Ich befinde mich gerade auf der erkenntnistheoretischen Stufe der Antithese, jedenfalls wenn ich mein ökologisches Denken und Handeln erforsche. Rase auf der Autobahn, trinke Kaffee aus dem Pappbecher, esse Steak und nehme mir vor, übers Wochenende irgendwo hinzufliegen.
These – Antithese – Synthese. Das ist der berühmte Dreischritt einer philosophischen Erkenntnismethode – der Dialektik. Nach dem preußischen Staatsphilosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel eine der Metaphysik entgegengesetzte, laut Meyers Taschenlexikon (1981) „absolute Methode des Erkennens als innerer Gesetzmäßigkeit der Selbstbewegung des Denkens und der Wirklichkeit“. Damit sei Dialektik das innere Bewegungsgesetz nicht nur der Begriffe, sondern auch des historischen und gesellschaftlichen Seins.
Man kann es auch weniger kompliziert formulieren, für den Hausgebrauch: Auf eine Bewegung folgt immer eine Gegenbewegung. Ob es schließlich zur Synthese kommt, in der die Widersprüche aufgehoben werden, ist am Ende wohl doch wieder eine Frage der Metaphysik oder Religion. Völlige Harmonie gibt’s im Himmel, wenn überhaupt.
Ich persönlich befinde mich gerade auf der erkenntnistheoretischen Stufe der Antithese, jedenfalls wenn ich mein ökologisches Denken und Handeln erforsche. Ich stelle nämlich fest, dass ich zunehmend Dinge tue, die ich früher nie getan hätte, weil sich sofort mein (ökologisches) Gewissen gemeldet hätte. Schlimmer noch: Ich empfinde zunehmend Gefühle von Lust und Befriedigung, wenn ich denke und tue, was das genaue Gegenteil von dem ausmacht, was ich früher gedacht und getan habe.
Der Tank randvoll mit gutem Diesel
Ich entdecke zum Beispiel die Freude am schnellen Autofahren, landläufig als „rasen“ bezeichnet. Jüngst hatte ich es mal eilig, war zu spät von zu Hause zu einem fix vereinbarten Termin aufgebrochen. Es kam noch ein Feierabendstau dazwischen, und eine Verspätung von mindestens einer halben bis vollen Stunde schien unabwendbar. Dann war die Autobahn wieder frei, irgendwo in der abgelegenen bayerischen Oberpfalz fast leer, der Tank randvoll mit gutem Diesel. Warum also nicht?
Ich beschleunigte meinen VW-Golf auf 150 km/h und drückte weiter beherzt aufs Gaspedal. 170, 180, 200, 210 km/h. Ganz ruhig lag das Fahrzeug bei diesem Höllentempo auf der Straße, und immer noch überholten mich andere Verkehrsteilnehmer. Sie mussten also mit mindestens 230 Sachen durch die Gegend brettern. Herrliches Gefühl, wie die Kilometer nur so purzelten und eine pünktliche Ankunft wieder in greifbare Nähe rückte.
So schnell war ich selbst noch nie gefahren. Angst? Keine Spur! Auch mein Gewissen rührte sich nicht, obwohl ich mir eigentlich ein persönliches Tempolimit auf Autobahnen von 120 km/h verordnet habe. Nein, ich genoss das Gefühl, endlich einmal alles und alle hinter mir lassen zu können, erdgebundenes Fliegen gewissermaßen. Und beschloss, auch mal wieder öfter in den richtigen Flieger zu steigen, am besten zu einem Wochenendausflug in ein fernes Land, sonst lohnen sich Geschwindigkeit und Zeitgewinn ja nicht. Schade, dass es die Concorde nicht mehr gibt.
In die große Tonne mit dem Altgerät!
Bei über 200 Sachen kann auch ein ICE schwer mithalten, selbst wenn er mal pünktlich sein sollte. Apropos Bahn: benutze ich nicht mehr trotz 49-Euro-Ticket oder gerade deswegen, weil die Regionalzüge seit Einführung sozialistischer Beförderungstarife immer gestopft voll sind. Ich fahre nur noch und ausschließlich mit dem eigenen Auto, gerne lange Strecken. Da kann ich entspannt in die Landschaft schauen, unterwegs das eine oder andere Weingut besuchen, um ein paar Kisten zu bunkern, und ich kann ungestört meine Musik hören, am liebsten Bruckner-Symphonien in Maximallautstärke, was zu Hause die Nachbarn auf die Barrikaden treiben würde. Dank bewährtem Dieselmotor brauche ich mir keine Sorgen um die Reichweite zu machen – und ich muss mir keine englischen Ansagen transsexueller SchaffnerInnen anhören.
Die Wonnen ökologischer Dialektik machen sich auch auf dem Feld der Mülltrennung bemerkbar. Früher habe ich jedes Plastikfitzelchen getrennt gesammelt, die Aludeckelchen mühsam vom Sahnetöpfchen abgefriemelt sowie die ökologisch vorteilhafte papierne Bauchbinde des Joghurtbechers. Um mich dann an der Wertstoffinsel mit der Frage zu quälen, ob das mühsam gehortete Plastikgedöns schließlich nicht doch wieder im Hausmüll landet. Jetzt werfe ich gleich alles in den Restmüllbeutel, das Zeug muss schließlich brennen, zumal ja Gas und Öl als Brennstoffe bald verboten sein werden.
Coffee-to-go war früher ein Reizwort für mich. Mit Blicken der Verachtung strafte ich all jene Mitmenschen, die mir auf der Straße mit einem solchen Gebinde begegneten. Jetzt gönne ich mir ab und zu mal ein Becherchen, wenn die Zeit drängt und ich mir zu Hause keinen Kaffee brühen möchte. Unterwegs an dem belebenden Getränk zu nuckeln, ist einfach ungeheuer praktisch und zeitsparend, deswegen ist Coffee-to-go ja so beliebt. Abspülen muss man auch nicht mehr, und es beschert der eigenen Kaffeemaschine ein längeres Leben.
Wenn das Gerät trotzdem nach spätestens zwei Jahren den Geist aufgibt, verzichte ich mittlerweile darauf, den allerletzten Elektrohändler der Stadt dazu zu überreden, sie „einzuschicken“, was immer wesentlich teurer kommt als eine Neuanschaffung. Sie landet jetzt gleich in der großen Tonne, weil ich keine Lust habe, den Schrott zum Wertstoffhof zu fahren. Machen die Nachbarn genauso.
Im Restaurant bedrohte Fischarten bestellen
Im Restaurant ertappe ich mich immer häufiger dabei, Speisen zu bestellen, um die ich früher einen Bogen machte: Steaks zum Beispiel. Am besten vom Grill mit feinem Rauchgeschmack. Oder Meeresgetier wie Seezunge und Rotbarsch, die bei den Umweltorganisationen ganz oben auf der Fischverbotsliste stehen. Nach dem Motto: Schnell noch mal essen, bevor es keinen mehr gibt. Sonst ärgert man sich, dass man eine letzte Chance verpasst hat – bevor man mit leckeren Insekten vorliebzunehmen hat.
Gerade lese ich, dass der „ethische“ Fondsanbieter Ökoworld AG nun doch davon absehen will, die Geldstrafen von Klimaklebern zu übernehmen. Zum Glück habe ich meine Anlage bei diesem Unternehmen schon vor einiger Zeit verkauft, sonst wäre spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich davon zu trennen. Schade übrigens, dass ich nicht frühzeitig bei Rheinmetall investiert habe, dann wäre ich jetzt ein gemachter Mann. Rüstungsunternehmen gelten seit Beginn des Ukrainekrieges ja auch als ethische Anlage.
Gewiss, man kann all dies Tun und Nicht-mehr-lassen als kindische Trotzreaktion bezeichnen: oder als streng rationales Verhalten. Bewegung und Gegenbewegung. Total Hegel-mäßig, wobei der olle Preuße mit schwäbischen Wurzeln, ginge es nach Geschichtsinterpreten wie Claudia Roth, längst mitsamt den Restbeständen des wohl rationalsten aller deutschen Staatsgebilde im Restmüll der Geschichte entsorgt werden müsste. Im grünen Paradies regiert nämlich wieder die Metaphysik.