und natürlich auf Latein. Eine etwa 100-köpfige Gemeinde, darunter auffallend viele junge Leute, betet und singt kräftig mit, und man hat in dem kleinen, weihrauchgeschwängerten Kirchenschiff noch den Eindruck, wirklich einer heiligen Handlung beizuwohnen.

Der Pater im alten Priesterornat, ein noch recht junger Mann, predigt streng exegetisch und ganz ohne zeitgeistige Dreingaben über die Bibeltexte des Tages. Die Kommunion wird den Gläubigen knieend an der Chorschranke direkt in den Mund gespendet – die Patene, die ein Messdiener darunter hält, soll verhindern, dass heilige Brösel auf dem Fußboden landen, ein Sakrileg für überzeugte Katholiken.

Der Priester mutierte zum Performer

Was die meisten Menschen nicht wissen: Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils hatte weder die traditionelle Mundkommunion noch das Lateinische „verboten“. Doch in der Praxis wurde die alte, universelle Kirchensprache fast vollständig von der jeweiligen Landessprache verdrängt und die Handkommunion im Geiste individueller Selbstbestimmung gewann allgemein die Oberhand. Mehr und mehr verschob sich das Schwergewicht der Heiligen Messe weg von einer rituellen Opferhandlung hin zu einer Art von Gedächtnisfeier zum Andenken eines großen Menschen namens Jesus Christus, der sich Gottes Sohn nannte, und näherte sich damit einem protestantischen Verständnis von Gottesdienst an. Zugleich mutierte der Priester als Mittler zwischen Gott und den Gläubigen zum Performer, der vor allem daran gemessen wird, wie er predigt oder singt.

Die „kleine Gemeinschaft der Glaubenden“, in den Gottesdiensten der Petrusbruderschaft, die gerade mal über vierzig Niederlassungen in ganz Deutschland verfügt, ist sie schon Wirklichkeit. Die Bruderschaft – ein Mittelding zwischen Ordensgemeinschaft und Weltklerus – hatte sich 1988 von der schismatischen Traditionalistenbewegung des französischen Erzbischofs Marcel Lefebvre abgespalten, als dieser namens der von ihm gegründeten Priesterbruderschaft St. Pius X. Distrikt Deutschland gegen den Willen Roms Bischöfe weihte und daraufhin exkommuniziert wurde. Im gleichen Jahr wurde die Petrusbruderschaft vom Heiligen Stuhl offiziell anerkannt. Derzeit besuchen die sonntäglichen Gottesdienste der Bruderschaft im deutschprachigen Distrikt etwa 4.000 bis 5.000 Menschen, eine kleine, wenn auch wachsende Minderheit. 

In dem Wallfahrtsort Wigratzbad im Allgäu verfügt die weltweit tätige Organisation über ein Priesterseminar, die mit derzeit etwa 100 Priesteramtskandidaten größte Einrichtung dieser Art in Deutschland. Allerdings sei angemerkt, dass hier Geistliche aus und für ganz Europa ausgebildet werden, darunter viele Franzosen – im streng laizistischen Frankreich ist der katholische Traditionalismus mit geschätzten 60.000 Anhängern der alten Messe besonders stark. Hier gab es übrigens im Jahre 2022 immerhin 77 neue Diözesanpriester, dazu 45 aus Ordensgemeinschaften, wie viele mit Bezug zur alten Liturgie ist nicht bekannt. Auch die USA, wo die Petrusbruderschaft ein zweites Priesterseminar unterhält, sind eine Hochburg der Anhänger der alten Liturgie von 1962.

„Wir haben einen guten Zulauf, aber es ist nicht so, dass wir uns vor lauter Berufungen kaum noch retten können“, sagte Bernhard Gerstle, der frühere Distriktsobere der Bruderschaft in einem 2017 erschienen Interview – ein Gespräch mit seinem Nachfolger war ebenso wenig möglich wie mit einem Verantwortlichen der Piusbruderschaft. Dabei sei, so Gerstle, zu beobachten, dass das Interesse für die alte Liturgie vor allem im jüngeren Klerus zunehme. „Eine wachsende Anzahl von Priestern feiert zumindest gelegentlich die Messe in der außergewöhnlichen Form. Das hat bestimmte Rückwirkungen auf die Art, wie dann die neue Liturgie gefeiert wird, sodass das Sakrale wieder mehr an Einfluss gewinnt.“

Die Traditions-Katholiken sind natürlich „umstritten“

In diesem Jahr weihte der Augsburger Bischof Bertram Meier in der Klosterkirche zu Ottobeuren zehn junge Priester der Bruderschaft, ein Bild fast wie in alten Zeiten. Und das, obwohl Papst Franziskus die Anhänger des alten Ritus unlängst in einem Lehrschreiben harsch in die Schranken gewiesen und eine von Papst Benedikt veranlasste Aufwertung der vorkonziliären Liturgie teilweise rückgängig gemacht hatte. Für Diözesan- und Ordenspriester, die ab und an im alten Ritus zelebrieren möchte, seien „die Konsequenzen der Weisung aus Rom erheblich, für die Petrusbruderschaft eher milde“, sagte ein Sprecher der Petrusbruderschaft. Die Piusbrüder, die den jeweiligen Ortsbischof nicht als ihr Oberhaupt anerkennen, sind nicht betroffen

Schon vergangenes Jahr hatte der Augsburger Oberhirte als erster deutscher Diözesanbischof Mitglieder der Bruderschaft zu Diakonen geweiht. Dazu machte damals ein Foto die Runde, das den Bischof der Augsburger Zeitung zufolge „in prunkvollem Gewand mit weißen Handschuhen, umringt von den jungen Petrusbrüdern in goldenem Ornat“ zeigte. Dazu zitierte das Blatt einen anonymen Kommentator, der dieses Auftreten als „Sektenartig“ bezeichnet habe. Natürlich darf im Zusammenhang mit der Petrusbruderschaft das Adjektiv „umstritten“ nicht fehlen.

Meist werden die Traditions-Katholiken schlichtweg totgeschwiegen. Es sei denn, es gibt über einen „rechten“ Skandal zu berichten wie die Kritik eines Paters der Petrusbruderschaft an den Corona-Maßnahmen, die zu dessen Versetzung führte. Ein gewisses Wohlwollen bei den für Religiöses zuständigen Redakteuren des Mainstreams genießen in punkto Katholizismus allenfalls die refomerischen Vertreter des „synodalen Wegs“, während die Anhänger der Petrus- und noch mehr der von Rom abgespaltenen Piusbruderschaft gerne in die Nähe der AfD gerückt werden. Noch wohlwollender wird über die mittlerweile zu esoterischen Happenings gewordenen evangelischen Kirchentage berichtet.

Aller Nicht- und Desinformation zum Trotz: Die Eindeutigkeit der Traditions-Katholiken in Sachen Glauben und Ritus scheint nicht nur bei jungen Klerikern anzukommen. Die vor allem mit Spenden finanzierten Kirchen und Gebetsstätten, die sich nicht selten in unscheinbaren Wohngebieten befinden, sind, ganz gegen den Trend, gut besucht. In Wien gelang es der Piusbruderschaft jetzt sogar, mitten im Stadtzentrum Fuß zu fassen, in der altehrwürdigen Minoritenkirche. Eine Provokation, nicht nur für Kardinal Schönborn, sondern auch für alle jene, die es schon als anstößig empfinden, wenn man einem Priester in Soutane begegnet, von dem man annehmen kann, dass zumindest er selbst noch fest im Glauben steht.

 

Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik u.a. für die Süddeutsche Zeitung.

Foto: Raimond Spekking CC-BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Dirk Jäckel / 15.08.2023

Harte, kaum zu erfüllende Forderungen machen Religionen attraktiv. Siehe Islam, siehe Orthodoxie (in Südosteuropa wird fast jedes Kind getauft). Dabei ist es unerheblich, ob man sich selbst an die Gebote hält oder das überhaupt nur vorhat. Fundamentalisten und Traditionalisten, welche Eindeutigkeiten versprechen oder eine Sehnsucht nach dem Numinosen stillen, werden eine Zukunft haben (ob als Minderheit oder Mehrheit, wird je nach Region/Religion unterschiedlich sein). Dass mir das nicht gefällt, ändert nichts an der Tatsache. Somit folgt der synodale Weg und ähnliche Bewegungen (der deutsche “Mehrheits"protestantismus ohnehin) einer seltsamen Illusion, wenn man tatsächlich glauben sollte (oder es auch nur anstrebt), die “Herde” halten zu können.

T. Schneegaß / 15.08.2023

“Die Entchristlichung des Landes hat zweifellos dramatische Ausmaße angenommen.” Als “Laien-Christ”, so möchte ich mich mal bezeichnen, stellt sich mir die Frage: sind die dramatischen Austritte aus den Amtskirchen tatsächlich ein Zeichen für Entchristlichung? Sind die Christen, die austreten, am Tag danach keine Christen mehr? Für mich stellt sich die Sachlage ganz anders dar: es findet eine dramatische Entchristlichung des Führungspersonals der beiden Amtskirchen statt, die ehrliche, überzeugte Christen nicht mittragen können und gehen lassen. Wenn der erwähnte Marx und sein evangelischer Genosse vor einer anderen Religion verschämt das Kreuz verstecken, outen sie sich selbst als überaus peinliche Antichristen. Die verhängnisvolle Rolle, die die führenden Würdenträger beider Amtskirchen in den Krisen “Flüchtlinge”, “PLANdemie” und jetzt “Klima-Lüge” spielen, tut ihr Übriges. Kirchentage sind inzwischen zu ekelerregenden, abstoßenden Shows rotgrüner Ideologie geworden, die laut schreienden Minderheiten Bühnen verschaffen und das christliche Menschenbild verhöhnen. Tiefgläubige Christen aus meinem persönlichen Umfeld wenden sich angewidert ab.

finn waidjuk / 15.08.2023

Der eine reitet in den Himmel (oder krabbelt an einer Leiter hoch wie ein Frosch im Glas, da sind sie sich nicht so einig), die andere fährt einfach. Wer`s glaubt, wird selig und kommt auch in den Himmel. Dort treffen sich dann alle; wird sicher lustig. Ist aber eher nichts für mich, ich hasse Menschenansammlungen.

Heiko Stadler / 15.08.2023

Religion dient dazu, vermeintliche Werte zu vermitteln, ohne dass man sie wissenschaftlich begründen muss. Wer religiöse Werte wissenschaftlich widerlegt, gilt als Gotteslästerer und wird mit dem Ausstoß aus der Gesellschaft bestraft. Das galt im Mittelalter genau so wie heute. Religion ist Antiwissenschaft. Da die heutige Menschheit mit der 2000 Jahre alten Bibel nichts mehr anfangen kann, sind die christlichen Prediger auf die heutigen lukrativen Religionen aufgesprungen, nämlich der Corona- und der Klimareligion. Ein Abrutschen des Christentums in die Bedeutungslosigkeit halte ich persönlich keineswegs für bedenklich.

E. Wiedenz / 15.08.2023

(2/2): Ein kleines Beispiel: Gleich im ersten Kapitel des Neuen Testaments, in Mt 1,25 heißt es, dass Josef seine Frau Maria „nicht erkannt“ hatte, bis sie Jesus gebar. Im grie. Original lautet die Konjunktion „heos“ (bis, während, so lange), und der Satz wäre nicht (so) formuliert worden, wäre anderes mitzuteilen gewesen. – Dass nach der Schuld des Dritten Reiches und der Not der Nachkriegszeit mit zunehmendem Wohlstand und Materialismus die Erkenntnis der eigenen Schuldhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit, mithin auch das Interesse am christlichen Glauben wich und zu einer ungerichteten spirituellen Sehnsucht wurde, die durch Sakralitäten jeglicher Couleur befriedigt werden muss, ist keine Überraschung, das hatte Joseph Ratzinger damals auch schon erkannt. Die wahre Zahl der gottgefällig Glaubenden und Lebenden oder eine Umkehr zu Gott hin ergibt sich aus den Mitgliederzahlen der beiden großen Kirchen nicht, das ist wie mit beim PCR-Test ...

E. Wiedenz / 15.08.2023

Danke, Herr Etscheid – ja, in einer kultivierten Gesellschaft ist auch über diese Dinge zu reden. Heiligkeit und Tradition sind jedoch ganz unterschiedliche Dinge. Streng genommen sind die Evangelikalen – als die nicht liberal oder „ungläubig“ gewordenen Evangelischen – sogar die eigentlichen Traditionalisten, da sie sich nicht vorkonziliar oder vor-reformatorisch, sondern vor-kirchlich an Lehre und Leben der ersten Generation der Christenheit orientieren, wie sie im Neuen Testament überliefert sind. Jesus, der Immanuel („Gott mit uns“), bewegte sich unter dem einfachen Volk durchs Land, sprach ihre Sprache, benutze für sie verständliche Bilder (Gleichnisse), um ihnen die Heiligkeit Gottes und die Vernunft übersteigende Wahrheit nahezubringen. Die Versammlung zu Gebet, Lehre, Gemeinschaft und Brotbrechen (Abendmahl bzw. Eucharistie) und die Weitergabe des Evangeliums geschah auf einfachste und un-liturgische Weise, aber in der Gegenwart des Heiligen Geistes. Es gab damals keinen zum Altar hin und in einer Fremdsprache zelebrierenden Priester in schönen Gewändern, sakrale Gebäude und Riten. War doch Jesus selbst zum neuen und einzigen Hohenpriester und durch seine Hingabe zum einzig versöhnenden Opfer geworden. Die Vielzahl der Christen und Gemeinden wurde zum neuen „Leib Christi“ unter Jesus Christus als Haupt, wie es Paulus formulierte. Daher sind sich über die Jahrhunderte entwickelnde Formen und Riten nicht per se abzulehnen, aber sie sind nicht das Eigentliche und Heilsvermittelnde. Und damit wären wir beim Dissens zwischen Katholiken und Evangelischen. Bei aller Wertschätzung für Maria – zu glauben, dass sie auch nach Jesu Geburt für den Rest ihres Lebens mit ihrem Mann Josef nicht intim geworden sei, bereits ohne Erbsünde empfangen wurde, und am Ende als Jungfrau und sündlos wie Jesus in den Himmel aufgenommen wurde, fällt Evangelischen nicht leicht, zumal solche Behauptungen wesentlichen Linien der Bibel zuwiderlaufen. (1/2)

Klaus Keller / 15.08.2023

Die Entchristlichung des Landes hat dramatische Ausmaße angenommen​​​​​​. Was für eine Arroganz! Dieses Land wird nicht weniger christlich nur weil Leute die Amtskirche verlassen. In Bayern ist der Tag in jenen Gemeinden arbeitsfrei, die mehrheitlich eine katholische Bevölkerung haben, schreibt die faz. Wenn das in einigen Jahren nirgends der Fall ist, fällt die juristische Grundlage für den so begründeten öffentlichen Feiertag weg. Jeder darf sich einen Tag Urlaub nehmen wenn er an diesem Tag trotzdem nicht arbeiten will. Mich sorgen da ganz andere Dinge.

Dr. Thomas Dörfler / 15.08.2023

Zuerst, und damit widerhole ich mich, ist unser Europäischer Kulturraum kein christlich-jüdisch geprägter, sondern eine von der Aufklärung geprägte Kultur. Die christlichen Kirchen vergessen gerne, dass es gerade die katholische Kirche war, die die Aufklärung mit allen Mitteln bekämpft hatte, bis die Aufklärung nicht mehr aufzuhalten war. Seitdem biedert sich die Kirche dem jeweiligen Zeitgeist an. Mal war das das Nationalsozialistische Gedankengut, heute das Grünsozialistische. Ich gönne jedem Menschen seine Religion, ob Christlich, Jüdisch, Muslimisch oder Klimareligion. Hauptsache man zwingt mir den jeweiligen Glauben nicht auf und achtet die Menschenrechte. Das haben die Juden und Christen heute gemeinsam mit mir. Die anderen beiden stehen im klaren Widerspruch zu Freiwilligkeit und Menschenrechten.

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