Sebastian Biehl, Gastautor / 23.03.2022 / 06:00 / 72 / Seite ausdrucken

Ein Hilfs-Ausflug nach Lemberg

Ein Erlebnisbericht von einem humanitären Transport von Berlin ins ukrainische Lviv – ohne Übernachtung in 36 Stunden.

Am Sonntagabend rief mich ein Freund an, der ein Krankenhaus in Berlin leitet, und fragte, ob ich bereit wäre, an seiner Stelle als Fahrer einen Transport medizinischer Güter nach Lemberg (Lviv) in der Ukraine zu bringen. Ich hatte bereits vorher Interesse gezeigt, nun musste schnell entschieden werden. Meine Frau konnte mich für die gute Sache entbehren, mein Arbeitgeber war ebenfalls bereit, mir so kurzfristig zwei Tage Urlaub zuzugestehen, und am Montagmittag war alles geregelt. Ein Rucksack mit Proviant und einer Zahnbürste reichten aus, denn wir würden nicht mal dort übernachten.

Am Montagabend laden mich die anderen beiden Fahrer, Jonas und Justus, zwei Studenten aus Göttingen, bei mir zu Hause auf und los geht es in die Nacht. Jonas war vor zwei Wochen schon einmal bei einem solchen Transport dabei und übernimmt deshalb die Leitung. Der Minibus (VW-Transporter), aus dem die Rücksitze bis auf einen entfernt wurden, ist bis unter das Dach vollgeladen mit Kartons voller Medizin, Verbandsmaterial, Erste-Hilfe-Päckchen, Windeln etc., sowie einem neuen Ultraschallgerät. Schlafen kann man nicht, nur etwas dösen bis zum Fahreinsatz. Über Breslau, Kattowitz und Krakau geht es erst nach Rzeszow in Südostpolen, wo uns eine ukrainische Frau in den frühen Morgenstunden noch zwei Essenspakete für ihren ältesten Sohn mitgibt, der in Lemberg wohnt und demnächst in den Krieg zieht.

Anderthalb Stunden später erreichen wir die Grenze zur Ukraine, eine richtige Grenze mit Schlagbäumen, Kontrollen auf beiden Seiten und längeren Wartezeiten. Neben und hinter uns sind auch andere Fahrzeuge mit Hilfsgütern aus Polen, Deutschland und Österreich. Als wir in die Ukraine einfahren, fängt es gerade zu dämmern an. Es mutet seltsam an, in einem Land im Kriegszustand zu sein, im Europa des Jahres 2022. Zahlreiche Plakate, die zum Militäreinsatz aufrufen, ab und zu ein Kontrollpunkt und Panzersperren neben der Straße sehen wir. Die kleinen Dörfer machen einen ärmlichen Eindruck, aber die Kirchen, östliche Kuppelkirchen mit goldenen Dächern, sind herausgeputzt und die sichtbaren Zeichen des Glaubens. Kleine Schreine und Steinkreuze, fallen einem auf, wenn man aus dem völlig säkularen Berlin kommt.

Der Krieg scheint hier noch weit weg

Gegen halb sieben kommen wir in Lemberg an und suchen das katholische Sheptytsky-Krankenhaus, in dem die Ladung abgegeben werden soll. Abgesehen von einigen Sandsäcken hier und da und vielleicht mehr Soldaten als sonst, sieht alles recht normal aus. Der Krieg scheint hier noch weit weg. Allerdings gab es bereits einen Raketenangriff auf einen militärischen Flughafen in der Umgebung.

Am Krankenhaus angekommen, werden wir freudig begrüßt von einer blonden Dame mittleren Alters und bekommen erst mal Kaffee und Marmeladenbrote als Stärkung. Die Kommunikation ist schwierig, keinerlei Russisch oder Ukrainisch auf unserer Seite, etwas Französisch bei ihr, aber eine junge Frau hilft mit Deutsch. Der Leiter des Krankenhauses, Pater Andriy Lohin, mit Brille und kurzen grauen Haaren, heißt uns darauf willkommen und fragt uns in perfektem Deutsch nach unserem Hintergrund, bevor wir mit anderem Personal den Transporter entladen. Anscheinend wird das meiste von dem, was wir gebracht haben, von Lemberg aus ins ganze Land verteilt: dorthin, wo die Front ist. Lemberg ist zurzeit die einzige Großstadt, die nicht belagert wird oder in unmittelbarer Nähe des Kampfgebietes liegt.

Nach einem deftigen Frühstück im Speisesaal machen wir uns auf zu einer kurzen Besichtigungsrunde. Die prächtige katholische Barockkathedrale St. Georg steht gleich neben dem Krankenhaus. Welch eine Barbarei wäre es, würde diese schöne Kirche zerstört oder beschädigt. Und doch passiert genau das in anderen Teilen des Landes. Für eine richtige Stadtbesichtigung ist keine Zeit. Wir müssen mit dem zweiten Teil unserer Mission beginnen, der Mitnahme von Flüchtlingen. Zuerst fahren wir aber zu dem jungen Mann, für den wir die Essenspakete mitgenommen hatten. Er und sein Vater wohnen in einem der hier sehr häufigen grauen Beton-Mietshäusern aus der Zeit der Sowjetunion.

Ohne Pause zurück nach Berlin

Pavel, der junge Mann, zeigt uns seine militärische Ausrüstung, einen Helm und eine Schutzweste der Bundeswehr und ein leichtes, zusammenklappbares Gewehr. Er wirkt nicht wie ein typischer Soldat, eher wie ein schüchterner Mensch, der sein Geld mit dem Herstellen von Modellen und Gürtelschnallen aus dem 3D-Drucker verdient. Er nimmt seinen bevorstehenden Einsatz stoisch hin. Sein Vater, der wie Sokrates aussieht und barfuß und im Bademantel herumläuft, brät uns ein Schnitzel in seiner kleinen Küche und macht uns einen frischgepressten Orangensaft, genau das Richtige nach der langen Fahrt.

Justus ist total übermüdet und nimmt das Angebot, sich hier auszuruhen, an; Jonas, ich und Pavel, der als Übersetzer fungiert, fahren weiter, kreuz und quer durch Lemberg, zu einer heruntergekommenen Wohnung mit zugezogenen Gardinen und dem Gestank von Zigaretten. Hier wohnen ein alter, bettlägeriger und teils gelähmter Mann und ein junges Pärchen. Letztere scheinen hier im Tausch dafür zu wohnen, dass sie den Mann notdürftig versorgen. Er möchte nun aber lieber zu seiner Tochter, die in Hannover lebt, und wir tragen ihn viele Treppen hinunter bis zum Auto, in dem er sich auf einem Behelfsbett einrichten kann.

Dann fahren wir weiter zum Bahnhof, einem unglaublich großen und prächtigen Gebäude, 1904 im Stil des Historismus erbaut, als Lemberg noch Teil von Österreich-Ungarn war. Auf dem Bahnhofsvorplatz stehen etliche Zelte von Hilfsorganisationen. Flüchtlinge mit Koffern und Reisetaschen strömen aus dem Bahnhof, werden hier registriert, bekommen etwas zu essen und einen Transport organisiert. Wir bieten bei einem Zelt des Roten Kreuzes unsere Hilfe an, und man vermittelt uns eine junge Frau mit ihren zwei Jungs im Alter von sieben und neun Jahren. Sie spricht ein paar Brocken Englisch, ansonsten hilft das Übersetzungsprogramm ihres Handys. Wir bringen Pavel zu seinem Vater zurück und holen Justus wieder ab. Zu siebt und mit Gepäck geht es nun los, es ist sehr eng und unbequem.

An der Grenze gibt es lange Schlangen. Zwar kommen wir als humanitärer Transport schneller durch. Aber es dauert trotzdem über drei Stunden, weil der Fahrzeugschein im Original fehlt und der Pass des alten Mannes abgelaufen ist. Nach einigem Hin und Her geht es dann weiter. In Rzeszow halten wir noch einmal. Pavels Mutter, Bruder und offenbar die Großmutter wollen auch noch mit, aber das geht beim besten Willen nicht und etwas verärgert geben sie uns nur ihr Gepäck. Sie selbst werden demnächst mit dem Zug kommen. In Breslau steigt die junge Frau mit ihren Kindern aus, denn sie möchte hier zu einer Freundin, um sich bei ihr ein paar Tage zu erholen. Wir wechseln uns ab und fahren ohne Pause durch. Um acht Uhr morgens, nach genau 36 Stunden, sind wir wieder in Berlin.

Im Bild von links nach rechts: Pater Andriy Lohin und die drei deutschen Fahrer des Hilfstransportes Justus Bryzgalski, Jonas Sauer und der Autor Sebastian Biehl.

Spendenmöglichkeit für das Krankenhaus in Lemberg:
Förderkreis Dominikus Krankenhaus e.V.
IBAN: DE05 1002 0500 0003 1418 00
BIC: BFSWDE33BER
Verwendungszweck: Unterstützung Krankenhaus Lemberg (bitte unbedingt angeben!)

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Claudius Pappe / 23.03.2022

Politiker haben versagt ( oder auch nicht, denn genauso wie sie es wollten, tritt es nun ein ) und der kleine Mann versucht zu helfen. Ach ja Ahrtal- Frau Spiegel wurde für ihr Versagen noch belohnt-auch vom Wähler….................. Warum denke ich immer an den Jugoslawien Krieg ?

Gerd Helmer / 23.03.2022

@Christian Feider…Sie stellen ein wichtige Frage, die in den Medien nicht auftaucht. Die Leitmedien sprechen lieber von der Integration der Ukrainer in den hiesigen Arbeitsmarkt, als wäre es eine großangelegte Aktion zum Auffüllen der Arbeitskraftreserven. Die dümmlichen Gewerkschaften bemerken gar nicht den dämpfenden Langzeiteffekt auf Lohnforderungen zum Inflationsausgleich. Was für eine Gedankenwelt wird da importiert? Genau weiß es niemand. Es dürfte recht nationalistisch und natürlich anti-russisch sein. Der ukrainische Botschafter „erhöht den Druck auf die Bundesregierung“ laut Spiegel. Wie kann er das machen als Vertreter eines daniederliegenden Landes? Israelische Zeitungen gehen wie wohl die dortigen Regierungsspitzen auf Distanz zum teils massiven Auftreten von Selenski. Das kleine Österreich will ihm keine Bühne vor dem Parlament bieten mit seinen oft makabren „historischen“ Bezügen.  Nach 2015 mit all den Verwerfungen in der deutschen Gesellschaft kommen nun Massen von Ukrainern. Die Langzeitfolgen sind völlig unklar. Wo bleiben Maß und Mitte in Ampelzeiten?

Franz Klar / 23.03.2022

Artikel wie dieser , die Empathie mit angegriffenen Menschen zeigen , kommen hier in der Kremlunity nicht gut an . Die zynischen Kommentare beweisen es ...

T.Weidner / 23.03.2022

Werte AchGut-Redaktion: Was ich wirklich zum Kotzen finde - ist die Tatsache, dass jetzt nach Putins Einmarsch in die Ukraine sich jeder im Mitleid, in der Hilfe und in der Aufmerksamkeitsmachung für die Ukrainer überschlägt.__ Das Leiden der russisch-stämmigen Minderheit unter dem Staatsterror der ukrainischen Marionettenregierung und der ihr zuarbeitenden paramilitärischen Nazi-Organisationen während der letzten 7 Jahre seit dem Maidan-Putsch hat aber im ach so “humanen” Westen keinen Hund hinter dem Ofen hervorgelockt. __ Woraus ich persönlich den Schluss ziehen muss, dass hier im Westen eine neue, menschenverachtende Zweiteilung in Herren- und Untermenschen Einzug gehalten hat… Wobei offensichtlich Russen zu den Untermenschen gezählt werden - was den Vergleich zu den Jahren 1933-45 geradezu aufdrängt. __ Wobei - n.b. - in den linksgrünen Milieus ja auch die weltweit zunehmende Christenverfolgung kein Thema ist.

Silvia Orlandi / 23.03.2022

Irgendwann, wenn alles vorbei ist, werden die „Friedensverhandlungen“ beginnen. Warum nicht gleich? Warum erst so viel Leid?

j walraven / 23.03.2022

Warum ist man so enthusiast den Ukrainern zu helfen. Wer hat den Kurden , den Irakern ,den Syriern geholfen.  Ist man so im Vorfeld gegen die Russen eingeheizt worden.  Wenn etwas gebührte hies es, das waren die Russen. So ging es die letzten Jahre. Überall auf der Welt gibt es Flüchtlinge aber nur die Ukrainer sind besonders.

Johannes Schuster / 23.03.2022

Als militärhistorisch nicht ganz Unwissender muß ich mal einordnen, daß, was diese Hilfsvereine leisen ist der morgendliche Alltag, wie er im zweiten Weltkrieg nur zur Frühstücksversorgung gefahren wurde. Sprich, es ist alles sehr dilettantisch organisiert und durchgeführt. Diese ganzen Helfer können froh sein, daß Putin sehr manierlich Krieg führt, und nicht wie die Amerikaner in Vietnam, sonst wären sie unter friendly fire gebraten worden. Daß überhaupt Ausländer so leicht in der Ukraine agieren können ist für einen angeblich so bösen Putin doch ganz erstaunlich. Reporter in Vietnam hatten es schwerer auf beiden Seiten. Wenn der letzte US - Militärberater aus der Ukraine evakuiert sein wird, bricht das Kartenhaus blutig zusammen. Die Ukrainer werden mehr am inneren Chaos und den NGOs und ihrem Leidgesang zu tragen haben als an der neuen Machtverteilung, die sich seit 2014 munter veranlagt hat. Der Westen soll aufhören so scheinheilig zu tun, er hat ja mit dem Krieg endlich eine Flucht aus seiner Seuchen - Psychose gefunden und alle sind glücklich, - ein neues “extinction” - Narrativ. Klima, - Corona und russische Atombomben, der Stoff für überdrüssige social - media - Konsumenten.

Hubertus Grauman / 23.03.2022

Furchtbar: Die drei jungen hilfsbereiten Männer bezahlen mit Zeit und Geld dafür, dass die Aktienkurse von Rüstungsfirmen Millionäre und Milliardär noch reicher machen. Der Kurs des Falken-Lieferanten Rheinmetall ist um 88 % in letzten Monat gestiegen. Deutsche Legionäre kämpfen gegen Russen. Rentner suchen nach Leergut. Die Tafeln haben Zulauf. Viele Steuerzahler wissen nicht mehr, wie sie Strom, Heizung und Sprit bezahlen sollen. Und die Grünen sind ganz begeisterte Aufrüstungsfans. Alles klar.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Sebastian Biehl, Gastautor / 14.05.2024 / 16:00 / 9

Israel zwischen den Fronten – Nachrichten aus dem Kriegsgebiet

Chaim Noll sprach gestern (13.05.2024) auf Einladung des „Arbeitskreises Menschenrechte und Humanitäre Hilfe“ der AfD-Bundestagsfraktion zum Thema „Israel zwischen den Fronten – Nachrichten aus dem…/ mehr

Sebastian Biehl, Gastautor / 08.05.2024 / 14:00 / 24

Xi Jinpings Bild von Europa

Chinas Präsident Xi Jinping befindet sich derzeit auf Europareise, und die gewählte Reiseroute sagt viel darüber, was die kommunistische Führung in Peking von den verschiedenen…/ mehr

Sebastian Biehl, Gastautor / 29.04.2024 / 16:30 / 4

Die Sanchez-Beinahe-Rücktritts-Show

Nach Korruptionsvorwürfen gegen seine Frau wollte Spaniens Ministerpräsident Sanchez zuerst zurücktreten. Nun tut er es doch nicht. Was steckt dahinter? Letzte Woche wurde eine Beschuldigung…/ mehr

Sebastian Biehl, Gastautor / 29.04.2024 / 14:00 / 23

Kurzkommentar: Noch mehr „Demokratie lernen“ gegen rechts

Die Grünen sind erschrocken und wohl auch gekränkt, dass die Jugend nicht mehr sie anhimmelt, sondern stattdessen den verpönten Außenseiter, die AfD. Die Trendstudie „Jugend…/ mehr

Sebastian Biehl, Gastautor / 17.04.2024 / 17:15 / 31

Versteht Scholz wirklich, was Xi will?

Olaf Scholz spielte in Peking den Staatsmann, aber er scheint nicht einmal zu verstehen, was die Chinesen sagen, wenn sie ihm liebgewonnene Textbausteine nutzen.  Um…/ mehr

Sebastian Biehl, Gastautor / 15.04.2024 / 14:00 / 4

Zensur macht glücklich

Das Gallup Institut hat in seinem Welt-Glücksbericht unter anderem festgestellt, dass die Jugend, vor allem im Westen, weniger glücklich ist als früher. Das WEF fordert…/ mehr

Sebastian Biehl, Gastautor / 14.04.2024 / 16:00 / 3

„Coolcations“ gegen den Klimawandel

Wer im Sommer nicht immer an den Klimawandel in Form von Sonne und Hitze erinnert werden will und sich nach dem Winter sehnt, für den…/ mehr

Sebastian Biehl, Gastautor / 11.04.2024 / 16:31 / 9

Kurzkommentar: SPD und Fastenbrechen – schon wieder rote Gesichter

Politiker der SPD scheinen eine besondere Vorliebe für das islamische Fastenbrechen und das freundschaftliche Gespräch mit türkischen Extremisten zu haben. Erst kürzlich geriet die SPD…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com