Martin Schulz soll die Jugend für den EU-Wahlkampf gewinnen. Die erwischte ihn bei einer öffentlichen Veranstaltung aber auf dem falschen Fuß. Ist aber egal: Hauptsache, die SPD gibt jedem Versager eine zweite Chance.
Es ist keine Nachricht, weil der Sachverhalt bekannt ist. Aber die Tagesschau kann zaubern. Sie macht aus einer alten Schrippe ein knackfrisches Baguette. So wie einst die aktuelle kamera des DDR-Fernsehens die Artikel in den Konsumläden zu Delikatessen erklärte.
Diesmal geht es um die kommende Wahl zum Europa-Parlament, bei der „erstmals auch Jugendliche ab 16 ihre Stimme abgeben“ können. So sollen „junge Menschen mehr Einfluss auf politische Entscheidungen“ bekommen, „die ihre Zukunft betreffen“.
Sechzehnjährige können zwar keinen Vertrag für ein Netflix-Abo abschließen, keinen Führerschein Klasse 3 machen und keinen Alkohol kaufen. Sie werden nicht mal in das „Berghain“ reingelassen. Aufgeweckte Jungbürger und Jungbürgerinnen, die politische Entscheidungen beeinflussen wollen, können aber der Jungen Union beitreten, den Jungsozialisten, den Jungen Liberalen, der Schreberjugend, der FKK-Jugend und all den anderen Jugendorganisationen der etablierten Parteien und Verbände, sogar der Jugend des Deutschen Alpenvereins und dem Forum junger Mitglieder der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.
Auch die „Volkskammer“ war ein „Parlament“
Die Herabsetzung des aktiven Wahlalters für die EU-Wahl ist ein Probelauf. Es geht darum, neue Wähler zu werben, die Wahlbeteiligung zu erhöhen, um eine Placebo-Wahl für ein EU-Organ zu legitimieren, das bestenfalls eine beratende Versammlung ist, aber kein „Parlament“ in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Auch die „Volkskammer“ der DDR war eine Art „Parlament“ mit beschränkter Haftung.
Und so findet derzeit in den sozialen Netzwerken eine „Kampagne“ statt, die Jugendliche motivieren soll, „ihr Recht auch wahrzunehmen“. Denn was taugt ein Recht, wenn man es nicht wahrnimmt. Dabei zeigt sich, „welche Themen den Jugendlichen auf den Nägeln brennen“.
Bei einer analogen Veranstaltung mit Martin Schulz, dem ehemaligen Bürgermeister der Gemeinde Würselen bei Aachen, von 2012 bis 2017 Präsident des EU-Parlaments und Kanzlerkandidat der SPD bei den Wahlen zum Bundestag 2017, die mit einer historischen Niederlage der SPD endeten, nutzte ein angehender Jungwähler die Gelegenheit, Schulz eine kritische Frage zu stellen: „Sie hatten sehr, sehr viele Konflikte angesprochen, aber wahrscheinlich den größten und für die Jugend wichtigsten, nämlich den in Gaza, nicht angesprochen. Ich wollte Sie fragen, warum Sie den nicht angesprochen haben.“
Schulz im Abkühlbecken
Damit hatte Schulz nicht gerechnet. Inzwischen zum Vorsitzenden der „SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung“, einem der zahlreichen zivilgesellschaftlichen Abkühlbecken für ehemalige Politiker im Vorruhestand, befördert, weiß er vermutlich genau, wer bei den Jusos das Sagen hat, wer wen abzuschießen versucht, dass aber „Gaza“ das größte und wichtigste Problem für die deutsche Jugend darstellt, diese Information erwischte ihn so unvorbereitet wie der Fall der Mauer die politische Nomenklatura der Bundesrepublik. Und wie reagierte der sonst um keine Antwort verlegene rheinische Sozialdemokrat? Sagte er: „Ist es wirklich so, dass Gaza das größte und wichtigste Problem für die deutsche Jugend ist, nicht der Klimawandel, der Bildungsnotstand und die Work-Life-Balance? Habe ich Sie richtig verstanden oder habe ich mich verhört?“
Nicht ausgeschlossen, dass Schulz etwas in der Art gedacht hat. Gesagt hat er etwas anderes: „Ich habe Gaza nicht bewusst nicht erwähnt, es ist der pure Zufall, ich bin kein Fan der Hamas, im Gegenteil, und ich verurteile absolut, was Israel im Gazastreifen macht.“ (Nachzuhören hier, ab Min. 10:00) Martin Schulz, Ex-Bürgermeister von Würselen, Ex-Präsident des EU-Parlaments, Ex-Kanzlerkandidat der SPD, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, ein waschechter Europäer, ist ein Mann mit vielen Hüten und Meriten.
Ihm wurde u.a. zweimal das Bundesverdienstkreuz verliehen, dazu das Große Goldene Ehrenzeichen mit dem Stern für Verdienste um die Republik Österreich, die Ehrendoktorwürde der Staatlichen Technischen Universität Kaliningrad, das Offizierskreuz der Französischen Ehrenlegion, das „Goldene Karussellpferd“ der Arbeitsgemeinschaft der Schaustellervereine NRW „für seine langjährigen Verdienste um die europäischen Volksfeste“ und der Karlspreis zu Aachen „in Würdigung seiner bedeutenden Verdienste um eine Stärkung der Parlamentarisierung und der demokratischen Legitimation in der Europäischen Union und in Anerkennung seiner Rolle als wichtiger Vordenker der EU“.
Alle schon entfreundet?
Wenn es aber ernst wird, lässt sich der Vordenker der EU von einem 16-jährigen Wichtigtuer in die Enge treiben. „Ich bin kein Fan der Hamas…“ Echt jetzt, Martin, kein Freund der Hamas? Und was ist mit der Hisbollah, dem Islamischen Jihad, den Huthis im Jemen? Alle schon entfreundet? Es kommt freilich nicht darauf an, ob Schulz ein oder kein Freund der Hamas ist. Das wird den Lauf der Dinge in „Palästina“ so beeinflussen wie der Wasserstand der Altmühl bei Kelheim. Es sagt aber etwas über die SPD aus, wenn sie einen Minderleister wie Schulz aus der Versenkung herausholt.
Positiv betrachtet, könnte man sagen: Die Partei gibt jedem Versager eine zweite Chance. Das gilt auch für die Spitzenkandidatin der SPD, Katarina Barley. Zehn Tage vor der letzten EU-Wahl im Mai 2019 machte sie einen sensationellen Vorschlag zur Lösung der Flüchtlingsfrage: Gemeinden und Städte sollten sich direkt um Flüchtlinge bewerben können. „Die Verteilung von Flüchtlingen könnte direkt über Städte und Gemeinden erfolgen", so könnten einige Hürden umgangen werden.
Polen z.B. habe „eine flüchtlingskritische Regierung“, aber „die größten Städte dort sind bereit, Menschen aufzunehmen“. Bei der folgenden Wahl am 26. Mai 2019 erreichte sie mit 15,8 Prozent das schlechteste Ergebnis für die SPD bei einer bundesweiten Wahl. Für Katarina Barley war es aber ein Erfolg. Sie wurde zu einer der 14 Vizepräsidenten des EU-Parlaments gewählt und darf in diesem Jahr wieder als SPD-Spitzenkandidatin antreten. Wie hat Albert Einstein den Begriff Wahnsinn definiert? „Immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“
Henryk M. Broder ist Herausgeber der Achse des Guten (zusammen mit Dirk Maxeiner und Fabian Nicolay)