Offenbar gibt es mehrere Arten des Umgangs mit Tötungsverbrechen in Deutschland. Da ist zum einen die Tat in Halle vom 9. Oktober, bei der zwei Menschen starben, zwei weitere verletzt wurden und der Täter von seinem ursprünglichen Ziel, in einer Synagoge großflächig Morde zu begehen, wohl nur durch die Sicherung des Gotteshauses abgehalten wurde. Die großen Medien, die Regierenden und die nicht Regierenden, aber nichtsdestotrotz Regierungstreuen, interessieren sich für den dann gestellten Täter, vor allem aber für dessen Motivation.
Obwohl schnell klar zu sein schien, dass es sich um einen Einzeltäter handelt, dessen Taten außerhalb jeglicher Diskussion stehen, werden Kritiker und politische Gegner in argumentativer Hilflosigkeit (sehr beliebt: „geistige Brandstiftung“) und unter Hinwegsetzung über jegliche demokratische Umgangsnormen beschuldigt, für die Verbrechen verantwortlich zu sein. Bar jeder Faktengrundlage wird eine direkte Linie zu dem menschenverachtenden (ein in letzter Zeit viel zu oft missbrauchter Begriff, der in diesem Fall allerdings angebracht ist), primitiven Gewalttäter gezogen.
Dass durch ständige Wiederholung, auch jenseits jeglichen belastbaren Beweises, vermeintliche Tatsachen oder Zusammenhänge ins allgemeine Gedächtnis einsickern und immer weniger hinterfragt werden, ist bekannt. Vor einem reichlichen Jahr, am frühen Morgen des 26. August 2018, kam es in Chemnitz zu einem Mord, zwei weitere Menschen wurden schwer verletzt. Im Anschluss kam eine andere Art des Umgangs mit Tötungsverbrechen in Deutschland zum Vorschein.
Die großen Medien, die Regierenden und die nicht Regierenden, aber nichtsdestotrotz Regierungstreuen, interessierten sich nicht für den Täter oder dessen Motivation. Die Bestrebungen waren nahezu ausschließlich darauf gerichtet, nachfolgende Unmutsdemonstrationen zu „Hetzjagden“ zu erklären und in argumentativer Hilflosigkeit („#wirsindmehr“) und unter Hinwegsetzung über jegliche demokratische Umgangsnormen Kritiker und politische Gegner für frei erfundene „Ausschreitungen“ verantwortlich zu machen. Der Anlass der Kundgebungen und Demonstrationen – der Mord – wurde nahezu vergessen, die Verletzten sowieso. Bessere Beispiele für Zynismus dürften rar sein.
Letzteres fällt auch in einem aktuellen, Chemnitz-bezüglichen Legendenverfestigungsbeitrag des „Tagesspiegels“ auf. Von dem Toten ist keine Rede. Der Artikel sei hier etwas ausführlicher präsentiert, um zu zeigen, wie politisch genehme Thesen verfestigt werden und am Ende zu „Geschichte“ gerinnen. Da stört es auch nicht weiter, wenn die präsentierte, vermeintlich hilfreiche Quelle die These eigentlich gar nicht stützt. Die Quintessenz des „Tagesspiegel“-Textes stellt sich folgendermaßen dar: Leider existieren keine belastbaren Hinweise, dass es im August 2018 in Chemnitz „Hetzjagden“ gab. Auch in den entsprechenden Äußerungen des nunmehr ehemaligen Präsidenten des „Bundesamtes für Verfassungsschutz“, Hans-Georg Maaßen, ist nichts Falsches feststellbar. Aber mit den Stichworten „BKA-Dokument“, „Druck“ sowie dem Abarbeiten an der Person Maaßens lässt sich das Ganze im Sinne der Lesart der großen Medien, der Regierenden und der nicht Regierenden, aber nichtsdestotrotz Regierungstreuen noch einmal aufkochen – wenn auch etwas bemüht.
Druck auf die Sicherheitsbehörden?
Erkennbares Ziel ist es, ex cathedra verkündete Chemnitzer „Ereignisse“, für die es keine Belege gibt, weiter im Gedächtnis zu verankern und als historische Tatsachen zu verfestigen. Der „Tagesspiegel“ leistet so einen weiteren Beitrag dazu, die offiziell genehme Sichtweise durch Wiederholung in den Rang der Wahrheit zu erheben.
Schauen wir es uns in extenso an. Überschrieben mit Schon kurz nach Vorfällen in Chemnitz lautet die Hauptschlagzeile des Artikels: Maaßen wollte „Hetzjagd“-Begriff früh unterbinden. Weiter, und dann haben wir auch schon den Überschrift/Teaser-Bereich geschafft: Bereits fünf Tage nach der Gewalt in Chemnitz hat der damalige Verfassungsschutz-Chef Druck auf die Sicherheitsbehörden ausgeübt. Dies belegt ein BKA-Dokument.
„Vorfälle“ und „Gewalt“ bezieht sich auf den Mord und die beiden Schwerverletzten, die Anlass für Demonstrationen waren? Tut es nicht. Es geht um die „Hetzjagden“, deren Existenz axiomatisch angenommen wird. Nachweise sind unnötig. Der Leser ist in die richtige Spur gebracht, „Hetzjagden“ also. Und Maaßen übte „Druck“ aus.
Den Tenor der Überschrift aufgreifend, wird noch einmal wiederholt, dass der damalige Verfassungsschutz-Präsident offenbar schon kurz nach den gewalttätigen Chemnitzer Demos vergangenes Jahr in Kreisen von Sicherheitsbehörden darauf hingewirkt habe, die These der Bundesregierung von einer „Hetzjagd“ in Zweifel zu ziehen, was aus einem internen Dokument des Bundeskriminalamts hervorgehe, welches dem „Tagesspiegel“ nun vorliege. Die „gewalttätigen Chemnitzer Demos“ sind damit noch einmal klar im Leser-Hinterkopf festgesetzt worden.
Was genau erfahren wir nun laut „Tagesspiegel“ aus dem „BKA-Dokument“? Am 31. August 2018, fünf Tage nach den Krawallen – die als Tatsache nicht mehr hinterfragt, manchmal allerdings als „Vorfälle“ oder „Gewalt“ bezeichnet werden, siehe oben – gab es eine Telefonkonferenz mit BKA, der Bundespolizei sowie sächsischem Verfassungsschutz und der Länderpolizei. Ein Vertreter des ebenfalls beteiligten BfV habe die Runde ausdrücklich darauf angesprochen, ob „mutmaßliche Hetzjagden“ stattgefunden hätten. Als Antwort präsentiert der „Tagesspiegel“ lediglich Aussagen der Polizeidirektion Chemnitz, eine Ermittlergruppe sei eingerichtet worden und Bild- und Videodokumentationen müssten noch ausgewertet werden. Für die sachliche Unterfütterung der Behauptung, dass es in einer deutschen Großstadt eine knappe Woche zuvor „Hetzjagden“ gegeben haben soll, ist das etwas wenig.
Und wo bitte ist der zu Beginn des Artikels angesprochene „Druck“, den Maaßen ausgeübt haben soll?
Das weiß auch der „Tagesspiegel“ nicht so recht. Daher wird an dieser Stelle nicht fortgesetzt, vielmehr zitiert man die Autorität Angela Merkel, die bereits am 28. August, also vor besagter Telefonkonferenz, verlautbart hatte: „Wir haben Videoaufnahmen, dass es Hetzjagen gab, dass es Zusammenrottungen gab.“ Lassen wir den Umstand beiseite, dass das schöne Wort „Zusammenrottungen“ im Vokabular der DDR-Propaganda große Beliebtheit genoss, so bleibt immer noch offen, wie es der Kanzlerin gelungen sein mag, trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Aufgaben, das Videomaterial schneller auszuwerten als die Chemnitzer Polizeidirektion. Der „Tagesspiegel“ raunt nur: Dem damaligen BfV-Präsidenten schienen diese Feststellungen von Anfang an zu missfallen. Daher habe er am 6. September der „Bild“-Zeitung ein Zitat übermittelt, das Merkels These öffentlich widersprechen sollte: „Es liegen dem Verfassungsschutz keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben.“
Dass die Äußerung von Maaßen den Tatsachen entsprechen könnte (auf der Grundlage von Informationen, über die er als BfV-Präsident verfügte, vielleicht auch aus anderen Quellen als der Telefonkonferenz), scheint außerhalb des Denkbaren zu liegen. Statt sich nun auf – möglicherweise eben doch nicht vorhandene – Belege für die „Hetzjagden“ zu berufen, zeigt der „Tagespiegel“ lediglich und inhaltsleer noch einmal die Fronten auf: AfD-Vertreter würden der Regierung seitdem vorwerfen, die Unwahrheit verbreitet zu haben und Maaßen selbst habe von „Falschinformation“ gesprochen. Die Regierung wiederum habe gesagt, bei „Hetzjagd“ hätte es sich um eine politische Einschätzung gehandelt. Was auch immer das heißen mag.
„Keine semantische Debatte“
Dann kommt der Tagesspiegel“ noch einmal auf das „BKA-Dokument“ zurück, aus dem bislang wenig Neues oder gar Sensationelles zu erfahren war. Bei dem Dokument handelt es sich um eine interne Stellungnahme nach einer parlamentarischen Anfrage des AfD-Abgeordneten Tobias Peterka. Die Angaben zur erwähnten Telefonkonferenz seien demnach nur als „Zusatz für das BMI“ (Bundesinnenministerium) gedacht gewesen. Was der „Tagesspiegel“-Leser mit der letzten Information anfangen soll, ist etwas unklar.
Angesichts der mehrfachen Ankündigung („BKA-Dokument“!) kommt dann nicht einmal eine magere Katze aus dem Sack, sondern erstaunlicherweise sogar eher Futter für böse Rechtspopulisten: In der vorgeschlagenen Antwort auf Peterkas Frage, ob die Regierung an ihrer Einschätzung weiter festhalte, machte die Polizeibehörde allerdings ebenfalls Zweifel deutlich. Umgangssprachlich sei mit „Hetzjagd“ das Verfolgen oder Jagen eines Menschen beschrieben. Ein „derartiges Agieren“ werde im Zusammenhang mit Straftaten als politisch motivierte Kriminalität an das BKA gemeldet. Solche Straftaten mit „Tatort Chemnitz“ seien bisher keine verzeichnet.
Hat das jetzt vielleicht etwas mit Maaßens „Druck“ zu tun? Wo ist Substanzielles zur Bekräftigung der „Hetzjagd“-These? Widerspricht das nicht der Diktion des Artikels? Die Fragen bleiben im Raum. Weiter heißt es nur, Regierungssprecher Steffen Seibert habe von dieser Stellungnahme nichts in seine regierungsamtliche Antwort vom 10. September auf Peterkas Frage übernommen. Seltsam, oder? Er (Seibert) bekräftigte lediglich zuvor getroffene Aussagen, wonach er „keine semantische Debatte über ein Wort führen“ werde. Dass der „Tagesspiegel“ Seibert und die eben nicht vorhandene Informationsbasis, auf der die Bundesregierung zu ihrer Einschätzung gekommen war, noch einmal vorführt, scheint ihm nicht so recht bewusst zu sein.
Wieso „Maaßens Front“?
Es folgt die Herstellung eines Zusammenhangs, die den meisten Lesern bekannt und zumindest hinterfragbar sein dürfte: Maaßens Front gegen Merkel brachte die Koalition in eine Krise. Wieso „Maaßens Front“? Vielleicht doch eher voreilig geäußerte und politisch genehme Wunschvorstellungen, die bis heute auf Chemnitz lasten?
Am Ende erfährt der Leser auch noch einmal, was der Maaßen für einer ist. Von teilweise „linksradikalen Kräften in der SPD“ habe er später gesprochen, woraufhin er in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden sei. Zudem – und das hat mit Chemnitz nun wirklich gar nichts mehr zu tun, das ist ganz neu – sei bekannt geworden, dass der ehemalige Verfassungsschutz-Präsident in einer Anwaltskanzlei tätig werde, die kürzlich erst die AfD in ihrer erfolgreichen Klage gegen Maaßens frühere Kollegen vom BfV vertreten habe. Das BfV hatte die AfD rechtswidrig als „Prüffall“ eingestuft. Das ist der letzte Satz des Artikels. Gut, dass wir noch einmal daran erinnert werden. Auch wenn „rechtswidrig“ dasteht, etwas bleibt immer hängen.
Dass das alles so furchtbar leicht durchschaubar, nahezu plump daherkommt, dürfte der intendierten Wirkung des „Tagesspiegel“-Artikels – und vieler anderer ähnlicher Unterfangen – nur bedingt Abbruch tun. Mussten für Chemnitz die „Hetzjagden“ erfunden werden, um einen politisch gewünschten Effekt zu erreichen, so ist das Verbrechen von Halle real – und bietet zwar keine wirklichen Anknüpfungspunkte, wird aber hemmungslos genutzt, um missliebige Personen und politische Strömungen zu diffamieren (etwa hier oder hier). Es steht zu erwarten, dass die konstruierten Zusammenhänge bald ebenso Eingang ins allgemeine Gedächtnis und die Geschichtsschreibung finden wie die „Hetzjagden“.