Im digitalen Raum regt sich unvermindert Widerstand. Jetzt liebäugelt auch Thüringens CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt mit Zensur-Fantasien.
Mehr als vier Jahre ist es her, da wurde die Wahl eines Ministerpräsidenten im Thüringer Landtag gewissermaßen par ordre du Mutti rückgängig gemacht und Thomas Kemmerich (FDP) zum Rücktritt genötigt, weil im fernen Südafrika dessen Wahl unter anderem mit den Stimmen der AfD-Fraktion von der Bundeskanzlerin als „unverzeihlich“ gelabelt worden war. Ein „präsidentsloser“ Vorfall, um es mit Annalena Baerbock zu sagen, der eine Regierungskrise auslöste, in dessen Folge die CDU die Wiederwahl von Bodo Ramelow (SED vulgo PDS vulgo Die Linke) zuließ und ihn bis heute an der Macht hält, denn aus den versprochenen Neuwahlen 2021 wurde nichts.
Die Thüringer sind, wen wundert's, not amused. Von Linke, SPD, Grünen und CDU verschaukelt, wenden sie sich der AfD zu, Höcke hin oder her, die Partei liegt nach Umfragen fünf Monate vor der nun mit gut drei Jahren Verspätung stattfindenden Landtagswahl mit gut 30 Prozent klar vorn. In so einer Situation sollte CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt sein Heil vielleicht nicht unbedingt auf einem Nebenkriegsschauplatz suchen, doch scheint er sich nach dem TV-Duell mit Björn Höcke, den er belehrte, dass es „Gehacktes-Brötchen“ und nicht „Mettbrötchen“ heiße (was sein Kontrahent aber auch gesagt hatte), so an sich selbst berauscht zu haben, dass er jetzt ohne Not im Landtag zum Thema Demokratie schützen durch Schleifen des Grundrechts Meinungsfreiheit sprach. Und das hörte sich dann so an:
„Wie aber schützen wir die Demokratie im Bereich von Social Media? Da gibt es sicherlich fünf Hebel: Idealerweise sollte man sich über die Frage eines Bot-Verbotes verständigen, damit eben die Nutzung gefälschter Profile eine Straftat ist; es geht auch um die Frage nach Klarnamenpflicht, weil Meinungsfreiheit nicht unter Pseudonymen versteckt werden soll; es geht auch um die Frage, dass wir verwirkbare Social-Media-Lizenzen für jeden Nutzer schaffen sollten, damit eben auch Gefährder im Netz nichts verloren haben…“
Hat der Mann, der einst unter anderem Öffentliches Recht studierte, gerade wirklich „Bot-Verbot“, „Klarnamenpflicht“ und „verwirkbare Social-Media-Lizenzen“ gesagt? Ja, hat er. Gut, dann dröseln wir das hier mal kurz auf.
Der Antifa die „Hausbesuche“ leichter machen
Bots sind Softwareprogramme, die automatisierte, sich wiederholende und vordefinierte Aufgaben ausführen – also wie Super-Mario, nur eben nicht aus Fleisch und Blut. Gefälschte Profile soll man laut Voigt nicht nutzen dürfen, aber dass man nach Lust und Laune sein Geschlecht und seinen Namen gleich mit wechseln darf, geht in Ordnung. Wie stellt sich der CDU-Mann das vor? Muss ein Migrant mit 14 Identitäten dann 13 abgeben? Und dann gleich von einer „Straftat“ zu sprechen – nur noch gaga.
Dann die Klarnamenpflicht. Voigt scheint entgangen zu sein, dass mit Urteilen vom 27. Januar 2022 der Bundesgerichtshof (BGH – III ZR 3/21 und III ZR 4/12) entschieden hat, dass Klauseln in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines sozialen Netzwerks, die für die Nutzung eine Pflicht zur Verwendung von Klarnamen vorsehen, unwirksam sind.
Es gibt ja gute Gründe, warum Menschen nicht wollen, dass ihnen Aussagen zugerechnet werden können. Hätten die Geschwister Scholl ein V.i.S.d.P. unter ihre Flugblätter setzen sollen? Was macht denn heute ein Exil-Iraner, wenn er bei kritischen Aussagen fürchten muss, dass sich das Mullah-Regime daheim an seiner Familie rächt? Seit wann muss man eine Meinungsäußerung, beispielsweise ein Plakat („Die Ampel muss weg!“), namentlich verantworten? Soll man gleich jedem Statement Name, Adresse und Telefonnummer beifügen, damit der Antifa „Hausbesuche“ leichter gemacht werden?
Und sagen wir es so: Wenn mir jemand implizit damit droht, mich für eine unliebsame Meinung bei meinem Chef anzuschwärzen – es muss nicht zwingend Marie-Agnes Strack-Zimmermann sein –, dann sage ich: „Nur zu, machen Sie’s!“, weil ich dann gemeinsam mit den Achgut-Herausgebern herzlich darüber lachen kann, aber wer ist schon in so einer komfortablen Lage? Die allerwenigsten. Was soll denn eine Lehrerin oder eine Krankenschwester, die über unhaltbare Zustände an ihrem Arbeitsplatz auspackt, machen, wenn sie ihren Job wohl oder übel behalten will? Es ist ihr gutes Recht, sich dafür ein nom de plume zuzulegen, und ein Journalist darf seine Quelle schützen. Ein Günter Wallraff wurde als großer Enthüller gefeiert, als er unter falschem Namen, ob als „Hans Esser“ oder als „Ali“, also undercover recherchierte. Davon mal abgesehen, dass Alias-Namen in manchen Berufen üblich sind: Der Geheimdienstler Herbert Horch wird sich nicht als solcher durch die Welt bewegen, und auch die Escort-Dame Lola kann in Wirklichkeit ganz anders heißen. That’s life.
Eine Zensur findet nicht statt. Punkt.
Es ist nun mal so: Die AGBs der jeweiligen Plattform entscheiden, ob für die Einstellung von Inhalten eine Klarnamenpflicht herrscht (bei faz.net zum Beispiel ist das der Fall) oder nicht. Ansonsten hat jeder Bürger das Recht, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt." (Artikel 5 Grundgesetz). Ja, schon im Artikel 118 der Weimarer Verfassung von 1919 war die Meinungsfreiheit so geregelt: „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern.“ Will man wirklich dahinter zurückfallen?
Solange sie nicht die Schwelle zur Strafbarkeit überschreitet, ist auch die anonyme Kommunikation ein wesentlicher Aspekt einer freiheitlichen Ordnung. Sie können politische Ansichten auch mit Hut, Sonnenbrille und falschem Bart äußern, niemand hat das Recht, Sie dafür bei Ihrem Chef zu verpetzen.
Noch einmal: Jeder Bürger hat das gesetzlich verbriefte Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, trotz NetzDG und Digital Services Act und immer wieder neuen, überaus dreisten Versuchen, die Kritik im digitalen Raum und woanders zum Schweigen zu bringen. Eine Zensur findet nicht statt, und allein die Tatsache, dass wir über Meinungsfreiheit überhaupt diskutieren müssen, ist höchst bedenklich. Meinungsfreiheit hat man – oben eben nicht.
Twitter-Führerscheinentzug?
So, und jetzt kommen wir zu den „verwirkbaren Social-Media-Lizenzen“. Mario Voigt fordert offenbar eine Art Twitter-Führerschein, den man jederzeit einziehen kann. Das Recht auf freie Meinungsäußerung soll zugeteilt oder eben auch entzogen werden können. Mehr Totalitarismus wagen! Hat Voigt sich diese Idee vom brillanten Führer in Pjöngjang geborgt? Oder mit Nancy Faeser und Thomas Haldenwang zu Abend gegessen? Wie auch immer, die Empörung, die ihm bei X / Twitter entgegenschlug, ließ ihn bald zurückrudern:
„Der Begriff ,verwirkbare Lizenzen‘ war falsch gewählt. Es sollte keinesfalls der Eindruck entstehen, dass Usern der Zugang zu Social Media zugeteilt werden soll. Was gemeint war: Es wird gesperrt, wer gegen Recht und Gesetz verstößt. Das Netz darf kein rechtsfreier Raum sein.“
Als würde nicht schon jetzt gesperrt, wer gegen Recht und Gesetz verstößt; gelöscht und gesperrt wird man sogar mitunter schon, wenn man’s nicht tut. Und als wäre der digitale Raum „rechtsfrei“, wo so mancher schon für einen harmlosen Post morgens um 6.00 Uhr die Tür vom SEK eingetreten bekommt, etwa wenn man den Hamburger Innensenator Andy Grote „Pimmel“ genannt hat. Eine Hausdurchsuchung hat man dann unter Umständen schneller am Hals, als sich unsere Außenministerin verhaspeln kann.
Ein veritabler Schuss ins eigene Knie
Aber was wirklich unter Beleidigung, Bedrohung oder ähnliche Delikte fällt, muss rechtsstaatlich geklärt werden, vom Tatvorwurf über die Unschuldsvermutung bis zur Verurteilung. Und kann nicht von Hans und Franz von der Meldestelle mal eben zu „Hass und Hetze“ erklärt und gelöscht werden. Dies zuzulassen, würde bedeuten, hier wirklich einen „rechtsfreien Raum“ zu schaffen. Einen rechtsfreien Raum wie die Politik, wo auch unverantwortliches, bisweilen ans Kriminelle grenzendes Handeln keine Konsequenzen hat, jedenfalls nicht im Deutschland unserer Tage.
Björn Höcke dürfte sich während Voigts Auslassungen auf die Schenkel geklatscht haben. Es ist ja auch völlig unverständlich, warum sein Kontrahent dieses Fass aufgemacht hat. Die Senioren unter den Wählern sind selten in sozialen Netzwerken unterwegs, und die Jugend dürfte die Aussicht, bei jedem kritischen Post befürchten zu müssen, es mit einem „starken Staat“ zu tun zu bekommen, nicht sehr prickelnd finden. Insofern war Voigts Statement, ebenso wie die nachgeschobene „Erklärung“, ein veritabler Schuss ins eigene Knie.
Tatsächlich behauptet er selbst, die „Demokratie schützen“ und fördern zu wollen und „die Meinungsvielfalt, auch in sozialen Netzwerken, zu beleben“ – ausgerechnet, indem er die Axt an die Wurzeln unserer Grundrechte legt. Wenn der mündige Bürger nur noch als potenzieller „Gefährder“ gesehen wird – auch wenn er maximal ein Gefährder der Macht der etablierten Parteien ist –, dem man Verfassungsschutz, Meldestellen, Correctiv, NGOs und so weiter auf den Hals hetzen und damit drohen darf, ihm dauerhaft das Wort zu entziehen, muss die Verzweiflung groß sein.
Claudio Casula arbeitet als Autor, Redakteur und Lektor bei der Achse des Guten.