Nach dem Polizistenmord in Mannheim meldeten sich wieder die üblichen Besserwisser zu Wort und warnten vor einer "Anti-Islam-Hysterie", die sich in Deutschland ausbreiten würde. Vorneweg ein ehemaliger Innenminister und eine Journalistin.
Wann immer ein Nachkomme des Propheten Mohammed zum Messer – oder einer anderen Waffe – greift und eine breite Blutspur hinterlässt, melden sich notorische Klugscheißer (und Klugscheißerinnen) zu Wort und erklären einem, was gerade passiert ist. Das läuft regelmäßig darauf hinaus, dass der „mutmaßliche“ Täter zum Opfer erklärt wird. Deswegen nennt man das Verfahren auch Täter-Opfer-Umkehr.
Es funktioniert so: Bei Lanz sitzt eine junge taz-Redakteurin namens Anna Lehmann und sagt über den Messerstecher von Mannheim: „Ein islamistisches Motiv liegt nah, aber es ist eben noch nicht gesichert.“ Der mutmaßliche Täter war „offenbar unbescholten“ und ist „nicht als überzeugter Islamist nach Deutschland gekommen“, vielmehr habe er sich „hier radikalisiert“. Nebenbei weist sie daraufhin, dass ein vom Verfassungsschutz beobachteter „Islamhasser“ vor Ort anwesend war, der seine Parolen in einer „migrantisch geprägten Stadt“ über den Marktplatz brüllen durfte. Könnte das den aus Afghanistan stammenden Messermann dermaßen radikalisiert haben, dass er spontan ausgerastet ist?
„Offenbar ging bei dem Einsatz auch einiges schief, die Polizisten wussten offenbar nicht, wer zu wem gehört und wen sie schützen mussten“, stellt Anna Lehmann fest. Ja, hätte sie bei diesem Einsatz das Sagen gehabt, wäre so etwas nicht passiert. Aber leider trat sie erst bei Lanz in Aktion, als Entlastungszeugin für den mutmaßlichen Täter, der „hier radikalisiert“ wurde, was für die Feststellung der Schuld nicht unerheblich ist. Sollte es jemals zu einem Verfahren kommen, wird zusammen mit ihm auch „die Gesellschaft“ auf der Anklagebank sitzen und Anna Lehmann über den Prozess in der taz berichten.
Die Tat eines Einzeltäters, kein Terroranschlag
Dass immer mehr Frauen den Journalismus als Alternative zu einer Karriere als Hausfrau und Mutter entdecken, hat auch dazu geführt, dass immer mehr Frauen Unsinn schreiben. Im stern zum Beispiel konnte man Folgendes lesen: „Obwohl die Ermittlungen in Mannheim nicht abgeschlossen sind und der Polizist noch nicht einmal beerdigt ist, wird mit seinem bedauerlichen Tod Politik gemacht. Das ist Terror, schreibt CDU-Chef Friedrich Merz auf X. Auch Mannheims Oberbürgermeister Christian Sprecht nennt die Tat eine niederträchtige, brutale Terrorattacke. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fordert: Der Täter muss streng bestraft werden.“ So was geht gar nicht, meint Reporterin Kerstin Herrnkind und fragt: „War der Täter womöglich psychisch krank?“ Und: „Sollte der 25-jährige Afghane geplant haben, den Islam-Kritiker Michael Stürzenberger und womöglich auch andere Menschen zu töten, ist das unter Umständen die Tat eines Einzeltäters und noch lange kein Terroranschlag.“
Da muss ganz sorgfältig differenziert werden zwischen der Tat eines Einzelnen und einem Terroranschlag, und auf keinen Fall dürfe mit dem „bedauerlichen Tod“ des Polizisten „Politik gemacht“ werden. Worauf es ankommt, ist die richtige Ein- und Zuordnung der Tat, die, so sagt man es heute, „Kontextualisierung“. Das ist das Spezialgebiet von Kerstin Herrnkind, da macht ihr keiner was vor.
„Taxifahrer, Pflegekräfte in der Psychiatrie, Rettungskräfte, Lehrer, Prostituierte und Sozialarbeiter werden im Job häufiger (als Polizisten) angegriffen. Der Polizeiberuf gehört auch nicht zu den gefährlichsten Berufen. In Deutschland stirbt statistisch gesehen fast jeden fünften Tag ein Bauarbeiter.“
Aalen beim Paaren zuschauen
Um auf einen solchen Vergleich zu kommen, muss man/frau entweder die Henri-Nannen-Journalistenschule besucht oder den Aalen in der Binnenalster zu lange beim Paaren zugeschaut haben. Oder man heißt Gerhart Baum, war mal Innenminister und möchte noch was werden in der Politik. Dann gibt man einer Nachrichtenagentur ein Interview und warnt vor einer „Anti-Islam-Hysterie“, die sich in Deutschland ausbreiten würde. Zwar sei der Messerangriff (auf den Polizisten) eine „zu verurteilende Untat und der gewalttätige Islamismus eine Gefahr“, ABER die Reaktion auf Mannheim zeige erneut, so Baum gegenüber der DPA, „dass antiislamische Reflexe offenbar tief in unserer Gesellschaft angelegt“ seien.
Die Sache mit der „Anti-Islam-Hysterie“ und den „antiislamischen Reflexen“ in unserer Gesellschaft ist echt seltsam. Woher mögen die nur kommen? Ich vermute, es hat mit der Berichterstattung über Vorfälle zu tun, die mit dem Islam in Verbindung gebracht werden: Charlie Hebdo und Bataclan 2015, Breitscheidplatz 2016, Brüsseler Flughafen und U-Bahn-Station Maalbeek 2016, Nizza 2016, Wien 2020 – nur um die zu nennen, die mir gerade einfallen. In allen diesen Fällen war gleich von „Terror“ die Rede. Aber vielleicht waren nicht Terroristen am Werk, sondern nur psychisch kranke Einzeltäter? Sollte sich herausstellen, dass es gelegentliche stern-Leser waren, müsste das strafmildernd berücksichtigt werden.
Henryk M. Broder ist Herausgeber der Achse des Guten (zusammen mit Dirk Maxeiner und Fabian Nicolay)