Thilo Schneider / 21.11.2020 / 11:00 / Foto: Pixabay / 48 / Seite ausdrucken

Hauptsache integrativ: Fußball ist „over“

Irgendwie ist mir zu Ohren gekommen, dass irgendeine obskure Mannschaft mit 0:6 ein wohl irgendwie wichtiges Spiel (Fußball?) vergeigt hat. Das ist jetzt für diese Mannschaft zwar sehr schade, aber, offen gesagt, berührt es mich nicht.

Meine erste bewusste Erinnerung an ein Fußballspiel der Deutschen Nationalmannschaft geht zurück ins Jahr 1974, in die legendäre „Regenschlacht von Frankfurt“, als Deutschland Polen mit einem verflucht knappen Ergebnis mit 1:0 schlug und danach in einem ebenso legendären Spiel die Niederlande im Endspiel mit 2:1 besiegte und Weltmeister wurde. Auf den Bolzplätzen des Schtetls damals waren wir alle Müller, Beckenbauer, Maier, Breitner, Bonhof. Und wir waren rasend und wahnsinnig stolz auf die Helden unserer Mannschaft.

Bei der WM 1978 folgte dann die „Schmach von Cordoba“, selbst als 11-Jähriger spürte ich die Empörung und den Ekel, als sich eine völlig unbeteiligt und gelangweilt wirkende Nationalmannschaft sang- und klanglos von den Österreichern einpacken ließ und dann folgerichtig nach Hause fuhr.

Wieder vier Jahre später, 1982: Deutschland und Österreich spielen in Gijon Rasenschach. Wir daheim hätten erwartet, dass es für Cordoba eine Revanche gibt, aber was die Nationalmannschaft da zeigte, war eine Schande für jeden Fußballfreund. Wir hatten zu dieser Zeit einen französischen Austauschschüler da – und der, ebenso glühender Anhänger seiner Nationalmannschaft wie ich meiner, durchlitt mit mir das legendäre Deutschland-Frankreich-Spiel in der „Nacht von Sevilla“, das Deutschland erst im Elfmeterschießen für sich entscheiden konnte. Wir lagen uns beide danach weinend in den Armen – einer vor Glück und einer vor Trauer. Fußballnationalmannschaften brachten da Menschen zusammen. Ich werde das nie, nie, nie vergessen.

Schaulaufen für Werbepartner

1986, schon wieder Mexiko: Eine nicht wirklich schön spielende deutsche Nationalmannschaft rumpelt sich irgendwie schon wieder mit wenig Technik, aber viel Kampfgeist ins Finale und wird erst von Diego Maradona und seinen Teamkollegen in der 84. Minute Weltzweitmeister. Wir hatten dieser Mannschaft nicht viel zugetraut – von daher war das ein Riesen-Erfolg und wir waren trotzdem stolz auf „unsere Jungs“.

Und so können wir WM für WM durchexerzieren. „Deutschland is halt a Turniermannschaft“, wie seit 1966 immer wieder festgestellt. Die spannende WM 1990 und der dritte Titelgewinn, ein glücklicher Beckenbauer auf dem Platz, die gemeinsamen Feiern von Ex-BRD und Ex-DDR, vier Jahre später das ärgerliche Aus gegen die Bulgaren und Effenbergs Heimfahrt nach der Stinkefingeraffäre. 1998 ein nach starker Leistung tragisches Ausscheiden gegen Kroatien, 2002 der Kampf ins Finale in Korea, 2006 schließlich das „Sommermärchen“ mit legendärer klinsmännlicher Kabinenansprache und einem Herzschlagspiel gegen Argentinien (4:2 nach Elfmeterschießen).

2010, Afrika, dritter Platz, mit Herz und Verstand erspielt und schließlich die Weltmeisterschaft 2014, die Krönung der Taktik von Löw und Flick, die Vervollkommnung der deutschen Nationalmannschaft, in der Hauptsache aber im Gedächtnis wegen des 7:1 Sieges gegen den Gastgeber. Ich hatte zwar kein Fähnchen am Auto (ich bin erwachsen), aber ich fieberte mit, wie meine Altersgenossen auch, wir Beckenbauers und Hölzenbeins von 1974. Als hübsches Andenken gab es dann noch „die Mannschaft“ von Sönke Wortmann – und dann?

Dann wurde aus der „deutschen Nationalmannschaft“ nur noch „die Mannschaft“, ein Sportlerverein, der sich im Schaulaufen für seine Werbepartner übt. Kickende Werbeflächen für Auto- und Getränkehersteller, dessen Akteure nicht mit Stolz den „Adler auf der Brust“ tragen, sondern, so Holger Blast (Geschäftsführer Marketing und Vertrieb des DFB), „für integre, offene, transparente und diskriminierungsfreie Vermarktungsprozesse stehen“. Ja, könnt Ihr ja machen, enjoy, nur hat das nichts mehr mit mir zu tun.

Hauptsache integrativ

Fußball ist Leidenschaft, ist Emotion, ist Kampfgeist, ist dreckig, fies und gemein und ungerecht. Fußball kann dem Fan die ganze Woche versauen oder zu einem Höhenflug ganzer Nationen führen. Fußball ist „die Engländer können alles – außer Elfmeter“ und das spöttische „weiße Du noch, die End-Essspiele“ meines italienischen Restaurantbesitzers. Fußball ist politisch inkorrekt, ist Liebe, Freude, Ärger, Trauer, Rivalität, vor allem aber ist es Identifikation. „Tiki-Taka“, „brasilianische Samba“, Diego Maradona, italienische Theatralik, Schwalbe, Fehlentscheidung, Handspiel – und immer auch Ausdruck und Aushängeschild der jeweiligen Kultur eines Landes. Was gibt es Schöneres, als nach einem Spiel gegen England, die mal wieder das Elfmeterschießen vergeigt haben, in der „Sun“ die jammernden Schlagzeilen und kruden Geschichtsvergleiche zu lesen? Auch Wundenlecken gehört zur Tradition.  

Aus, vorbei, „isch over“. Die „Mannschaft“ ist heute integrativ, die Frisuren sitzen gut, „Eier“ sind nicht mehr gefragt, Biss und Rückgrat ebenfalls nicht. Wichtig ist nicht der Sieg, sondern wie nice das insgesamt aussieht, und immerhin gab es in der 53. die halbe Torchance von dem Dingsda, dessen Großeltern irgendwann in den 60ern aus Shitholistan kamen und der glühender Verehrer des dort amtierenden Westentaschendiktators ist. Hauptsache, sein Konterfei animiert auf irgendeiner blöden Schokolade zum Kauf. Wer braucht da schon eine Nationalhymne oder die Landesfarben auf dem Trikot? Das ist eh böse und irgendwie Nazi und rechts. Mindestens.

Deswegen interessiert es mich auch nicht mehr. Möge sich die „Mannschaft“ einfach nur noch in „Schaft“ umbenennen, um keine Frauen und Diverse zu diskriminieren und beliebige Adabeis („Auch-Dabeis“) aufs Feld stellen. Gewinnen, verlieren, egal. Dabei sein ist schließlich alles, gell? Man muss das ja auch mal positiv sehen. „Luxemburg war der erwartet schwere Gegner …“

Weitere Einwürfe des Autoren von der Seitenlinie auch unter www.politticker.de.


Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.    

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Juergen Rott / 22.11.2020

Lieber Herr Schneider, ihre Zusammenfassung spricht mir auch aus dem Herzen. Auch ich bin als “Mueller, Beckenbauer und Sepp Maier (wenn sonst keiner ins Tor ist) aufgewachsen. Bin seit 1976 grosser Bayern Fan und liebe Fussball. Vieles in Ihrem Artikel ist vollkommen richtig und wird ja hier auch von Dutzeneden Leserbriefen so bestaetigt. Trotzdem moechte ich etwas einwerfen, Klar, die deutsche Nationalmannschaft- ich nenn die Jungs jetzt politisch inkorrekt mal so- hat ne Menge Eier verloren. Man muss nur bitte jetzt vorsichtig und fair nach den Gruenden danach suchen. Wenn wir als Nation so rumpelig, inkompetent und nur mit Kraft und Abwehrbeton gespielt haetten wie behauptet wird, waeren wir nicht 4x Weltmeister und was weiss ich wie oft Endrundenteilnehmer geworden. Ebenso ist die Bundesliga einer der besten Profiligen der Welt und das nicht nur wegen auslaendischen Spielern. Nein, in Deutschland sind fantastische Fussballer, Fussballtrainer und Manager am Werke. Unser Nachwuchs System wird von vielen Laendern beneidet. Ich glaube ganz einfach, wenn sich Jogi nach 2014 als Weltmeister verabschiedet haette und wir einen Trainer vom Schlage Klopp, Flick oder auch Christian Streich bekommen haetten, waere vieles anders gelaufen. Natuerlich haben Sie Recht, das unsere Nationalmannschaft zu einer politisch korrekten, umweltfreundlichen, CO2 bereinigten Truppe geworden ist. Aber kann man das den Jungs anhaengen? Deshalb bleiben unsere Spieler zum grossen Teil Weltklasse. Ich fuerchte, das hier gerade etwas passiert, was mit der allgemeinen Frustration in Deutschland zu tun hat. Ich lebe seit vielen Jahren in den USA und sehe die politische und gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands mit grossem Erschrecken aus gewisser Ferne. Der Krebs der alles zerfrisst ist die “political correctness! Unser Land verliert ueberall die “Eier”. In jedem Lebensbereich. Schule, Uni, Industrie, Politik, Medien und leider auch im Sport. Alles wird zerfressen. Das ist das Problem!

Karsten Dörre / 21.11.2020

“Mit dir spiel ich nicht mehr”. “Der da hat mich geärgert.” “Die dort rufen Unanständiges”. “Meine Gefühle wurden verletzt”. “Meine Mutter fehlt mir.” - Dann kommt diese unselige Kampagne, dass Sportler allgemein Vorbild für Weltanschauungen sein sollen. Reicht es nicht Vorbilder des Sports zu sein? Kampf, Duell, Leidenschaft, den Siegern gratulieren, Jubel, Niederlagen aushalten, die Verlierer achten und stärken (aber nicht bemitleiden!). Wenn das der Sport hinbekommt, hat Sport sehr viel für Zivilisation und Gesellschaft getan.

Rainer Hanisch / 21.11.2020

“Multikulti” scheitert eben immer und überall…

Johannes Schumann / 21.11.2020

Mich interessiert das Fußballtheater auch nicht mehr. Früher waren Länderspiele Pflichttermine vor der Glotzkiste, wenn man mal von bestimmten sportlich uninteressanten Freundschaftsspielen (z. B. gegen Rot-China) absieht. Vom Spanienspiel habe ich im Vorfeld gelesen, aber interessiert hat es mich nicht. Joachim Löw hätte sein Amt schon vor vier Jahren ablegen sollen.  Das ist ‘ne charakterlose Truppe, in der Spieler wie Özil und Rüdiger Narrenfreiheit genießen und mit haltlosen Rassismusvorwürfe um sich werfen, und den Rest der Mannschaft runterziehen. Oder dass Löw einen dauerverletzten und fitgespritzten Neuer einem ter Stegen auf höchsten Niveau vorzog, zeugt von ungeheurer Führungsschwäche. Das WM-Aus 2018 war gewiss nicht Neuers Schuld, aber man bedenke die Signalwirkung, auf die anderen Spieler.

Jochen Brühl / 21.11.2020

Bei den nächsten Turnieren gehe ich zu irgend welchen russischen Events und freue mich dann mit, wenn die deutsche Haltungspolitik, die anstatt Fußball geboten wird, auf dem Platz untergeht. Da ist dann wenigstens die Stimmung gut. Bereits bei bei der letzten WM war ich Joggen und hatte alles richtig gemacht.

Gert Köppe / 21.11.2020

Aber Herr Schneider! Müssen wir uns denn schon wieder mit Nebensächlichkeiten beschäftigen? Ja Okay, lästern macht auch ein bisschen Spaß. Muss es denn nun wirklich Jogi’s multikulturelle Rasenball-Tanztruppe sein? Ist doch schon fast Zeitverschwendung. Ein ehemaliger Fußballweltmeister, als das noch so bezeichnet wurde, dient heute praktisch nur noch als Sparringspartner für die Vervollkommnung fußballerischer Fähigkeiten der Mannschaften anderer Nationen. Nicht der Rede wert. Kann man getrost unter “Sonstiges und Diverses” abheften. Akte geschlossen.

Bernd Schreller / 21.11.2020

Grad den ich Fussball Bayern gegen Werder, ja Vereinsfussball schau ich noch gelegentlich. Bandenwerbung: Paulaner 0,0 %. So sieht s aus.

Gabriele H. Schulze / 21.11.2020

Obwohl kein Fußballfan, hab ich doch mitgeträllert - Rummenigge. Rummenigge. Oder: Lothar Matthäääus…ja, isch over.

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