Müssen wir in Zeiten der Polarisierung erst recht mit politisch Andersdenkenden reden? Ja, ich halte das für eine gute demokratische Eigenschaft. Denn tatsächlich lerne ich Menschen und Standpunkte nur kennen, wenn ich nach ihnen frage. Egal ob links- oder rechtsextrem.
Der normale Bürger hat außerhalb seines Bekannten- und Lebensumfelds wenig Möglichkeiten, auf Links- oder Rechtsextremisten zu treffen. Gelegentlich sieht er sie in der Tagesschau, wenn sie einmal mehr „ganz demokratisch“ Parolen grölend und Fahnen schwenkend durch die Straßen ziehen und Tiefbaumaterial auf Polizisten schleudern. Das war es dann.
Was aber, wenn einem ein solcher Extremist nun auf Facebook oder plötzlich im Familienkreis begegnet? Lohnt sich dann ein Gespräch? Soll man überhaupt mit Extremisten – zumal, wenn sie ideologisch gefestigt sind – reden? Oder ist das Verschwendung von Atem und Lebenszeit? Meine Eltern und auch mein Umfeld haben mich dazu erzogen, grundsätzlich mit jedem Menschen zu reden. Und ich halte das auch für eine gute demokratische Eigenschaft. Denn tatsächlich lerne ich ja Menschen und Standpunkte nur kennen, wenn ich nach ihnen frage. Erst dann kann ich sie auch für mich hinterfragen. Und: Wer miteinander redet, der schießt nicht aufeinander.
Ja, mit Extremisten ist das schwierig. Zumal, wenn sie einen selbst nicht zu Wort kommen lassen oder aggressiv sind. Wenn Timon an der Polizeiabsperrung steht und „alle wollen nur dasselbe, Bullenschweine in die Elbe“ skandiert, ist das vielleicht kein glücklicher Zeitpunkt, um mit ihm über die Segnungen des Kapitalismus zu reden. Wenn der aber bei der familiären Grillfeier dabei sitzt, dann können sich durchaus interessante und überlegenswerte Aspekte ergeben. Erst recht, wenn die Diskussion nicht mit der Intention geführt wird, den Anderen dringend vom eigenen Standpunkt überzeugen zu müssen. Das nennt sich dann „Meinungsaustausch“. Man tauscht Meinungen miteinander aus, ohne dass die eigene Meinung ausgetauscht werden muss. Und tatsächlich hat das Gegenüber vielleicht einen Punkt?
Ich habe mit Links- und Rechtsradikalen schon diskutiert. Und tatsächlich hatte jeder für sich wenigstens eine Sache, die ich für überlegenswert hielt. Nehmen wir einmal unseren Linksradikalen, der sich selbst als Antifaschist und Kommunist bezeichnet und der Ansicht ist, der Kommunismus sei nur noch nie richtig ausprobiert worden. Lassen wir das Argument, dass jedes falsch ausprobierte Experiment Millionen von Toten gekostet hat, mal außen vor. Er brachte zur „Begrenzung der Auswüchse des Großkapitals“ folgende Idee ein: Jeder Firmenchef sollte maximal das 20-fache des am schlechtesten bezahlten Arbeitnehmers verdienen. Wir können uns jetzt über den Faktor 20 streiten, aber vom Grunde her finde ich die Idee gar nicht so schlecht:
Sie ermuntert sowohl „die da oben“ als auch „die da unten“, alles für die Firma zu geben, denn dann geht es allen gut. Tatsächlich ist es ja wirklich ungerecht, wenn der Manager, der soeben seinen Konzern in den Konkurs geritten hat, auch noch mit einem millionenfach vergoldeten Handschlag in die Arbeitslosigkeit geht, während für den Pförtner die Miete im nächsten Monat zur existenziellen Herausforderung wird. Muss ich mit einem Che Guevara Trotzki deswegen nächste Woche ein Bier trinken gehen? Natürlich nicht. Hat er ansonsten Quatsch geredet? Ja, ziemlich viel. Aber die Idee wäre mir entgangen. Das wäre schade gewesen.
Rassistisch, antisemitisch und natürlich weltverschwörerisch
Nehmen wir den Rechtsausleger, neulich vom Weinfest, der an unserem Tisch saß: „Sozial geht nur national“ hat er gesagt. Er war sozusagen „Nationalsozialist“. Na, läuft es Ihnen auch schon kalt den Rücken herunter? Sein Punkt war, dass Sozialleistungen nur national möglich sind und auch nur für die gezahlt werden sollten, die der „Volksgemeinschaft“ angehören – also die, die Deutsche sind. Wäre dem nicht so, so hat er argumentiert, bräuchten wir keine nationale Gesetzgebung, sondern könnten unsere Sozialleistungen, die eben nicht im Ausland erarbeitet werden, gleich ins Ausland transferieren.
Dann bräuchten die Empfänger nicht den Umweg über einen erlogenen „Asylgrund“ gehen, sondern könnten sich ihren Scheck gleich vor Ort in Shitholistan abholen – ganz ohne riskante Flucht übers Mittelmeer und Todesgefahr. Auch hier finde ich das Argument durchaus stichhaltig, auch, wenn es natürlich durch Worte wie „Volksgemeinschaft“ und „national“ sprachlich kontaminiert gewesen ist. Ebenso, wie eine unbegrenzte Zuwanderung völlig sinnfrei ist, weil wir im Rechtsextremfall allein aus Afrika wenigstens 16 Millionen (!) Flüchtlinge zu versorgen hätten. Ich wüsste wirklich gerne, wie das gehen soll. Mein Nazi gegenüber auch.
Gehe ich mit dem ein Bier trinken? Nein, auch nicht mit dem, ansonsten gab er ziemlich dummes Zeug von sich – aber da hatte er auch schon böse einen im Jagertee, und dann wurde es a bissel blöd. Und so „ein wenig“ rassistisch und antisemitisch und natürlich weltverschwörerisch. Muss ich ihm seinen Standpunkt ausreden? Kann ich das überhaupt? Eher nicht. Er ist, wie er ist und er kümmert sich nebenbei noch um die 96-jährige Nachbarin, ob aus Nächstenliebe oder weil sie mal Fähnleinführerin im Jungmädelbund war, kann ich nicht sagen. Aber seine obige Aussage fand ich stichhaltig.
Ich bin nicht der Maßstab für andere oder alle
Ich glaube, das ist überhaupt der Punkt eines Liberalen. Eines Demokraten. Es gibt nicht nur schwarz und weiß oder dunkelrot und dunkelbraun. Es gibt sehr viele Schattierungen dazwischen, wie überhaupt Leben und Politik ganz bunt sind (5 Euro fürs Phrasenschwein bitte von meinem Konto abbuchen), aber tatsächlich kann ich den Satz „ich bin ja eigentlich links, aber …“ schon nicht mehr hören, weil nach dem „aber“ oft Aussagen kommen, die sich so oder so ähnlich in jedem guten AfD-Wahlprogramm nachlesen lassen. In jedem schlechten Wahlprogramm übrigens auch.
Mir persönlich würde eher die Hand abfallen, bevor ich die zweimal um 360 Grad gewendete SED oder eine Partei wähle, die einen Typen wie Höcke in den fest geschlossenen Reihen mitmarschieren hat. Und die Grünen sowieso nicht. Ich hab’s nicht so mit Heuchlern, die dreist meine Intelligenz beleidigen und mir Geld aus dem Portemonnaie stehlen. Auch hier gilt jedoch: Auch die haben eine Existenzberechtigung und als ökologisches Regulativ einiges dafür geleistet, dass ich heute ohne Instant-Hautkrebs im Main zwischen lebendigen Fischen baden kann. Als Regierungspartei sind sie nur eben untragbar. Und unfassbar. Blöd.
Aber das ist meine Ansicht. Ich bin nicht der Maßstab für andere oder alle. Es wäre aber schön, wenn eine Partei, die in den Bundestag von mehr als 5 Prozent aller Wähler gewählt wurde, auch ihren Job machen kann. Auch hier völlig unabhängig von der Parteifarbe. Denn wir wissen es ja nicht: Vielleicht hat ja auch der politische Gegner einen Punkt. It’s the democracy, stupid.
(Weitere Redebeiträge des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.