Es ist die Stunde des Christian Lindner. Wer hätte damit noch gerechnet, vermutlich nicht einmal er selbst. Und dennoch, obwohl seine Partei von allen am Machtpoker beteiligten die wenigsten Stimmen bekommen hat, führt er nun die Zügel. Kleiner Mann ganz groß. Ohne ihn geht nichts bei der Bildung einer neuen Koalition. Was nachher mit ihm gehen wird, bleibt abzuwarten. Hoffnungen bestehen, Zweifel ebenso. Einerseits weiß der Mann, was er will. Andererseits ist er anpassungsfähig bis zum Umfallen, geht es um sein Ziel, als „Berufspolitiker“ mitzumischen, in welchem Rahmen auch immer.
Das nämlich, „Berufspolitiker“ zu werden, hat er einmal erzählt, habe er bereits als Pennäler beschlossen. Das stand für ihn fest, während die Klassenkameraden noch davon träumten, Lokomotivführer oder Pilot zu werden. Nur sei ihm, gestand er freimütig, anfangs nicht klar gewesen, mit welchem Parteibuch er einsteigen würde. Die Würfel fielen dann schnell. Mit 16 stand er in den Reihen der jungen Liberalen.
Was folgte, war ein Auf und Ab. So rasant, wie der Schüler einst dachte, sollte sich der Beruf nicht rechnen. Nun aber, mit 42, ist die Rechnung aufgegangen. Jetzt endlich sitzt er hoch auf dem gelben Wagen. Wie der Kutscher auf dem Bock schwingt er die Peitsche über jene, die unter ihm Kanzler sein wollen. Er hat sie beide an der Leine und wird nicht lockerlassen, bis sie ihn an den Kabinettstisch gezogen haben. Dass dieser oder jener auf den letzten Metern schnaubend ausfallen muss, dürfte den Kutscher wenig kümmern, sieht er erst die Lichter der Schänke vor sich, drinnen den reservierten Platz des Finanzministers, auf dem er fortan beruflich politisieren will. Auch das Zugpferd, die gelbe Partei, geht weiter an seiner Lounge, immer im Kreis herum, mal vorwärts mal rückwärts.
Dabeisein ist alles für den Adabei
Der Kutscher ist flexibel, Hauptsache er bleibt auf dem Bock. Sonstige Zwecke sind für den „Berufspolitiker“ nachrangig, saisonal auswechselbar. Zwar sagte Christian Lindner erst vor wenigen Tagen, dass die größten Widersprüche im Abgleich der Parteien zur Bildung einer Koalition zwischen den Grünen und der FDP bestünden, doch hielt ihn das nicht davon ab, vor allen anderen mit eben denen zu verhandeln, einen Konsens zu suchen. So wie er als Schüler auf den politischen Beruf setzte, ohne zu ahnen, zu welchem Zweck, so steigt er nun mit den Grünen ins Boot, ohne viel danach zu fragen, was sie mit Deutschland vorhaben könnten. Dabeisein ist alles für den Adabei. Der mit Ehrgeiz ergriffene Beruf des „Berufspolitikers“ entspricht Christian Lindners Begabung.
Für das Land muss das kein Nachteil sein. Immerhin besteht so die Aussicht, dass er es tatsächlich schaffen könnte, den Stuhl des Finanzministers zu besetzen. Und das wiederum, der Liberale als Kassenwart, könnte allein schon ernüchternd auf Linke und Grüne wirken, ihren Verschwendungsrausch dämpfen – vorübergehend.
Niemand weiß, wohin die Kutsche rollt
Im Ausland hat man es längst erkannt. Weder der Italiener Mario Draghi noch der Franzose Emmanuel Macron wünschen sich einen FDP-Mann an der Spitze des Finanzministeriums, einen, der den Abfluss deutschen Vermögens in die EU drosseln könnte. Also alles in Butter auf dem sinkenden Kutter? Mitnichten. Denn wer daheim klein beigibt, indem er gemeinsame Sache mit jenen macht, von denen ihn nahezu alles trennt, könnte das bald auch in der europäischen Finanzpolitik tun, um zu bleiben, was er schon immer werden wollte: Berufspolitiker: Kleiner Mann ganz groß, hoch oben auf dem gelben Wagen, den ein anderer FDP-Mann einst als Sänger erklomm.
So sehr man Christian Lindner im Moment vertrauen möchte, behält er die Leinen in der Hand, weiß niemand, wohin die Kutsche rollt. Sicher kann die FDP besser mit Geld umgehen als die Roten und die Grünen, sie ist aber auch ein unsicherer Kantonist, der über Nacht unverhofft auszuscheren vermag. Helmut Schmidt könnte, wenn er noch unter uns wäre, seiner Partei ein Lied davon singen. Sozial-liberale Koalitionsgebäude sind auf Treibsand gebaut, man könnte auch sagen: eine Spielwiese für gealterte Pennäler, die schon immer wussten, dass sie vor allem eines sind „Berufspolitiker“ – egal zu welchem Ziel und Zweck.