Henryk M. Broder / 30.01.2021 / 06:00 / Foto: Christoph Braun / 109 / Seite ausdrucken

Die Bürokratie erlebt ihre Brunftzeit

Alles in mir rebelliert, wenn ich nur das Wort Corona höre. Die Atemwege, der Magen und vor allem die Galle. Ich bekomme keine Luft, das letzte Nachtmahl bahnt sich wieder den Weg nach oben, und das Weiße in meinen Augäpfeln färbt sich gelb ein. Am schlimmsten wird es, wenn ich einen der Bauchredner der Kanzlerin, Wirtschaftsminister Altmaier oder Kanzleramtschef Braun, im Fernsehen erlebe, was praktisch jeden Tag, manchmal auch mehrmals täglich passiert, weil es der Job der beiden ist, alles, was die Kanzlerin tut oder unterlässt, zu einem Erfolg zu verklären. 

Die Regierung arbeite Tag und Nacht zum Wohle der Menschen, und wenn es mal irgendwo hakt oder ruckelt, dann nur deswegen, weil die Bürger die Regeln nicht ernst nehmen, das Abstandsgebot in überfüllten Bussen und Bahnen missachten, die Maskenpflicht im Freien ignorieren oder wilde Partys mit den Nachbarn feiern. Im Gegensatz zu der Bevölkerung mache die Regierung alles richtig, es gebe keinen Grund, ihr Versagen vorzuwerfen, das sei falsch und unfair.  

Zuletzt habe ich Staatsminister Braun bei „Anne Will“ gesehen. Als Erstes fiel mir auf, wie ordentlich frisiert er war. Rund um die Ohren lag eine haarfreie Zone, im Nacken war nicht einmal der Ansatz eines Flaums zu erkennen. Sieht so ein Mann aus, der seit über vier Wochen nicht mehr beim Friseur war? Hat er ein paar Reserveaugen im Hinterkopf, schneidet er sich die Haare selber, oder gibt es eine Ausnahmeregelung für wichtige Funktionsträger? 

Wie die Weinkönigin von Traben-Trarbach

Auch die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, die per Video zugeschaltet war, sah aus, als käme sie gerade von einer längeren Sitzung beim Figaro ihres Vertrauens. Es muss Stunden gedauert haben, sie dermaßen aufzuhübschen, dass sie auch an einem der rheinland-pfälzischen Wettbewerbe zur Weinkönigin von Traben-Trarbach oder Meckenheim hätten teilnehmen können, wären sie nicht alle coronahalber abgesagt worden.

Solche Petitessen treiben mich in eine Raserei, die ich nur mühsam unterdrücken kann. Offenbar gilt in Deutschland wieder die Regel: „Quod licet Iovi, non licet bovi“, eine römische Weisheit, die auch in der DDR praktiziert wurde, wo sich das einfache Volk langweilige DEFA-Filme ansehen musste, während die Angehörigen des Zentralkomitees und anderer Parteiorgane Zugang zu Russ-Meyer-Videos hatten.

Auch der neue deutsche Alltag wird immer absurder. Blumenläden zum Beispiel dürfen nicht öffnen, aber jede EDEKA-Filiale darf Blumen verkaufen, und viele tun es auch. Sollte es jemals ein Ende des Lockdowns geben, was ich bezweifle, werden die großen systemrelevanten Supermärkte die kleinen Konkurrenten vom Markt gefegt haben. Da hilft auch kein Jammern und kein Klagen über die „Verödung“ der Innenstädte und keine „Paketsteuer“ auf Einkäufe im Internet. 

Mein Reparaturschneider, der auch eine Reinigung betreibt, erzählte mir, er dürfe weiterhin Hosen, Jacken und Röcke annehmen – aber nur zum Reinigen, nicht zum Reparieren. „Wo liegt der Unterschied?“, fragte er mich. Ich konnte ihm keine Antwort geben.

Kaffeesatz-Journalismus im Dienst staatlicher Propaganda

Ich würde gerne wissen, wer sich alle diese Regelungen ausdenkt, wie viele hundert oder tausend Beamte damit beschäftigt sind, Listen aufzustellen, was erlaubt und was verboten ist und welche Ausnahmen wann gelten. Derzeit darf nicht einmal unsere Lola zum Hundefriseur, obwohl Haustiere nicht als Corona-Verbreiter gelten. Die Bürokratie erlebt ihre Brunftzeit.

Eine innere Stimme sagt mir, dass nicht nur die Pandemie, sondern auch der Kampf gegen sie aus dem Ruder gelaufen ist. Wie kommt z.B. eine Meldung zustande, die am Montagabend in den „Tagesthemen“ verlesen wurde?

„Während der deutschlandweiten Corona-Impfungen könnte es massive Störversuche geben, so die Befürchtung des Innenministeriums. Zwar gebe es noch keine konkreten Hinweise auf Störaktionen, so die Bundesregierung, es bestehe jedoch eine, so wörtlich, abstrakte Gefährdung für Pharma-Unternehmen, Impfzentren, Transporte und Lagerstätten. Im Inland gehe sie von Impfgegnern, Corona-Skeptikern und Verschwörungstheoretikern aus. Hinzu komme das Risiko von Spionage- und Sabotage-Versuchen ausländischer Geheimdienste.“

Das ist Kaffeesatz-Journalismus im Dienst staatlicher Propaganda. Zwar gebe es noch keine Hinweise auf Störaktionen, aber doch eine Gefährdung, die so hochgradig abstrakt ist, dass nicht einmal gesagt wird, worauf diese Einschätzung beruht. Auch in der DDR, der polit-pädagogischen Heimat der jetzigen Bundeskanzlerin, herrschte allzeit eine abstrakte Gefährdungslage, nur dass sie nicht von Impfgegnern, Corona-Skeptikern und Verschwörungstheoretikern ausging, sondern von „Faschisten“, „Imperialisten“ und anderen „feindlich-negativen Kräften“, die eine Gefahr für den Bestand der DDR darstellten. 

Die Zeiten ändern sich, die Tradition lebt weiter.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

Foto: Christoph Braun CC0 via Wikimedia Commons

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E. Grüning / 30.01.2021

Herr Broder, Sie schauen immer noch zu viel ÖRR. Mit der Bemerkung, dass sich Beamte, unterforderte Virologen sowie Herr Lauterbach (für den mir gerade keine allgemeine Kategorie einfallen will) beim Regelungen Ausdenken und Listen Anfertigen austoben können, liegen Sie schon sehr nahe an der Wahrheit. Endgültig den spitzen Stift dürfte die Kanzlerin ansetzen. Man könnte auch vom Schlimmverbessern zu Ungunsten des gemeinen Deutschen und aller Mitbetroffener im allerweitesten Sinne sprechen. Vielleicht würde ja die Liste ganz anders aussehen, wenn man zum Beispiel Sie, Herr Broder, mitausdenken lassen würde. Natürlich käme dann die Pflege von Vierbeinern mit Wuff nicht unter den (Hexen-) Hammer, wogegen Frau Merkel mit ausgeprägter Hundescheu die Existenz von Salons zur Freude der Hundehalter völlig unbekannt sein wird. Da Beamte gemeinhin nicht zur ärmsten Bevölkerungsschicht zu zählen sind und die Konfektionsgröße sich im Laufe der Zeit eher erhöht, gibt es zwar die Notwendigkeit zur Anzugreinigung, aber nicht zum Weiterschneidern, wodurch die Frage des Unterschiedes geklärt wäre. Indem man die Einkaufsmöglichkeiten konzentriert, reduziert man den Überwachungsaufwand für die zu Beaufsichtigenden. Das eingesparte Beobachterpersonal kann im Gegenzug bei Razzien auflaufen, da auch der Bewegungsradius der Ganoven auf bestimmte Orte konzentriert wird. Gehen wir nun davon aus, dass Staatsbeamte Urlaubssperre erleiden, ist die Schließung von Hotels zu verkraften. Usw. und so fort.

Michael Müller / 30.01.2021

Man nehme: den deutschen Blätterwald her, schreibe dort einige der tatsächlich widersprüchlichsten Blüten der Anti-Virus-Massnahmen ab, z.B die Themen Friseur und Blumenladen (dafür ist die deutsche Medienlandschaft vielfältig und gut genug), garniere diese dann mit Beamten- und Bürokratenschmäh (das geht immer) und serviere dies den danach Dürstenden. Wenn dies alles geschickt mit Satire gewürzt wird (die Satire macht fast alles rechtssicher), ist der Beifall bei der eigenen Klientel sicher. Manchmal schwillt der Beifall auch gewalt ig an, Und das Schönste: dies funktioniert auch als Zweitverwertung. Und wer wirklich die heutige Zeit in D als diktatorisch empfindet sollte mal z.B. darüber nachdenken, wie viele achgut-Beiträge und vor allem Zuschriften in nur halbwegs diktatorischen Regimen möglich wären bzw gewesen wären.

giesemann gerhard / 30.01.2021

@Karla Kuhn: Diese D. Bär hat eben ihren Koran mit Verständnis gelesen: Nicht du hast geschossen, sondern Allah. Eine schöne Prüfung, gucksdu Suhra 8:17 bei “koransuren.com”. Mord, verherrlicht,  Befehlsnotstand gleich mit geliefert.

Heiko Loeber / 30.01.2021

“Sieht so ein Mann aus, der seit über vier Wochen nicht mehr beim Friseur war? Hat er ein paar Reserveaugen im Hinterkopf, schneidet er sich die Haare selber, oder gibt es eine Ausnahmeregelung für wichtige Funktionsträger?” - - - Ich bin selbst ungefähr genauso schön auf dem Kopf wie mein heimlicher Wunsch-Bundeskanzler zum Verlieben, Helge Braun. Und ja, das geht durchaus selber mit dem Schneiden und mit dem Hinten-Ausrasieren! Wenn man BRAUN heißt, sowieso. - Dass Politiker selbst allerdings am liebsten Wein saufen, ist dabei jedoch in keiner Sekunde aus dem Blick zu verlieren.

Leo Hohensee / 30.01.2021

Lieber Herr Broder, - jetzt sind sie nun einmal da die ganzen “Zuständigkeits-Inaugurierten”. Die wollen alle was zu sagen haben, und gibt es nichts zu sagen dann muss etwas erfunden werden. Ist klar, die auf der Straße erledigen Ordnungsdienste, Knollen verteilen für jeden Scheiß bis hin zum Denunzieren. Die im unteren Dienst, die schaukeln sich noch die Testikel warm und fegen Blätter in Grünanlagen. Die im mittleren Dienst denken schon über Verordnungen, Recht und Gesetz und Formulare nach. Die im gehobenen Dienst - regelrechte Nutzung von Formularen, strategisches Verpissen aber Normenwesen muss eingehalten werden. Ja und darüber geht es schon um Rechtsverordnungen, Regierungswesen, die Einhaltung der Krümmungsvorschriften von Gurken im Europarecht und die Vorbereitung zur Ausarbeitung der Diäten-Novellierung. Ja und dann kommen Leute wie Martin Sch. Die müssen organisieren, dass ihre Hin- und Herfahrten in Regierungsverantwortung auch aufkommensentsprechend und kostendeckend entgolten werden, Kontrollinstanz ist der Elmar. Naja, das kann man jetzt so weiter treiben. - Wo es keine Aufgaben gibt, wird das Amt eines Beauftragten geschaffen, ggfls muss der aufpassen auf die Hüpfburgen an Freitagen oder gegenderte Strumpfmode ...

Roland Stolla-Besta / 30.01.2021

@Georg Dobler   Mir ist schon seit langem bewußt, daß von unserer Regierung, ihren Parteien,  NGOs und ihren Medien die eigentlichen Verschwörungstheorien im Umlauf gesetzt werden, und das nicht zu knapp! Jeder Untertan, der sich den herrschenden Lehren (neudeutsch: Narrativen) kritisch entgegenstellt, wird eben diesen Verschwörern zugerechnet. Eigentlich sollte man unsere Herrschenden nicht enttäuschen und ihnen Dampf unterm Hintern machen!

Ch. Müller / 30.01.2021

Eingangs stellte der Autor die Frage, wieviele tausend Beamte sich die Corona Regeln wohl ausdenken. Eine sehr berechtigte Frage, die sich insbesondere die Beamten der ausführenden Ebene immer öfter selbst stellen.

Johannes Hammann / 30.01.2021

Ein Zeitgenosse sagte vor kurzem, ‘‘Die Pandemie dauert so lange wie wir es wollen‘‘ Oder anders gesagt,  DIE CDU LIEGT IMMER NOCH BEI 37%

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