In der berühmten Geschichte von der Nicht-Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham (1. Buch Moses 22,1–19) verbietet der biblische Gott das Opfern von Menschen zum Zweck der Anbetung. Was eigentlich nur dafür spricht, wie verbreitet diese Praktiken in antiken Zeiten waren. Das Opfern von Kindern war alltäglich. Die Juden wurden, indem sie es verboten, zu unbeliebten Außenseitern. Doch später übernahm das Christentum das Opferverbot aus der hebräischen Bibel und setzte sich vehement dafür ein. Als einzige Gruppe im Imperium Romanum agitierten die frühen Christen gegen die als Gladiatoren-Spiele kostümierten Menschenopfer in der Arena, weshalb man sie selbst zu bevorzugten Opfern dieser Vorführungen machte. Auch als sich das Christentum im vierten Jahrhundert als Staatsreligion durchsetzte, brauchte es Jahrzehnte, um die rituellen Schlachtungen aus ihrem angestammten Platz im öffentlichen Leben zu verdrängen.
Vor allem in der Provinz hielten sich die „rohen, blutigen und entsetzlichen Lokalkulte“ (so Ludwig Friedländer in seiner berühmten Sittengeschichte Roms), die Mysterienspiele, Blutorgien und rituellen Menschenopfer. Im zweiten Jahrhundert nach Christus, schreibt Plutarch, hätte man noch immer „am Altar der Artemis viele sterben sehen“. Sein Zeitgenosse Pausanias überliefert, dass beim Dionysos-Fest in Alea Frauen blutig gepeitscht, in Orchomenos in Böotien sogar vom Priester mit dem Schwert getötet wurden. Um die gleiche Zeit schildert der Schriftsteller Lukian das Treiben von Priestern der „syrischen Göttin“, die für ihre öffentliche Selbstverstümmelung auf Marktplätzen Geld nahmen. Noch unter Marc Aurel sollen in Arkadien dem Zeus Menschen geopfert worden sein, wie auf Rhodos dem Kronos. Der christliche Autor Lactantius berichtet von Menschenopfern auf Zypern, bis Kaiser Hadrian sie im zweiten christlichen Jahrhundert verbot.
Im Norden Europas, in Germanien, Britannien oder Irland, sind heidnische Opferkulte, zum Teil sehr grausam und ausgeklügelt, durch Moorleichen bis ins Frühmittelalter belegt. Wie anfällig auch christliche Gesellschaften für öffentlich vollzogene Menschenopfer blieben, zeigt die düstere Geschichte der Hexen- und Ketzerverbrennungen. Unter aus heutiger Sicht unsinnigen Anschuldigungen wurden vom 14. bis 17. Jahrhundert allein in Deutschland rund 40.000 als „Hexe“ stigmatisierte Frauen hingerichtet. Im ungefähren Überschlag ergibt sich die Zahl von zehntausend Hinrichtungen pro Jahrhundert, also hundert im Jahr, was bedeutet, dass in diesen glorreichen Zeiten in Deutschland alle drei bis vier Tage eine Hexe öffentlich verbrannt wurde.
Möglichkeit der Kompensation und populären Entlastung
Der fachwissenschaftliche Konsens der Mediäval-Historiker geht in die Richtung, dass Klima-Schwankungen (wie die im 15. Jahrhundert beginnende „Kleine Eiszeit“), wirtschaftliche Rezession und Verarmung (durch häufige Missernten), Kriege (vor allem der in diese Zeit fallende Dreißigjährige) und pandemische Infektionen (die seit dem 14. Jahrhundert in Europa wütende Pest) die Ausbreitung dieser Massenhysterie begünstigten.
Die aufkommende Lust am Menschenopfer wird mit einer die Zeitgenossen verunsichernden gesellschaftlichen Krise in Verbindung gebracht, als Möglichkeit der Kompensation und populären Entlastung von Furcht und Frust. Auch die täglichen öffentlichen Hinrichtungen durch die Guillotine in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution widerspiegeln die tiefe gesellschaftliche Verunsicherung ihrer Zeit.
Wichtig ist der öffentliche Rahmen des Vorgangs. Die Opfer verhalten sich in irgendeiner Weise auffällig, werden denunziert, ziehen allgemeine Wut auf sich, dann durch anerkannte Institutionen vorgenommene Untersuchungen wie juristische Ermittlungen oder Ausschluss-Verfahren in Parteien oder anderen Institutionen, denen sie angehören. Darüber wird – wegen der abschreckenden Wirkung im Sinne der Volkserziehung – in den Medien der Zeit genauestens berichtet.
Auch über die soziale Demontage des oder der Betreffenden, in möglichst großer Detailtreue: der sich steigernde Boykott durch die „Anständigen“, politisch Korrekten, der Entzug der Lebensgrundlagen, die unvermeidliche soziale Isolation. Allmählich entsteht ein Klima von Anzeige und Verfolgung. Der öffentliche Diskurs wird anklägerisch, von der Mehrheit abweichende Meinungen werden nur noch als Gefahr empfunden, Ironie und Scherz als verletzend und unanständig. Dafür gilt plötzlich das Denunzieren – in sicheren, stabilen Zeiten eher verpönt – als notwendige Tugend und wird vom Staat gefördert und demonstrativ belohnt.
Europas Kultur zerbröselt
Die Atmosphäre verdichtet sich. Man beginnt einander zu belauern. Die Smartphones, gnadenlose Aufzeichner und Abhörgeräte des intimsten Geschehens, bleiben gezückt. Jede unbedachte Äußerung, jedes unglücklich gewählte Wort ist willkommen, um das gnadenlose Räderwerk der Abstrafung in Gang zu setzen. Die Teilnahme an einer verdächtigen Geburtstagsfeier, eine verächtliche Handbewegung auf einem Schnappschuss, ein fragwürdiger Witz in der Zwitscherwelt der sozialen Netzwerke.
Die Anfänge scheinen harmlos: Man sagt ab, man schließt aus, man ruiniert den Ruf. „Cancel Culture“ ist ein beschönigendes Wort. Dahinter verbirgt sich die Lust am blutigen Ritual der öffentlichen Opferung. Sie vibriert in der Stimme der grünen Kanzlerkandidatin, wenn sie den Partei-Ausschluss des Außenseiters Boris Palmer fordert. Blitzt in den kalten Augen der Klimaaktivistin Neubauer, wenn sie in einer Talkshow den früheren Verfassungsschutz-Präsidenten Maaßen des Antisemitismus bezichtigt (ohne dafür einen einzigen Beleg vorweisen zu können) und die Hundemeute auf ihn hetzt.
Das biblische Verbot des Menschenopfers ist Verbot geblieben, nicht, wie man sich gewünscht hätte, zur Therapie geworden. Die Sucht nach dem Blutopfer scheint unsterblich. Die Moderne ist eine dünne Folie, all die Hochherzigkeiten wie Demokratie, Menschenliebe, Solidarität, darunter dämmern die alten Atavismen. Europas Kultur zerbröselt, vielleicht waren Christentum und Zivilisation nur eine Episode, man kehrt erleichtert zum Faustrecht zurück, zum Einander-Auflauern und Übereinander-Herfallen in Gruppen, zu den Opfern im Moor, den blutigen Ritualen des Heidentums.