Ein Erlebnisbericht von einem humanitären Transport von Berlin ins ukrainische Lviv – ohne Übernachtung in 36 Stunden.
Am Sonntagabend rief mich ein Freund an, der ein Krankenhaus in Berlin leitet, und fragte, ob ich bereit wäre, an seiner Stelle als Fahrer einen Transport medizinischer Güter nach Lemberg (Lviv) in der Ukraine zu bringen. Ich hatte bereits vorher Interesse gezeigt, nun musste schnell entschieden werden. Meine Frau konnte mich für die gute Sache entbehren, mein Arbeitgeber war ebenfalls bereit, mir so kurzfristig zwei Tage Urlaub zuzugestehen, und am Montagmittag war alles geregelt. Ein Rucksack mit Proviant und einer Zahnbürste reichten aus, denn wir würden nicht mal dort übernachten.
Am Montagabend laden mich die anderen beiden Fahrer, Jonas und Justus, zwei Studenten aus Göttingen, bei mir zu Hause auf und los geht es in die Nacht. Jonas war vor zwei Wochen schon einmal bei einem solchen Transport dabei und übernimmt deshalb die Leitung. Der Minibus (VW-Transporter), aus dem die Rücksitze bis auf einen entfernt wurden, ist bis unter das Dach vollgeladen mit Kartons voller Medizin, Verbandsmaterial, Erste-Hilfe-Päckchen, Windeln etc., sowie einem neuen Ultraschallgerät. Schlafen kann man nicht, nur etwas dösen bis zum Fahreinsatz. Über Breslau, Kattowitz und Krakau geht es erst nach Rzeszow in Südostpolen, wo uns eine ukrainische Frau in den frühen Morgenstunden noch zwei Essenspakete für ihren ältesten Sohn mitgibt, der in Lemberg wohnt und demnächst in den Krieg zieht.
Anderthalb Stunden später erreichen wir die Grenze zur Ukraine, eine richtige Grenze mit Schlagbäumen, Kontrollen auf beiden Seiten und längeren Wartezeiten. Neben und hinter uns sind auch andere Fahrzeuge mit Hilfsgütern aus Polen, Deutschland und Österreich. Als wir in die Ukraine einfahren, fängt es gerade zu dämmern an. Es mutet seltsam an, in einem Land im Kriegszustand zu sein, im Europa des Jahres 2022. Zahlreiche Plakate, die zum Militäreinsatz aufrufen, ab und zu ein Kontrollpunkt und Panzersperren neben der Straße sehen wir. Die kleinen Dörfer machen einen ärmlichen Eindruck, aber die Kirchen, östliche Kuppelkirchen mit goldenen Dächern, sind herausgeputzt und die sichtbaren Zeichen des Glaubens. Kleine Schreine und Steinkreuze, fallen einem auf, wenn man aus dem völlig säkularen Berlin kommt.
Der Krieg scheint hier noch weit weg
Gegen halb sieben kommen wir in Lemberg an und suchen das katholische Sheptytsky-Krankenhaus, in dem die Ladung abgegeben werden soll. Abgesehen von einigen Sandsäcken hier und da und vielleicht mehr Soldaten als sonst, sieht alles recht normal aus. Der Krieg scheint hier noch weit weg. Allerdings gab es bereits einen Raketenangriff auf einen militärischen Flughafen in der Umgebung.
Am Krankenhaus angekommen, werden wir freudig begrüßt von einer blonden Dame mittleren Alters und bekommen erst mal Kaffee und Marmeladenbrote als Stärkung. Die Kommunikation ist schwierig, keinerlei Russisch oder Ukrainisch auf unserer Seite, etwas Französisch bei ihr, aber eine junge Frau hilft mit Deutsch. Der Leiter des Krankenhauses, Pater Andriy Lohin, mit Brille und kurzen grauen Haaren, heißt uns darauf willkommen und fragt uns in perfektem Deutsch nach unserem Hintergrund, bevor wir mit anderem Personal den Transporter entladen. Anscheinend wird das meiste von dem, was wir gebracht haben, von Lemberg aus ins ganze Land verteilt: dorthin, wo die Front ist. Lemberg ist zurzeit die einzige Großstadt, die nicht belagert wird oder in unmittelbarer Nähe des Kampfgebietes liegt.
Nach einem deftigen Frühstück im Speisesaal machen wir uns auf zu einer kurzen Besichtigungsrunde. Die prächtige katholische Barockkathedrale St. Georg steht gleich neben dem Krankenhaus. Welch eine Barbarei wäre es, würde diese schöne Kirche zerstört oder beschädigt. Und doch passiert genau das in anderen Teilen des Landes. Für eine richtige Stadtbesichtigung ist keine Zeit. Wir müssen mit dem zweiten Teil unserer Mission beginnen, der Mitnahme von Flüchtlingen. Zuerst fahren wir aber zu dem jungen Mann, für den wir die Essenspakete mitgenommen hatten. Er und sein Vater wohnen in einem der hier sehr häufigen grauen Beton-Mietshäusern aus der Zeit der Sowjetunion.
Ohne Pause zurück nach Berlin
Pavel, der junge Mann, zeigt uns seine militärische Ausrüstung, einen Helm und eine Schutzweste der Bundeswehr und ein leichtes, zusammenklappbares Gewehr. Er wirkt nicht wie ein typischer Soldat, eher wie ein schüchterner Mensch, der sein Geld mit dem Herstellen von Modellen und Gürtelschnallen aus dem 3D-Drucker verdient. Er nimmt seinen bevorstehenden Einsatz stoisch hin. Sein Vater, der wie Sokrates aussieht und barfuß und im Bademantel herumläuft, brät uns ein Schnitzel in seiner kleinen Küche und macht uns einen frischgepressten Orangensaft, genau das Richtige nach der langen Fahrt.
Justus ist total übermüdet und nimmt das Angebot, sich hier auszuruhen, an; Jonas, ich und Pavel, der als Übersetzer fungiert, fahren weiter, kreuz und quer durch Lemberg, zu einer heruntergekommenen Wohnung mit zugezogenen Gardinen und dem Gestank von Zigaretten. Hier wohnen ein alter, bettlägeriger und teils gelähmter Mann und ein junges Pärchen. Letztere scheinen hier im Tausch dafür zu wohnen, dass sie den Mann notdürftig versorgen. Er möchte nun aber lieber zu seiner Tochter, die in Hannover lebt, und wir tragen ihn viele Treppen hinunter bis zum Auto, in dem er sich auf einem Behelfsbett einrichten kann.
Dann fahren wir weiter zum Bahnhof, einem unglaublich großen und prächtigen Gebäude, 1904 im Stil des Historismus erbaut, als Lemberg noch Teil von Österreich-Ungarn war. Auf dem Bahnhofsvorplatz stehen etliche Zelte von Hilfsorganisationen. Flüchtlinge mit Koffern und Reisetaschen strömen aus dem Bahnhof, werden hier registriert, bekommen etwas zu essen und einen Transport organisiert. Wir bieten bei einem Zelt des Roten Kreuzes unsere Hilfe an, und man vermittelt uns eine junge Frau mit ihren zwei Jungs im Alter von sieben und neun Jahren. Sie spricht ein paar Brocken Englisch, ansonsten hilft das Übersetzungsprogramm ihres Handys. Wir bringen Pavel zu seinem Vater zurück und holen Justus wieder ab. Zu siebt und mit Gepäck geht es nun los, es ist sehr eng und unbequem.
An der Grenze gibt es lange Schlangen. Zwar kommen wir als humanitärer Transport schneller durch. Aber es dauert trotzdem über drei Stunden, weil der Fahrzeugschein im Original fehlt und der Pass des alten Mannes abgelaufen ist. Nach einigem Hin und Her geht es dann weiter. In Rzeszow halten wir noch einmal. Pavels Mutter, Bruder und offenbar die Großmutter wollen auch noch mit, aber das geht beim besten Willen nicht und etwas verärgert geben sie uns nur ihr Gepäck. Sie selbst werden demnächst mit dem Zug kommen. In Breslau steigt die junge Frau mit ihren Kindern aus, denn sie möchte hier zu einer Freundin, um sich bei ihr ein paar Tage zu erholen. Wir wechseln uns ab und fahren ohne Pause durch. Um acht Uhr morgens, nach genau 36 Stunden, sind wir wieder in Berlin.
Im Bild von links nach rechts: Pater Andriy Lohin und die drei deutschen Fahrer des Hilfstransportes Justus Bryzgalski, Jonas Sauer und der Autor Sebastian Biehl.
Spendenmöglichkeit für das Krankenhaus in Lemberg:
Förderkreis Dominikus Krankenhaus e.V.
IBAN: DE05 1002 0500 0003 1418 00
BIC: BFSWDE33BER
Verwendungszweck: Unterstützung Krankenhaus Lemberg (bitte unbedingt angeben!)