Seit einiger Zeit arbeite ich nebenher als Erziehungsbeistand für Jugendliche. Um Weihnachten herum bat man mich, einen 17-jährigen afghanischen Asylbewerber zu betreuen, der verzweifelt sei. Während ich mich sorgte, setzte er sich jedoch einfach nach England ab.
Seit einiger Zeit arbeite ich nebenher als Erziehungsbeistand für Jugendliche (Achgut berichtete). Am 22. Dezember, also als ich mich schon im Weihnachtsmodus befand, klingelte mein Handy. „Herr Dener, weil Sie so flexibel sind, denke ich, dass Sie uns weiterhelfen können. Wir haben einen 17-jährigen afghanischen Jungen, den wir in einer Gemeinschaftsunterkunft in Musterstadt untergebracht haben. Er braucht einen Erziehungsbeistand. Können Sie die Aufgabe übernehmen? Mein Sohn ist ebenfalls 17 und ich habe ihn mir vorgestellt, so ganz allein in einem fremden Land.“
Eigentlich wollten wir zu meinem Bruder in die Schweiz fahren, aber wir haben die Abfahrt auf den nächsten Tag verschoben. Dem Jungen musste geholfen werden. Bis Musterstadt sind es 40 Kilometer. Ungefähr eine Stunde nach dem Telefonat war ich in der Gemeinschaftsunterkunft (GU).
Wie mir mitgeteilt worden war, gehörten die zwei Räume der GU einem angrenzenden Unternehmen. Da der Eingang separat war, hat man es den Behörden als GU zur Verfügung gestellt. Jetzt sollte man nicht denken, das hätten sie getan, weil sie so sozial eingestellt wären, nein, vielmehr gibt es dafür gutes Geld. Laut Focus kostet ein Flüchtling pro Tag circa 62 Euro inklusive Verpflegung. Also dürfte die Unterkunft beziehungsweise der Vermieter um die 40 Euro für sich beanspruchen. Die Annahme beruht auf der Tatsache, dass der betreffende Flüchtling ungefähr 550 Euro monatlich bar für die Verpflegung auf die Hand bekommt.
In dieser Unterkunft hausten mit meinem Schützling – nennen wir ihn mal Ali – 25 Personen. Zehn davon kamen einen Tag nach ihm um 2:00 Uhr in der Nacht an. Alle sturzbesoffen, wie mir alle sonstigen Bewohner und der Mieter auf der dritten Etage bestätigten. Sie stammten allesamt aus Somalia. Sofort fragte ich Google und erkannte, dass mein Wissen über das Land richtig war. 99,5 Prozent Moslems! Sie waren wohl froh, nicht nur in Deutschland, sondern auch den Zwängen des Islams entronnen zu sein, denn Alkohol ist für sie sonst tabu. Mein Schützling war verängstigt. Allein unter älteren Männern, die ein Durchschnittsalter von circa 35 bis 40 Jahren hatten.
Ich erfuhr, dass der Vater ermordet wurde
Diese 25 Personen waren in zwei Räume auf zwei Etagen verteilt, insgesamt circa 70 qm. Die Betten waren aneinandergereiht. Folglich hockten die Bewohner auf ihren Betten, denn zum Gehen oder Stehen gab es kaum mehr Platz.
Ich lief mit dem Google-Translator auf meinem Handy bewaffnet neben dem Jungen her. Vorher hatte ich schon in Erfahrung gebracht, dass er Paschtu spricht. Eine von zwei offiziellen Sprachen in Afghanistan. Ein weiteres Problem war, dass er kaum zur Schule gegangen war. Von einem anderen Afghanen hatte ich mal erfahren, dass es dort keine Schulpflicht gibt und auch, wenn es sie denn gäbe, kaum zu kontrollieren wäre, bei dem Durcheinander.
Ich erfuhr, dass der Vater des Jungen ermordet worden war, sogar während eines Telefonates mit ihm. Damals war er noch im Iran, auf seinem Weg nach Deutschland, 16 Monate dauerte die Reise. Er hatte sich also mit 15,5 Jahren auf den Weg gemacht und seine neun Geschwister und die Mutter zurückgelassen. Er wollte sie, nachdem sein Asyl anerkannt würde, nach Deutschland holen. Ich schildere Ihnen das ganz flüssig, es kostete mich aber mit einigem Hin-und-her-Übersetzen vier Stunden, das Geschilderte in Erfahrung bringen können.
Die Bombe platzte, nachdem ich meinen Schützling in die GU zurückgefahren hatte. Er sagte mir auf Türkisch, dass er meine Muttersprache etwas könne, weil er sechs Monate in Istanbul war. Ich war geschockt, zumal sein Türkisch bei ungefähr 60 Prozent lag und wir uns locker verständigen konnten. „Idiot, warum hast du das nicht früher gesagt!“, hätte ich ihm sagen können, aber das würde er durch die Sprachbarriere eventuell falsch verstanden haben. So sagte ich: „Das sagst du erst jetzt?“
„Onkel, Stuttgart, Wien“
Natürlich wollte ich mehr wissen. Er sollte mir erzählen, wie es in Istanbul war, ob er Hilfszahlungen und Unterkunft bekommen hätte. Nichts davon. Er musste in einem Restaurant arbeiten, in der Küche. Er bekam ein Viertel des Mindestlohns, welches weit unter der Hungergrenze liegt in der Türkei. Da er davon auch eine Schlafmöglichkeit bezahlen musste, arbeitete er in zwei Restaurants. Als er über türkische und arabische Männer erzählte, konnte er mir nicht in die Augen schauen, weil er sich schämte. So erfuhr ich, dass er ungewollt auch sexuelle Erfahrungen gemacht hatte.
Er tat mir leid, auch wenn seine Augen immer noch eine gewisse Gerissenheit ausstrahlten. Ich verschob abermals unsere Reise in die Schweiz, weil man dem Jungen die Angst, wieder in diese GU gehen zu müssen, von den Augen ablesen konnte. Ich beschloss, am 27. Dezember nach ihm zu sehen und dann erst zu meinem Bruder zu fahren. Telefonisch konnte ich meinen Schützling über die Weihnachtstage nicht erreichen. Am 27. Dezember dann fuhr ich sofort nach Musterstadt. In der GU reichte man mir eine Serviette, auf der stand: „Onkel, Stuttgart, Wien.“ Er hatte mir erzählt, dass er in Stuttgart einen Onkel hatte, aber Wien? Ich erinnerte mich, dass ich ihm gesagt hatte, dass er Musterstadt ohne Ausweis verlassen dürfte. Er hatte es getan. Ich Blödmann, so kam ich mir vor, machte mir um ihn Sorgen, während er auf Weihnachtsurlaub beim Onkel war, der ebenfalls ein Asylant ist.
Ich fuhr dann mit meiner Familie in die Schweiz und hoffte, den jungen Flüchtling sofort zum Jahresanfang wieder in Musterstadt zu sehen. Tatsächlich war er wieder da. Von den 630 Euro, die er am 22. Dezember erhalten hatte und die bis Ende Januar reichen solllten, waren nur noch 150 Euro übrig. Klar sagte ich ihm, dass das so nicht ginge und so weiter. Am 9. Januar bekam ich nachts einen Anruf. Auf Türkisch sagte er mir, dass er nicht mehr nach Deutschland zurückkommen würde, er wäre mittlerweile in England. Dort soll es viel besser sein, hatte man ihm erzählt. In Deutschland würde man lange in solchen Behausungen wie in der GU ausharren müssen. Im Ganzen hatte er sechs Monate in Deutschland verbracht. Von München war er über Kassel in Musterstadt gelandet.
Die jeweilige Community ist untereinander gut vernetzt
Ich war richtig benommen. Gestern noch gesehen und heute schon weg. Er nannte sogar unseren gemeinsamen Nenner, nämlich die deutsche Bürokratie. Wer hätte gedacht, dass unsereins mit den Asylanten etwas gemeinsam hat?
Am nächsten Tag erzählte ich der Mutter eines anderen Schützlings aus Äthiopien (Achgut berichtete), was mir widerfahren war. Sie sagte: „Ja, England ist viel besser, vielleicht gehen wir auch dahin.“ Dabei hatten Mutter und Kind gerade die Anerkennung als Asylanten erhalten, und ihr Aufenthaltstitel war bereits auf dem Weg zu ihnen.
„Was ist denn dort besser?“, fragte ich. „Englisch kann man schneller lernen und damit fangen die sofort am dritten Tag, schon in der GU, an.“ Ein separates Zimmer würde man schon nach zwei Wochen bekommen. Die jeweilige Community ist untereinander gut vernetzt. Jeder hat überall einen Verwandten. Es könnte ein Modell für Deutschland sein, dass wir unter der Hand und unter den Flüchtlingen kundtun, dass es den Flüchtlingen in England viel besser gehen soll.
Ahmet Refii Dener, geb. 1958, ist deutsch-türkischer Unternehmensberater, Blogger und Internet-Aktivist aus Unterfranken. Mehr von ihm finden Sie auf seiner Facebookseite.