Erik Lommatzsch, Gastautor / 17.01.2024 / 14:00 / Foto: Pixabay / 8 / Seite ausdrucken

„Habe Mut“

In einer Zeit, in der der Pessimist nur schwer vom Realisten zu unterscheiden ist und einen die Masse der deprimierenden Nachrichten fast erschlägt, suchen viele etwas mehr Klarsicht und vielleicht sogar eine kleine Ermutigung. Wo gibt es das noch?

Am heutigen 17. Januar kann der Schriftsteller – oder, wie den Klappentexten zu entnehmen ist, auch gern differenzierter „Lyriker, Erzähler und Essayist“ – Jörg Bernig seinen 60. Geburtstag feiern. Im Frühjahr 2023 erschien sein großer, wenn auch über weite Strecken wenig stimmungsförderlicher Roman „Eschenhaus“. MfS-lastig ist er, vor allem aber, leicht in die Zukunft verlagert, treffend-zeitdiagnostisch und damit, wie kann es anders sein, dystopisch. Zumindest überrascht und erfreut Bernig mit einem optimistischen Schlusspassus, an dessen Wahrwerdung man so gern glauben würde.

Pünktlich zum Wiegenfest ist nun eine Sammlung mit Texten Bernigs erschienen, die seit 2002 verfasst wurden. Sozusagen ein Präsent des Jubilars an den Leser. „Habe Mut“, so die Aufforderung im Titel des Bandes, der dazu eine Reihe von „Begleitschreiben“ liefert – „Begleitschreiben“ zur jeweiligen, zu unserer Zeit, viel Persönliches ist dabei, auch Gedichte. Oder ein Ausflug nach Wales und ein wenig Sachsen-Patriotismus, aber das sind eher die Ornamente. Vor allem ist Deutschland im Blick, mal im weiteren, öfter im engeren Sinne. Und die wenig erfreulichen Veränderungen. Dichter werden die zeitlichen Abstände, je mehr sich das Geschriebene der Gegenwart nähern.

Da sind knapp zwanzig Jahre alte Texte, die daran erinnern, dass wir tatsächlich einmal in einem anderen Land gelebt haben. Etwa, wenn Bernig seinerzeit auf die „innergesellschaftliche Reorganisation“ nach den Zusammenbrüchen von 1989/90 blickte und meinte, jetzt könne „Politik wieder Politik und Literatur wieder Literatur sein. Die Literatur verliert dabei etliches von ihrem unter diktatorischen Verhältnissen gewachsenen, lebenserhaltend gegenweltlichen Charakter.“ Inzwischen kann sich die Literatur dieser Aufgabe getrost wieder annähern. In einer Erinnerung an Bernigs Studienzeit in der DDR, in der vieles über eine inzwischen versunkene Leipziger Kneipenwelt zu erfahren ist, heißt es, es sei „kurios“ gewesen, dass dem besten Studenten der Seminargruppe das Leistungsstipendium gekürzt werden sollte, „weil seine gesellschaftliche Einstellung nicht richtig war. Dies entsprang der Initiative einer Kommilitonin, die ihre Parteigruppe einschaltete. Wie soll man das heute noch jemandem erklären?“ Das mag im Jahr 2005, als der Text entstanden ist, problematisch gewesen sein, heute würden ähnlich gelagerte Vorgänge kaum jemanden verwundern.

„Wir glaubten, wir hätten das hinter uns gelassen“

Bernig war der Meinung, das Ganze sei überstanden – „die offenen und die versteckten Drohungen, die Einschüchterungen, die Anfeindungen, die Verleumdungen, die Lügen und auch die Denunziationen. Wir glaubten, wir hätten das hinter uns gelassen mit jenem großen Leipziger Schritt ins Freie am 9. Oktober 1989.“

Die – offene – Frage über die „Selbstvergewisserung der Deutschen über ihr Woher und Wohin“ wird nicht nur in einer Betrachtung über den Dichter Hanns Cibulka angeschnitten. Das Unbehagen des Romantikers Eichendorff an der Beschleunigung der Welt, seine Versuche, sich gegen „Entzauberung und Profanierung“ zu wenden sind ebenso Denk-Ansatzpunkte für die Gegenwart wie die Vanitas-Ode des Barockdichters Andreas Gryphius, die Bernig der Allbeherrschbarkeits- und Weltrettungshybris unsrer Tage entgegenstellt. Victor Klemperer, seinem Werk „LTI“, der Bedeutung des Buches für die Kritiker der Zustände in der DDR – wo es seltsamerweise erhältlich war – ist ein längerer Beitrag gewidmet, der auch über Möglichkeiten und Grenzen von Sprache reflektiert. Stimmen von DDR-Regimegegnern zu „LTI“ werden versammelt – und es gibt kritische Verweise auf die oft übergangene Tatsache, dass sich Klemperer in der zweiten deutschen Diktatur als dekorierter Funktionär gut eingerichtet hatte, nicht ohne das Theater zu durchschauen, aber das tat er eher für sich und glaubte auch, nun auf der richtigen, der guten Seite zu stehen.

Die Notwendigkeit von freiem, grenz- und lagerüberschreitendem Denken, von Streitbarkeit hat Bernig früh angemahnt. Und er verwies auf die sich heute noch stärker als Konfliktlinie zeigenden Ost-West-Unterschiede. 2008 schrieb er vom „Zusammenprall einer altbundesrepublikanisch geprägten, ideologisierten Medien- und Parteiendemokratie mit einer ostdeutschen Aufmüpfigkeit, die sich aus der großen antitotalitären Leistung von 1989 speist.“

Fast unvermindert aktuell ist Bernigs Text „Zorn“, abgelehnt von der „Frankfurter Allgemeinen“, schließlich „nach langem Zögern und Zaudern“ kurz vor Weihnachten 2015 von der „Sächsischen Zeitung“ veröffentlicht. Die Probleme der unkontrollierten Massenzuwanderung werden aufs Tableau gehoben, die Stigmatisierungen der Kritiker als „rassistisch“ und das Bagatellisieren von Kriminalität. Bernig beklagt die „Unkenntnis der Komplexität von Kultur, einschließlich nicht zu verleugnender kultureller Gegensätze, von der ökonomischen Fixierung“ sei alles dominiert worden. Ein Argument, das zur Entstehungszeit des Textes tatsächlich die öffentliche Debatte beherrschte („Fachkräfte“) und für viele alles andere beiseite schob – inzwischen hört man kaum noch etwas davon, dass die Zuwanderung wirtschaftlich von Nutzen sein soll. Im Gegenteil. Kulturelles Unverständnis und ignorante Naivität oder absichtsvolles Wegsehen sind ungebrochen.

Unter dem Titel „Habe Mut“ (dem Motto, das auch zum Titel des Bandes wurde) hielt Bernig im September 2016 seine Kamenzer Rede. Ausgehend von der Anleihe bei Kant aus dessen Formulierungen über die Aufklärung, nimmt Bernig ausführlich Stellung zu „alternativloser“ Politik, der Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, zu „Abweichungshaß und Denunziationsbereitschaft, dem Griff nach dem Ganzen, dem Totalen“, deutschen Überlegenheitsphantasien, Unterwerfungsgesten – vor dem Hintergrund des beherrschenden Einwanderungsproblems. Im Abschnitt Bundesrepublik oder Deutschland? Heißt es: „Mit dem Beharren auf ‚Deutschland‘ als Unterschied zur alten Bundesrepublik scheint ein Identitätsangebot aus dem Osten zu kommen, das eine als Mulitkulturalität getarnte Neuköllnisierung der Städte nicht vorsieht.“ 

Ernüchterung und Trost

Die Rede schlug seinerzeit hohe Wellen, der MDR verschleppte eine Ausstrahlung und hätte sie gern durch eine „Diskussion“ ersetzt, Bernig wurde reichlich angegriffen. Ebenso wie nach seiner regulär erfolgten Wahl zum Kulturamtsleiter der Stadt Radebeul im Mai 2020. Die Wahl wurde annulliert, einer weiteren Wahl sollte er sich stellen, was er verweigerte, denn das hätte bedeutet, „ideologische Handlungsweisen als Teil der Normalität anzuerkennen und zu rechtfertigen“, wie es im Text „Was zu sagen ist“ heißt.

Besser wird es nicht. Physische Gewalt gegen politisch Unliebsame, die der Meinung sind, es gebe neben den eifrig-regierungsfreundlichen noch die eine oder andere Stimme im Land, ist mittlerweile keine Seltenheit mehr, stellvertretend finden sich zwei Beiträge Bernigs zum Anschlag auf das Buchhaus Loschwitz im April 2021. Er schließt mit der Mahnung: „Unser aller Freiheit ist gemeint.“

Im letzten, 2023 verfassten Text, wird konstatiert: „Wir leben nun schon seit geraumer Zeit in einer Jagdgesellschaft. Es wird Jagd gemacht auf Andersdenkende, auf Abweichler, auf ‚Umstrittene‘. Am Ende bleibt der Weg nach innen… Das ist Ernüchterung. Das ist Trost.“ 

Pessimismus gibt es bei Bernig also reichlich, allerdings noch viel mehr Klarsicht. Und wunderschöne Worte wie Buntomanen oder Fortschrittskraftzersetzung. Und wie heißt der Band doch gleich nochmal? „Habe Mut“.

Jörg Bernig, Habe Mut. Begleitschreiben, Dresden: edition buchhaus loschwitz 2024, 212 Seiten. Bestellt werden kann das Buch hier.

 

Dr. Erik Lommatzsch ist Historiker und lebt in Leipzig.

 

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Leserpost

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Sam Lowry / 17.01.2024

“Dichter werden die zeitlichen Abstände, je mehr sich das Geschriebene der Gegenwart nähern.” Muss man diesen Satz verstehen?

Sam Lowry / 17.01.2024

Das Wichtigste ist, den selbsternannten Gutmenschen einen Grund zu geben, gut zu sein… nur dann fühlen sie sich wohl. In ihrer geistigen Umnachtung…

Sam Lowry / 17.01.2024

War es nicht der 9. NOVEMBER 1989???

Lutz Liebezeit / 17.01.2024

Wir glaubten, wir hätten das hinter uns gelassen .. Gleich nach der Wende sind wir über den Tisch gezogen worden. Das ist dokumentiert. Auf Grundlage des GGs war nur ein Anschluß an die BRD möglich. “Wiedervereinigung” ist schon ein böse irreführender Begriff. Und etwas anderem konnte der Westdeutsche auch kaum zustimmen. Womöglich hatte auch Lafontaine Recht damit, nichts zu überstürzen und erstmal die 2 Staaten-Lösung (geil, oder?) zuzulassen. Die Umbruchstimmung ist von der Bande genutzt worden, uns über den Tisch zu ziehen. Umbrüche sind gefährlich und wecken Begehrlichkeiten bei denen, die sich für unersetzlich halten. Und so war es gekommen. Wir wollten ja nicht weg aus der BRD. Woher wir kommen, und wo wir gestrandet sind, das ist Himmel und Hölle. Irgendwas hat man den Deutschen in den Tee gekippt, anders kann ich mir das nicht erklären.

Jürgen Müller / 17.01.2024

Bernigs Kamenzer Rede 2016 wurde seinerzeit noch bei MDR Kultur gesendet. Heute schwer vorstellbar.

Mathias Rudek / 17.01.2024

Erinnern wir uns an die signifikanten Worte von Bärbel Bohley und dann wissen wir bescheid.

Thomas Szabó / 17.01.2024

Ich habe eben einen neuen Begriff erfunden: antifaschistischer Reflex. Ein pawlowscher Reflex mit “antifaschistischer” Motivation. Dazu gehören auch alle anderen anti-irgendwas-Reflexe wie Antirassismus. Man sagt ein falsches Wort wie “Black ist beautiful.” und der Reflex setzt ein: “Du reduzierst sie auf ihre Hautfarbe! Das ist rassistisch & sexistisch & kolonialistisch!”

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