Claude Cueni, Gastautor / 01.11.2019 / 14:30 / Foto: BK59 / 46 / Seite ausdrucken

Ist Gott impotent oder bösartig?

Es begann um 9.30 Uhr. Man schrieb den 1. November 1755, Allerheiligen. Die Straßen in Lissabon waren menschenleer. Die Stadtbewohner hatten sich in den Kirchen versammelt, um der Toten zu gedenken. Plötzlich bebte die Erde, die Gewölbe von über hundert Gotteshäusern brachen ein und begruben die Gläubigen unter sich. Wer schwer verletzt überlebte, erstickte an der gigantischen Staubwolke, die sich über den Trümmern erhob und den Himmel verdunkelte. Die brennenden Kerzen in den Kirchen und die offenen Feuerstellen in den Häusern entfachten verheerende Brände.

Wer sich ans Ufer des Tejo retten konnte, wurde kurz darauf von zwanzig Meter hohen Wellen in den Tod gerissen. Der Tsunami flutete die Küsten Nordafrikas, und die Nachbeben brachten sogar im fernen Luxemburg eine Militärkaserne zum Einsturz. In den Trümmern von Lissabon stahlen und mordeten marodierende Banden.

Nach der Jahrhundertkatastrophe kämpften alle um die Deutungshoheit. Protestantische Geistliche hielten das Unglück für eine Bestrafung der katholischen Portugiesen, weil sie die falsche Konfession hatten und weil ausgerechnet an diesem Tag das Inquisitionsgericht tagen sollte. Katholiken wiederum erkannten eine Strafe Gottes für das dekadente Leben in der damals reichsten Stadt Europas.

Wieso hatte Gott Prostituierte am Leben gelassen?

Dieser Deutungsversuch geriet jedoch ins Wanken, als die Menschen erfuhren, dass ausgerechnet das Rotlichtviertel die Katastrophe unbeschadet überstanden hatte. Wieso hatte Gott Prostituierte am Leben gelassen? Jeder hatte eine Meinung dazu, und da Meinungen nichts kosten, gab es viele davon.

Das Erdbeben markierte den Beginn der Erdbebenforschung und beeinflusste den Städtebau: Die Häuser erhielten Brandmauern, die Straßen wurden breiter. Aber das nachhaltigste Beben fand in den Köpfen der Europäer statt. Die Menschen fragten irritiert, wieso ein allmächtiger und gütiger Gott so viel Leid zugelassen hatte. Diese öffentlichen Debatten ebneten den Boden für Aufklärung, Wissenschaft und Vernunft.

Der schottische Philosoph David Hume schrieb: „Will Gott Böses verhindern, kann es aber nicht? Dann ist er impotent. Kann er es, will es aber nicht? Dann ist er bösartig.“

 

Claude Cueni (63) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag in der Schweizer Wochenzeitung BLICK, wo dieser Artikel zuerst erschien. Ende des Jahres erscheinen seine dort veröffentlichten Kolumnen als E-Book. Mehr unter der web.adresse www.cueni.ch.

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Leserpost

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Rolf Mainz / 01.11.2019

Haben wir aktuell nicht andere Probleme zu lösen? Vielleicht sogar Themen, die wichtiger sind als Lissabon im Jahre 1755? Oder philosphische Haarspaltereien? Immerhin positiv zu werten, dass Fragen nach Gott derzeit noch gestellt werden dürfen. Um diese Freiheit werden uns unsere Enkel womöglich in gar nicht ferner Zukunft einmal beneiden.

Günter H. Probst / 01.11.2019

Wir nennen Erdbeben Naturkatastrophen, obwohl die Spannungen und Risse,  die durch die Erdplattenverschiebung entstehen, etwas ganz natürliches sind. Vielleicht ist es keine gute menschliche Idee, Wohnhäuser in Erdbebengebieten oder Kernkraftanlagen an Tsunamistränden zu bauen. Geht besser vielleicht ganz ohne Gott.

Jochen Winter / 01.11.2019

Die Frage ist ganz einfach beantwortet: Gott hat damit nichts zu tun! DAs thematische Gottesbild ist unlogisch. Der deistische Glaube dürfte um einiges logischer sein. Ohne Willensfreiheit des Menschen (und so auch der Natur) gäbe es keine Entwicklung. Einige Sprüche hier sind peinlich, besonders wenn man Bonhoeffer zitiert ohne ihn zu verstehen.

Dr. Gerhard Giesemann / 01.11.2019

Dieser 1. November 1755 zeigte: Die Vertreibung aus dem Paradies ist endgültig. Die Nachricht von der Katastrophe im fernen Lissabon breitete sich recht schnell in ganz Europa aus - als viel früher das Inkareich unterging nach einem Vulkanausbruch - 6. Jhdt. - wusste das niemand, selbst die Leute vor Ort sind einfach verschwunden, unter gegangen, ohne weitere Spuren. Womöglich hat die folgende Klimaverschlechterung weltweit dann die Völkerwanderung angefacht, verstärkt, die Antike beendet. Als unsere Kinder so langsam aus dem Sumpf der seligen Dummheit zu erwachen begannen, habe ich ihnen gesagt: Ihr erlebt gerade eure persönliche Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit. Ungläubiges Staunen, gewiss, aber im Laufe der Jahre dämmerte es, muss eben selber was denken, was machen. Da hilft dir kein Gott. Weite Teile der Menschheit sind aus dem Kindheitstraum noch nicht erwacht. Kommt schon noch, dann eben mit Verve.

H.Milde / 01.11.2019

Vor allem wenn etwas “schief läuft” wird oft eine Gottheit angerufen, die durch ihr “Bodenpersonal” expressis verbis mehr oder weniger kluge Ratschläge, oder ganze Bücher erteilt, mindestens aber Schuldige benennt. Natürlich nicht beweisbar!  Macht auch nichts. Ob diese Gottheit, wenn er/sie/es tatsächlich existiert, es wirklich interessieren würde?  Aber für den alltäglichen angewandten Wahnsinn, iS einer Machtsystemerhaltung des og.  selbsterkoerenen “Bodenpersonals” durchaus tauglich. Unter anderem kann damit man/frau/divers Eigenversäumnisse einem Sündebock, wie zb nadersgläubigen wie Juden/Schonlängerhierlebenden ua. ungenehmen Dhimmies, bequem in die Schuhe schieben. Ersatzweise kann man/frau/es auch eine faschistische, egal ob Nazi-, oder sehr wesenensgleichen GrünSozialistsche-Ideologie dazu benutzen. Masel tov.

Ilona Grimm / 01.11.2019

@Dr. Gerhard Giesemann: Mit diesem Zitat haben Sie es sich und Ihren Lesern ein bisschen (oder viel) zu leicht gemacht. Diese Aussage Bonhoeffers ist nur dann richtig zu verstehen, wenn man wesentlicher tiefer schürft. Eine Hilfe dazu: website „Pastorenstückchen“, Suchbegriff: „bonhoeffer einen gott den es gibt gibt es nicht“. Bonhoeffer ist promovierter Theologe gewesen, nicht nur ein frommer Christ.

Heiko Engel / 01.11.2019

Ein Paster fragt ein kleines Mädchen: „ Wenn Du mir sagst WO Gott ist, erhältst Du eine Orange.“ Darauf das kleine Mädchen: „ Wenn Du mir sagen kannst wo Gott NICHT ist, erhältst Du zwei Orangen.“ Aber bitte nicht am Wochenende im CDU - Kirchenkreis diskutieren; schafft nur Verwirrung. Geruhsames Wochenende.

Doris Schmidt / 01.11.2019

Immer wieder lese ich die an Schwachsinn reichende Unsterstellungen, Gott sei bösartig oder eben nur desinteressiert. Allein schon die Frage, warum Gott das Böse zuläßt, läßt mich nur noch kopfschütteln. Wer bestimmt denn hier auf der Erde, wo es langgeht? Sind es nicht wir? Was machen gute, erfahrende Eltern mit ihren Kindern? Halten sie ihnen ständig die Hand vor den Hintern, wenn sie Fehler machen? Oder lassen sie sie vielmehr ihre eigenen, auch eben schlimmen Erfahrungen machen? Wie sollen Kinder lernen, im Leben klar zu kommen? Und Gott ist anders? Er als Schöpfer aller Dinge, eben auch als Schöpfer des Menschen, ist nicht desinteressiert an uns, sondern hat uns den freien Willen gegeben. Und wenn unser freier Wille dazu führt, daß wir Unheil über uns selbst oder andere bringen, dann müssen wir halt mit den Kosequenzen leben. Wer das nicht will, braucht nur die heiligen Schrifen zu lesen. Da steht drin, wie wir leben sollten und wie wir verhindern können, uns selbst und anderen zu schaden.

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