Chaim Noll / 11.05.2021 / 06:27 / Foto: Fqugdvin / 117 / Seite ausdrucken

Die Rückkehr zum Menschenopfer

In der berühmten Geschichte von der Nicht-Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham (1. Buch Moses 22,1–19) verbietet der biblische Gott das Opfern von Menschen zum Zweck der Anbetung. Was eigentlich nur dafür spricht, wie verbreitet diese Praktiken in antiken Zeiten waren. Das Opfern von Kindern war alltäglich. Die Juden wurden, indem sie es verboten, zu unbeliebten Außenseitern. Doch später übernahm das Christentum das Opferverbot aus der hebräischen Bibel und setzte sich vehement dafür ein. Als einzige Gruppe im Imperium Romanum agitierten die frühen Christen gegen die als Gladiatoren-Spiele kostümierten Menschenopfer in der Arena, weshalb man sie selbst zu bevorzugten Opfern dieser Vorführungen machte. Auch als sich das Christentum im vierten Jahrhundert als Staatsreligion durchsetzte, brauchte es Jahrzehnte, um die rituellen Schlachtungen aus ihrem angestammten Platz im öffentlichen Leben zu verdrängen.

Vor allem in der Provinz hielten sich die „rohen, blutigen und entsetzlichen Lokalkulte“ (so Ludwig Friedländer in seiner berühmten Sittengeschichte Roms), die Mysterienspiele, Blutorgien und rituellen Menschenopfer. Im zweiten Jahrhundert nach Christus, schreibt Plutarch, hätte man noch immer „am Altar der Artemis viele sterben sehen“. Sein Zeitgenosse Pausanias überliefert, dass beim Dionysos-Fest in Alea Frauen blutig gepeitscht, in Orchomenos in Böotien sogar vom Priester mit dem Schwert getötet wurden. Um die gleiche Zeit schildert der Schriftsteller Lukian das Treiben von Priestern der „syrischen Göttin“, die für ihre öffentliche Selbstverstümmelung auf Marktplätzen Geld nahmen. Noch unter Marc Aurel sollen in Arkadien dem Zeus Menschen geopfert worden sein, wie auf Rhodos dem Kronos. Der christliche Autor Lactantius berichtet von Menschenopfern auf Zypern, bis Kaiser Hadrian sie im zweiten christlichen Jahrhundert verbot.

Im Norden Europas, in Germanien, Britannien oder Irland, sind heidnische Opferkulte, zum Teil sehr grausam und ausgeklügelt, durch Moorleichen bis ins Frühmittelalter belegt. Wie anfällig auch christliche Gesellschaften für öffentlich vollzogene Menschenopfer blieben, zeigt die düstere Geschichte der Hexen- und Ketzerverbrennungen. Unter aus heutiger Sicht unsinnigen Anschuldigungen wurden vom 14. bis 17. Jahrhundert allein in Deutschland rund 40.000 als „Hexe“ stigmatisierte Frauen hingerichtet. Im ungefähren Überschlag ergibt sich die Zahl von zehntausend Hinrichtungen pro Jahrhundert, also hundert im Jahr, was bedeutet, dass in diesen glorreichen Zeiten in Deutschland alle drei bis vier Tage eine Hexe öffentlich verbrannt wurde.

Möglichkeit der Kompensation und populären Entlastung

Der fachwissenschaftliche Konsens der Mediäval-Historiker geht in die Richtung, dass Klima-Schwankungen (wie die im 15. Jahrhundert beginnende „Kleine Eiszeit“), wirtschaftliche Rezession und Verarmung (durch häufige Missernten), Kriege (vor allem der in diese Zeit fallende Dreißigjährige) und pandemische Infektionen (die seit dem 14. Jahrhundert in Europa wütende Pest) die Ausbreitung dieser Massenhysterie begünstigten.

Die aufkommende Lust am Menschenopfer wird mit einer die Zeitgenossen verunsichernden gesellschaftlichen Krise in Verbindung gebracht, als Möglichkeit der Kompensation und populären Entlastung von Furcht und Frust. Auch die täglichen öffentlichen Hinrichtungen durch die Guillotine in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution widerspiegeln die tiefe gesellschaftliche Verunsicherung ihrer Zeit.

Wichtig ist der öffentliche Rahmen des Vorgangs. Die Opfer verhalten sich in irgendeiner Weise auffällig, werden denunziert, ziehen allgemeine Wut auf sich, dann durch anerkannte Institutionen vorgenommene Untersuchungen wie juristische Ermittlungen oder Ausschluss-Verfahren in Parteien oder anderen Institutionen, denen sie angehören. Darüber wird – wegen der abschreckenden Wirkung im Sinne der Volkserziehung – in den Medien der Zeit genauestens berichtet.

Auch über die soziale Demontage des oder der Betreffenden, in möglichst großer Detailtreue: der sich steigernde Boykott durch die „Anständigen“, politisch Korrekten, der Entzug der Lebensgrundlagen, die unvermeidliche soziale Isolation. Allmählich entsteht ein Klima von Anzeige und Verfolgung. Der öffentliche Diskurs wird anklägerisch, von der Mehrheit abweichende Meinungen werden nur noch als Gefahr empfunden, Ironie und Scherz als verletzend und unanständig. Dafür gilt plötzlich das Denunzieren – in sicheren, stabilen Zeiten eher verpönt – als notwendige Tugend und wird vom Staat gefördert und demonstrativ belohnt. 

Europas Kultur zerbröselt

Die Atmosphäre verdichtet sich. Man beginnt einander zu belauern. Die Smartphones, gnadenlose Aufzeichner und Abhörgeräte des intimsten Geschehens, bleiben gezückt. Jede unbedachte Äußerung, jedes unglücklich gewählte Wort ist willkommen, um das gnadenlose Räderwerk der Abstrafung in Gang zu setzen. Die Teilnahme an einer verdächtigen Geburtstagsfeier, eine verächtliche Handbewegung auf einem Schnappschuss, ein fragwürdiger Witz in der Zwitscherwelt der sozialen Netzwerke.

Die Anfänge scheinen harmlos: Man sagt ab, man schließt aus, man ruiniert den Ruf. „Cancel Culture“ ist ein beschönigendes Wort. Dahinter verbirgt sich die Lust am blutigen Ritual der öffentlichen Opferung. Sie vibriert in der Stimme der grünen Kanzlerkandidatin, wenn sie den Partei-Ausschluss des Außenseiters Boris Palmer fordert. Blitzt in den kalten Augen der Klimaaktivistin Neubauer, wenn sie in einer Talkshow den früheren Verfassungsschutz-Präsidenten Maaßen des Antisemitismus bezichtigt (ohne dafür einen einzigen Beleg vorweisen zu können) und die Hundemeute auf ihn hetzt.

Das biblische Verbot des Menschenopfers ist Verbot geblieben, nicht, wie man sich gewünscht hätte, zur Therapie geworden. Die Sucht nach dem Blutopfer scheint unsterblich. Die Moderne ist eine dünne Folie, all die Hochherzigkeiten wie Demokratie, Menschenliebe, Solidarität, darunter dämmern die alten Atavismen. Europas Kultur zerbröselt, vielleicht waren Christentum und Zivilisation nur eine Episode, man kehrt erleichtert zum Faustrecht zurück, zum Einander-Auflauern und Übereinander-Herfallen in Gruppen, zu den Opfern im Moor, den blutigen Ritualen des Heidentums.

Foto: Fqugdvin CC0 via Wikimedia

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Johann Santi / 11.05.2021

Nicht vergessen, wenn man sich den Mob auf der Straße und das schlecht bezahlte Personal in den Redaktionsstuben anschaut: Nicht nur bei den Hexenprozessen spielten wirtschaftliche Gründe die größte Rolle! Bereicherung auf Kosten anderer Menschengruppen ist immer ein ganz starkes Motiv. Man braucht dafür nur eine Ideologie, die das eigene verwerfliche Handeln sozial und moralisch legitimiert.

Holger Sulz / 11.05.2021

Oh ja, wie trefflich beschrieben! Und immer wurden die Opferzahlen exzessiv, wenn sich Imperien ihrem Untergang näherten. Ein Phänomen war dabei regelhaft zu beobachten: Teile der alten Eliten wechselten die Seiten und taten sich durch besonders eifriges Wüten hervor mit dem Ziel, nach Etablierung der neuen Macht wieder zu den oben schwimmenden Fettaugen zu gehören- das war beim “Ancien Régime” so wie in der Oktoberrevolution und dem Aufstieg der nationalen Sozialisten, heute auch weit verbreitetes Phänomen in den sog. “besseren Kreisen”- man mache sich die Mühe, einmal die Wahlergebnisse der grünen Khmer in den Edelstadtteilen von Bogenhausen über Oberkassel bis nach Blankenese zu verfolgen: Enorm große grüne Stimmanteile und jener pickelige Bengel, der lauthals das “Shooten” von Vermietern befürwortete, verkehrt ansonsten in einem der edelsten Segelclubs Hamburgs. Auch nimmt es den Denkenden nicht Wunder, daß bei der Mega-Randale in HH anläßlich G 20 von Alsterdorf bis Niensteden tiefster Friede herrschte. Besonders prrrachtvoll gelangen der schwerreichen Sippe Reemtsma solche Metamorphosen, die vom Zigarettenmonopolisten von Adolphes Gnaden zu übelsten Nestbeschmutzern und linken Propaganda-Heulbojen (Jan Phillip Reemtsma) avancierte und mit Langstrecken-Luisa nun fest den Fuß in der Türe der kommenden Macht haben- gegen Luisa war die alte DDR-Giftnudel Karl-Eduard von Schnitzler ein Waisenknabe und es ist wenig überraschend, wenn eine sehr progressive sog. “Verfassungsrichterin” über ein stattliches Arrangement an braunen Gesellen in der Ahnenreihe verfügt. Auch der Werdegang der de Maizières ist beeindruckend und keine noch so abgefeimte Niedertracht konnte den Namen trüben. Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut. So erklärt sich der Hass auf Boris Palmer von selbst. Der Sohn des legendären “Remstalrebellen” ist eine absolute Ausnahmeerscheinung für einen Grünen: Er ist nicht käuflich. Seine Hinrichtung ist gewiß.

Hanjo Lehmann / 11.05.2021

Ist es nicht an der Zeit, endlich von Christ*innentum, Heid*innentum und Ketzer*innenverbrennungen zu sprechen bzw. zu schreiben? Fragt, traurig grinsend Hanjo Lehmann

Wolfgang Heinrich Scharff / 11.05.2021

Die Opferrituale werden immer barbarischer. Nur weil der “Grüne”-Politiker Palmer eine Meldung über die Ausstattung eines Nigerianers weiterverbreitete, wird er nun auf den Altären des Betonstalinismus der Gegenwart geopfert, oder, wie es euphemistisch heißt: “gecancelt”. Schlimmes Geschehen! Der Herr Maaßen, ein honetter Mann, so feinrandig wie seine Brille, wird ins Schmutzlicht des “Antisemitismus” gezerrt, nur weil er auf Globalisten und ihren großen Reset-Austausch zu sprechen kommt. Ist denn ganz Deutschland mittlerweile ein Wahnsinnshaus?

Marcus Kowalsky / 11.05.2021

Ich meine, sie kann nichts dafür, aus welcher Familie sie stammt. Aber wenn ich Fräulein Neubauer aus der Familie Reemtsma wäre, die mit ihren Produkten unendlich viel Leid unter die Menschen gebracht hat, dann würde ich doch mal etwas kleinere Brötchen backen. Zumindest würde ich nicht ständig die große Moralkeule gegen andere Menschen schwingen. Aber die Medien lieben scheinbar solche Wesen, die sie benutzen können, um ihre Agenda durchzudrücken.

FriedrichLuft / 11.05.2021

“Europas Kultur zerbröselt” - ein moderner Stefan Zweig könnte in unseren Tagen eine neue Version der “Welt von gestern” schreiben ... unbeschreiblich traurig!

Frank Holdergrün / 11.05.2021

Selbstverständlich gieren alle Politiker nach Kompensation: für alle erlittenen Schmähungen, meist aus den eigenen Reihen. Der Schandpfahl ist heute nur ein Klick entfernt und die ZeroMedien verlangen innig nach immer neuen, bösen, niederträchtigen Headlines. Das Böse gibt dem Gutmenschen erst seine ganze Gestalt der Reinheit, der Macht und Güte.

Paul Brusselmans / 11.05.2021

Als Deutsch-Franzose bleibe ich geschockt über die bipolare Einstellung bei vielen Deutschen. Entweder hofiert man illegale Glücksritter als die „edlen Wilden“ und schreibt ihnen alle Vorzüge zu, die man selbst nicht hat und ignoriert die Probleme, die totalitaristische Einstellung, oder man bringt effizient ganze Bevölkerungsgruppen um. Dazu bedarf es nur eines entsprechenden Gesetzes und eventuell Durchführungsanleitungen, amtlich beglaubigt. Zur Zeit durchläuft Deutschland unter den neuen Totalitären einen ungeahnten Hass, wie sie ihn in Frankreich oder Benelux nicht sehen. Verbrennt den Palmer, er hat N… gesagt! Keine Reflexion, keine Richtigstellung durch andere? Kein Hosenanzug, kein Bundesuhu, der an die demokratischen Werte appeliert? Interessant mal wieder die Reaktion zu Gaza….vertragt Euch, anstatt Gaza und Westbank das deutsche Geld abzudrehen, auch für „Märtyrerrenten“. Welch elendes rückgratloses Land habt ihr aus Deutschland gemacht..und Gaza importiert…

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