Das Weltwirtschaftsforum 2024 in Davos war in der letzten Woche in allen Medien und ist jetzt schon fast wieder vergessen. Dabei sollte man sich an ein paar Auftritte besser noch erinnern, beispielsweise wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre Pläne zur Bekämpfung von "Desinformationen" vorstellt oder über "Maßnahmen" für die "Krankheit X" gesprochen wird.
Pünktlich um 12 Uhr ging am vergangenen Freitag mit den Schlussworten von Børge Brend das diesjährige Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum, kurz: WEF) in Davos zu Ende. Der ehemalige norwegische Außenminister, der seit 2017 dem WEF als Präsident vorsteht, betonte darin den erneuerten „Spirit“ der globalen Kooperation, der während des fünftägigen Treffens unter dem Motto „Rebuilding Trust“ („Vertrauen wieder herstellen“) erzielt worden sei, und warf mit Erfolgszahlen um sich. Nahezu 3.000 Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft seien beim mittlerweile 54. Jahrestreffen zugegen gewesen. Außerdem seien zahlreiche Initiativen und Partnerschaften ins Leben gerufen worden, beispielsweise in den Bereichen Klimaschutz, Energieeffizienz und Künstliche Intelligenz.
So seien dem WEF-Netzwerk Zentrum für die Vierte Industrielle Revolution (World Economic Forum's Centre for the Fourth Industrial Revolution, kurz: C4IR) vier neue Zentren beigetreten: ein Zentrum in Deutschland, das sich auf die digitale Transformation des öffentlichen Sektors konzentriert (Global Government Technology Centre, kurz: GGTC, wir berichteten), ein Zentrum für grünes Wachstum in Vietnam sowie ein Zentrum für nachhaltige Entwicklung und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit in Katar. Konkreter Hintergrund für das neue GGTC mit Sitz in Berlin ist, dass sich die „Government technology“ nach Erwartung des WEF zum größten Softwaremarkt der Welt entwickeln und bis 2028 eine Marktgröße von über 1 Billion Dollar erreichen wird. Auch Wirtschaftsminister Habeck betonte: „Das Global Government Technology Centre wird einen direkten Einfluss auf hochprioritäre Regierungsinitiativen haben, zum Beispiel bei der Entwicklung von KI-Lösungen für den öffentlichen Sektor. Diese enge Zusammenarbeit zwischen Start-ups und der Regierung kann bei der Entwicklung und Erprobung demokratiekonformer KI-Lösungen entscheidend sein. Und sie wird deutschen Start-ups weitere Geschäftsmöglichkeiten im GovTech-Bereich bieten.“
Darüber hinaus unterzeichnete das Forum eine Absichtserklärung mit der Ukraine, um dort ein Zentrum mit Schwerpunkt auf der digitalen Transformation der Verwaltung und der digitalen Kompetenz zu gründen. Die sogenannte Vierte Industrielle Revolution, für die Schwab sich vehement einsetzt, werde nämlich durch ein „allgegenwärtiges, mobiles Supercomputing“ und „neurotechnologische Gehirnverbesserungen“ das gesamte Leben der Menschen verändern: nicht nur die globale Wirtschaft, sondern auch, was es überhaupt bedeutet, Mensch zu sein. Während Brend seine Superlative verkündete, saßen übrigens noch die Teilnehmer des finalen Panels zum Thema „The Global Economic Outlook“ dekorativ auf der Bühne herum – darunter Christine Lagarde und Christian Lindner.
Das Weltrisiko
Zwar sind es wohl eher die bilateralen Gespräche im Hintergrund als die offensichtliche Bühnenshow, auf denen tatsächlich Entscheidendes besprochen wird, doch auch der Flut von insgesamt mehr als 450 Reden und Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen, die live gestreamt wurden und auf der WEF-Webseite noch zu finden sind, lässt sich Informatives entnehmen. So bezog sich etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – wie zu erwarten – in ihrer Sonderansprache auf den vom WEF im Vorfeld veröffentlichten „Global Risks Report“, in dem „das kollektive Wissen von fast 1.500 globalen Führungskräften aus Wissenschaft, Wirtschaft, Regierung, der internationalen Gemeinschaft und der Zivilgesellschaft“ zu den aktuell wichtigsten Themen zusammengefasst sei (wir berichteten). Im Hinblick auf die kommenden beiden Jahren stellte sie fest:
„Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren, lieber Klaus,
die Lektüre des jährlichen Weltrisikoberichts ist gleichzeitig verblüffend und ernüchternd. Nicht Konflikte oder Klimafragen werden die größte Herausforderung für die Weltwirtschaft in den nächsten beiden Jahren sein. Sondern Desinformation und Falschinformation, dicht gefolgt von einer Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaften. Das sind ernst zu nehmende Risiken, denn sie schränken unsere Fähigkeiten ein, den großen globalen Herausforderungen zu begegnen, mit denen wir konfrontiert sind: Veränderungen unseres Klimas wie auch unseres geopolitischen Klimas. Demografische und technologische Umbrüche. Zunehmende regionale Konflikte und verstärkter geopolitischer Wettbewerb und die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Lieferketten. Die ernüchternde Wahrheit ist, dass die einzelnen Länder wieder stärker in Konkurrenz zueinander stehen als in den zurückliegenden Jahrzehnten. Und dadurch wird das Motto des diesjährigen Treffens in Davos umso relevanter. `Vertrauen wieder herstellen´ – jetzt ist nicht die Zeit für Konflikte oder Polarisierung. Es ist die Zeit, Vertrauen aufzubauen. Es ist die Zeit, mehr denn je weltweit zusammenzuarbeiten. Angesichts der Größe der globalen Herausforderungen brauchen wir sofortige, strukturelle Antworten. Ich glaube, dass das möglich ist. Und ich glaube, dass Europa bei der Formulierung dieser globalen Antworten an der Spitze stehen kann und muss.“
Die Fokussierung auf „Desinformation“ erhält besondere Relevanz anlässlich der zahlreich anstehenden Wahlen. Von der Leyen spricht sogar von einem „der größten Wahljahre der Geschichte“. Rund die Hälfte der Weltbevölkerung werde 2024 an die Wahlurnen gerufen, darunter mehr als 450 Millionen Menschen in der Europäischen Union. Der Unterschied zwischen Desinformation („disinformation“) und Falschinformation („misinformation“) besteht übrigens laut einem Gutachten, das 2020 im Auftrag der deutschen Gremienvorsitzendenkonferenz der Landesmedienanstalten (GVK) erarbeitet wurde, darin, dass Falschinformation eine ungenaue oder auch unbeabsichtigt verwirrende Berichterstattung darstellt, während unter Desinformation „bewusste Dekontextualisierung realer Information“, „unauthentischer und irreführender Pseudojournalismus“ sowie Propaganda zu verstehen ist. Aufschlussreich ist, dass in dem vom WEF für das Jahr 2023 erstellten Risikobericht unter den 10 größten Gefahren für die beiden Folgejahre von „Desinformation“ noch überhaupt keine Rede war. Sind etwa die Risiko-Voraussagen des WEF doch nicht so zutreffend wie behauptet? Oder treibt tatsächlich die Angst vor den 2024 anstehenden Wahlen die globale Elite um? Auffällig ist, dass auch die UNESCO jüngst Leitlinien zum Umgang mit Desinformation im Internet veröffentlicht hat (wir berichteten).
Die EU-Kommission hat jedenfalls nicht zuletzt mit ihrem Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, kurz: DSA) die Verantwortung für die Verbreitung von Des- und Misinformation auf Internetplattformen wie Google, Twitter/X und Facebook abgeschoben, denen horrende Strafzahlungen drohen, wenn die von ihnen verbreiteten Inhalte nicht den von der EU-Kommission festgelegten Anforderungen entsprechen (wir berichteten). Für die sogenannten sehr großen Online-Plattformen und Online-Suchmaschinen mit mehr als 45 Millionen Nutzern in der EU (10 Prozent der EU-Bevölkerung) gelten diese Vorschriften bereits seit Ende August 2023; ab dem 17. Februar dieses Jahres treten sie nun für alle Plattformen in Kraft. Was von Ursula von der Leyen unter anderem als Schutz von „gefährdeten Gruppen, die Hetze ausgesetzt sind,“ verkauft wird, entpuppt sich in der Realität immer mehr als Einschränkung der Meinungsfreiheit, weil sogar auch nicht rechtswidrige Inhalte gelöscht werden können, wenn sie von der EU-Kommission als „Desinformation“ eingestuft werden. Da Plattformen durch den DSA gezwungen sind, voraussichtliche negative Auswirkungen etwa auf die „öffentliche Gesundheit“ abzuschätzen, werden sie im Zweifelsfall eher Beiträge löschen, als Strafzahlungen zu riskieren.
„Riesige Datenmengen in allen EU-Sprachen“
Was die EU-Kommission beispielsweise unter „Desinformation“ versteht, wird anschaulich an ihrem Desinformations-Check zur Corona-Krisenreaktion. Hier wird mitgeteilt: „Etwaige Impfstoff-Nebenwirkungen sind in der Regel sehr gering und von kurzer Dauer.“ Wer dieser Aussage – auch noch so fundiert – widerspricht, würde demnach schon „Desinformation“ verbreiten. Außerdem hat die EU-Kommission gerade 17 sehr große Online-Plattformen und Suchmaschinen um Informationen gebeten, wie sie „berechtigten Forschenden unverzüglich Zugang zu den Daten gewähren, die über ihre Online-Schnittstelle öffentlich zugänglich sind“. Begründet wird dieser Schritt u.a. mit den anstehenden Wahlen. Dazu heißt es auf der Website der EU-Kommission: „Der Zugang zu Daten durch Forscherinnen und Forscher ist der Schlüssel, um Rechenschaftspflicht und die öffentliche Kontrolle der Politik der Plattformen zu gewährleisten. Er trägt in hohem Maße zu den Zielen des DSA bei. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf bevorstehende Wahlen auf nationaler und EU-Ebene sowie für eine laufende Überwachung, ob illegale Inhalte und Waren auf Online-Plattformen verbreitet bzw. vertrieben werden.“
Das WEF hat in seinem Weltrisikobericht auch die Künstliche Intelligenz ganz oben auf die Liste potenzieller Gefahren für das kommende Jahrzehnt gesetzt. Hierzu äußerte sich von der Leyen als „Tech-Optimistin“, die vor allem die Chancen der KI sehe, etwa im Gesundheitsbereich. Wörtlich sagte sie:
„Die KI kann in beispiellosem Tempo die Produktivität steigern. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, und der globale Wettlauf ist zweifelsohne bereits in vollem Gange. Unsere künftige Wettbewerbsfähigkeit hängt von der Einführung der KI im täglichen Geschäftsbetrieb ab. Und Europa muss sich ins Zeug legen und den Weg für eine verantwortungsvolle Nutzung der KI weisen. Einer künstlichen Intelligenz, die die menschlichen Fähigkeiten steigert, die Produktivität verbessert und im Dienst der Gesellschaft steht. Wir sollten dort investieren, wo wir einen Wettbewerbsvorteil haben. Beispielsweise verfügt Europa über Fachkräfte. Es gibt in Europa fast 200.000 Softwareingenieure mit KI-Erfahrung. Das ist eine größere Konzentration als in den Vereinigten Staaten und China. Und unser Kontinent hat auch einen enormen Wettbewerbsvorteil bei Industriedaten. Wir können künstliche Intelligenz an Daten von unübertroffener Qualität schulen. Und darin wollen wir investieren.“
Und dann kam von der Leyen auf die „Weltklasse-Supercomputer“ der EU zu sprechen: „Deshalb werden wir europäischen Start-ups und KMUs Zugang zu unseren Weltklasse-Supercomputern bieten, damit sie ihre großen KI-Modelle entwickeln, trainieren und testen können. Das ist vergleichbar mit dem, was Microsoft an seinen eigenen Supercomputern für ChatGPT tut. Wir werden auch gemeinsame europäische Datenräume in den Dienst von Start-ups stellen. Und wir werden riesige Datenmengen in allen EU-Sprachen zur Verfügung stellen, weil KI auch für nicht englischsprachige Nutzer da sein sollte. Das ist das neu zu erschließende Grenzland im Wettbewerb. Und Europa ist in einer guten Startposition, um bei der industriellen KI führend zu sein – bei der Nutzung von KI, um kritische Infrastrukturen intelligent und nachhaltig umzugestalten.“ Lobend hob sie in diesem Zusammenhang das EU-Gesetz über künstliche Intelligenz hervor (wir berichteten).
Loblied auf die EU
Von der Leyen räumte ein, dass die Regierungen zwar viele der Hebel in der Hand hätten, um den großen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, doch letztlich seien es die Unternehmen, die über Innovation, Technologie und Talente verfügten, die nötig seien, um „Bedrohungen wie den Klimawandel oder groß angelegte Desinformation bekämpfen zu können“. Daher sei die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Regierungen „ganz entscheidend“. Nie zuvor sei es so wichtig gewesen, den öffentlichen und den privaten Sektor enger miteinander zu verzahnen. Denn keine der derzeitigen Herausforderungen mache an Grenzen halt. Die sogenannte öffentlich-private Partnerschaft (Public Private Partnership, kurz: PPP), die von der Leyen hier anpreist, ist allerdings im Grunde nur ein anderer Begriff für den Korporatismus. Kritiker bemängeln an der Vermischung der Interessen von Big Business und Big Government, dass durch die Beteiligung mächtiger Unternehmen politische Entscheidungen teilweise dem demokratischen Prozess entzogen werden. Das WEF versteht sich seinerseits jedoch ausdrücklich als die maßgebliche internationale Organisation für öffentlich-private Zusammenarbeit.
Schließlich sang von der Leyen noch ein etwas kurioses Loblied auf die EU als einer „Union aus 27 Demokratien, in denen wir alle das Recht haben, unsere Meinung zu äußern, wir selbst zu sein, auch wenn wir anders sind als die meisten anderen Menschen“. Diese Freiheit berge allerdings auch Risiken in sich. Es werde immer Versuche geben, diese Offenheit auszunutzen, und zwar sowohl von innen als auch von außen. In diesem Zusammenhang warnte von der Leyen vor Desinformationen in Bezug auf die Lage in der Ukraine. Russland scheitere gerade auf militärischer, wirtschaftlicher und diplomatischer Ebene, während die Ukraine näher denn je an die EU herangerückt sei. Mit großer Freude habe die Kommission im vergangenen Monat beschlossen, mit der Ukraine EU-Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Das werde ein historischer Erfolg für die Ukraine sein. Und Europa stelle sich damit seiner historischen Aufgabe.
Putin habe – so von der Leyen weiter – Europa direkt bedroht, indem er Gaslieferungen eingestellt und Energie als Waffe eingesetzt habe. Doch Europa habe sein energiepolitisches Schicksal wieder in die eigenen Hände genommen. Die Gasspeicher seien weiterhin gut gefüllt, und Europa habe bei der Verbesserung der Krisenfestigkeit seines Energiesystems echte Fortschritte erzielt. Das sei nur durch Zusammenarbeit, gut funktionierende und offene Märkte sowie gute Freunde in aller Welt möglich gewesen. Vor allem aber seien die Umstellung auf saubere Energie sowie Investitionen in effiziente und erneuerbare Zukunftstechnologien ein Erfolgsmodell: Das Kapazitätswachstum bei erneuerbaren Energien in der EU habe 2023 einen neuen Rekordwert erreicht. Auf diese Weise sei „aus Putins Kampfansage eine große neue Chance gemacht“ worden. Die EU habe im vergangenen Jahr erstmals mehr Strom aus Wind- und Sonnenenergie als aus Gas erzeugt. Und in diesem Jahr werde sie erstmals insgesamt mehr Energie aus Windkraft und Photovoltaik beziehen als aus Russland. Außerdem sieht von der Leyen eine europäische Führungsrolle bei Technologie, Entwicklung und Innovation im Bereich der sauberen Energie.
Die Welt durchlebe zwar ein Zeitalter von Konflikten und Konfrontationen, von Fragmentierung und Furcht und stehe erstmals seit Generationen nicht an einem einzelnen Wendepunkt, sondern an einer Vielzahl von Wendepunkten, mit Risiken, die sich überschneiden und gegenseitig verstärken; aber trotz diesem „größten Risiko für die Weltordnung in der Nachkriegsgeschichte“ könne man „mit Optimismus und Entschlossenheit voranschreiten“. Denn die EU beweise Mut, wie man an ihrem Grünen Deal, an ihrem Aufbauplan NextGenerationEU, an ihrer Unterstützung der Ukraine oder ihrer Bewältigung der Pandemie sehen könne. Und von der Leyen schließt mit den Worten: „Die kommenden Jahre verlangen von uns dieselbe Einstellung. Und ich glaube, dass die gemeinsame Stärke unserer Demokratien und unserer Unternehmen und Industrien hier zentral sein wird. Vertrauensbildung ist nötiger denn je, und Europa ist bereit, hier eine Schlüsselrolle zu spielen.“
Was kommt mit der „Krankheit X“
Wesentlich mehr Aufsehen als dieses gebetsmühlenartig wiederholte Selbstlob der EU-Kommissarin erregte allerdings die Rede des argentinischen Präsidenten Javier Milei. Schon sein erster Satz wirkte wie ein Paukenschlag: „Heute bin ich hier, um Ihnen zu sagen, dass die westliche Welt in Gefahr ist. Sie ist in Gefahr, weil diejenigen, die die westlichen Werte verteidigen sollen, von einer Weltanschauung korrumpiert sind, die unaufhaltsam in den Sozialismus führt – und damit in die Armut“. Kollektivistische Experimente seien nie eine Lösung für die Probleme der Bürger dieser Welt, sondern im Gegenteil deren Ursache. Milei weist sich in seiner Rede als entschiedener Fürsprecher für den Kapitalismus aus, und man fragt sich: Fungiert er als kritisches Feigenblatt für den WEF oder wirbt er lediglich um die Gunst von Unternehmen? Wie dem auch sei. Milei endete mit dem für ihn typischen Ausruf: „Es lebe die Freiheit – verdammt!“ Und so ein Ausruf klingt in Davos auf jeden Fall erfrischend. Milei erreichte im YouTube-Kanal des WEF denn auch eine weit überdurchschnittliche Zahl von Aufrufen.
Ebenfalls nicht ganz uninteressant war die Podiumsdiskussion zur sogenannten „Krankheit X“ am Mittwoch. Dabei dient der Terminus „Krankheit X“ als Platzhalter für beispielsweise unvorhersehbare Pandemien, auf die sich die Weltgemeinschaft aber dennoch vorbereiten müsse. So stand die Frage im Mittelpunkt, welche „neuen Anstrengungen erforderlich seien, um die Gesundheitssysteme auf die zahlreichen künftigen Herausforderungen einzustellen“. Federführend dabei war die WEF-Initiative „Partnership for Health System Sustainability and Resilience and the Collaborative Surveillance Initiative” (kurz: PHSSR, zu deutsch ungefähr: Partnerschaft für Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit von Gesundheitssystemen und der Gemeinschaftlichen Überwachungsinitiative). Die PHSSR betreibt nach eigenen Angaben eine „gemeinnützige, globale Zusammenarbeit zwischen akademischen, nichtstaatlichen, wissenschaftlichen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Organisationen mit dem gemeinsamen Ziel, die globale Gesundheit durch den Aufbau nachhaltigerer und widerstandsfähigerer Gesundheitssysteme für die Zukunft zu verbessern“. Zu ihren Mitgliedsorganisationen gehören u.a. die WHO Foundation, der Pharmakonzern AstraZeneca, die London School of Economics and Political Science (LSE), das Medizintechnik-Unternehmen Philips und die Stiftung „Center for Asia-Pacific Resilience and Innovation“ (CAPRI), die eine innovative öffentliche Politik („innovative public policy“) im asiatisch-pazifischen Raum fördert. Stöbert man ein wenig auf der PHSSR-Website, stößt man auf eine Studie zur „Health System Governance“ in Deutschland von Februar 2021, die von AstraZeneca finanziert wurde.
Daneben betriebt das WEF auch noch das Centre for Health and Healthcare (Zentrum für Gesundheit und Gesundheitswesen), das sich laut Selbstauskunft „für bahnbrechende Strategien zur Verbesserung der globalen Gesundheitsversorgung“ engagiert, „um das Wohlergehen der Menschen in allen Gesellschaften und Nationen zu gewährleisten“. Dazu setzt es auf „neue Partnerschaften zwischen Regierungen und Unternehmen“, die „die jüngsten Fortschritte der Vierten Industriellen Revolution“ nutzen, um die Gesundheitsversorgung weltweit zu verbessern. Beteiligt sind aktuell 87 Geschäftspartner und 48 Technologie-Pioniere, die allerdings nicht namentlich genannt werden. Schaut man sich insgesamt die Partnerschaften des WEF zum Thema Gesundheit an, fallen einem neben AstraZeneca Namen auf wie Pfizer, Moderna, Johnson&Johnson, Bayer, Merck, Nestlé, Novartis, Roche und natürlich die Bill & Melinda Gates Foundation sowie der Wellcome Trust. Welche Interessen der WEF vertritt, ist also klar. Es geht der Stiftung weniger um „das Wohlergehen der Menschen in allen Gesellschaften und Nationen“ als um das Wohlergehen der Konzerne. Und es wird augenfällig, wie sehr Medizin mittlerweile ein Bereich der Politik geworden ist. Ausgehend von den UN-Institutionen wie der WHO werden mit Hilfe von einflussreichen Stiftungen Vorgaben bis hin zu nationalen Behörden wie etwa dem Robert Koch-Institut heruntergebrochen, die einzig den Interessen der global agierenden Unternehmen und Finanzträgern dienen.
Prominentester Teilnehmer am Panel zur „Krankheit X“ war denn auch WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus, der – wenig überraschend – darauf insistierte, dass der geplante Pandemievertrag tatsächlich in diesem Jahr noch abgeschlossen wird. Was er nicht ausspricht: Dieser Vertrag würde ihm immensen politischen Einfluss sichern (wir berichteten). Außerdem plädierte er für einen gerechten Zugang etwa zu Impfstoffen, die auf mRNA-Technologie basieren, auch in ärmeren Ländern. Dagegen hatten natürlich auch die eingeladenen Unternehmensvertreter wie Michel Demaré von AstraZeneca oder Roy Jakobs vom Gesundheitstechnologie-Konzern Philips nichts einzuwenden. Einigkeit herrschte auch darüber, dass Digitalisierung und Künstliche Intelligenz im Gesundheitssektor sowie die Erhebung und der Austausch von Gesundheitsdaten wichtig seien.
Guterres hat etwas vergessen
Nennenswert sind noch weitere Reden und Podiumsbeiträge wie etwa von Selenskyj, Guterres, Lagarde, Stoltenberg, Herzog und Macron. Wolodymyr Selenskyj hob hervor, dass Putin, den er mit einem Raubtier verglich, Krieg verkörpere, und kritisierte die zögerliche Waffenlieferung des Westens an die Ukraine. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der sich mit Selenskyj traf, stellte fest : „Russland hat verloren, was es mit dem Krieg erreichen wollte, nämlich die Kontrolle über die Ukraine.“ Israels Staatspräsident Izchak Herzog warnte vor dem Iran und den von ihm finanzierten Milizen und betonte, dass Israel derzeit einen Krieg „für die freie Welt“ führe. UN-Generalsekretär António Guterres flüchtete sich dagegen in Verallgemeinerungen und sagte: „Von der russischen Invasion in der Ukraine über den Sudan bis hin zum Gaza-Streifen – die Konfliktparteien ignorieren das Völkerrecht, treten die Genfer Konventionen mit Füßen und verletzen sogar die Charta der Vereinten Nationen. Die Welt sieht zu, wie Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder, getötet, verstümmelt, bombardiert, aus ihren Häusern vertrieben und ihnen der Zugang zu humanitärer Hilfe verwehrt wird.“
Dann fügte Guterres doch noch hinzu: „Ich wiederhole meine Forderung nach einem sofortigen humanitären Waffenstillstand im Gazastreifen und einem Prozess, der zu einem dauerhaften Frieden für Israelis und Palästinenser auf der Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung führt.“ Sollte er wirklich vergessen haben, dass Gaza schon seit 2005 von Israel komplett verlassen und seit 2007 von der Hamas regiert worden ist? Und dass schon 1947 die von der UN beschlossene Teilung Palästinas unter Juden und Araber scheiterte, weil sie von arabischer Seite abgelehnt wurde, und Israel gleich am Tag nach seiner Staatsgründung von den Armeen fünf arabischer Staaten angegriffen wurde? Aus Guterres Äußerungen spricht in Wahrheit dieselbe Israelfeindlichkeit, die auch der langen Liste von einseitig antiisraelischen UN-Resolutionen zugrunde liegt.
In erster Linie warnte Guterres aber vor dem Klimawandel und gab pseudowissenschaftliche Narrative zum Besten wie: „Unser Planet steuert auf einen Anstieg der globalen Temperaturen um drei Grad zu.“ Und: „Das Jahr 2023 wurde als das wärmste Jahr aller Zeiten registriert. Aber es könnte eines der kältesten Jahre der Zukunft werden.“ Und der lupenreine Sozialist forderte „wirksame Mechanismen der Global Governance.“ Die „Wiederherstellung des Vertrauens“ erfordere „tiefgreifende Reformen der Weltordnungspolitik, um geopolitische Spannungen in einer neuen Ära der Multipolarität zu bewältigen“. Diese müsse auf der Grundlage der UN-Charta und des Völkerrechts auf den neuesten Stand gebracht werden, der „auf Gleichheit und Solidarität beruht“. Und Guterres kündigte ein UN-Gipfeltreffen (Summit of the Future) im September an, das sich mit „grundlegenden Reformen der globalen Finanzarchitektur“ befassen werde. Ein globaler digitaler Pakt könne den SDGs (Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030) neue Impulse verleihen und dazu beitragen, Daten gemeinsam zu nutzen und digitale öffentliche Güter zu schaffen. Dafür sei die Einbeziehung des Privatsektors erforderlich, der führend in Sachen KI-Expertise und Ressourcen sei. An die anwesenden Unternehmer adressiert, ergänzte Guterres: „Wir brauchen Ihr uneingeschränktes Engagement bei unseren Bemühungen, ein vernetztes und anpassungsfähiges Governance-Modell zu entwickeln, das von mehreren Interessengruppen getragen wird. Ich glaube, dass die UNO eine zentrale Rolle bei der Einberufung spielen sollte.“
Alle wollen also eine zentrale Rolle spielen: Tedros (WHO), Guterres (UNO), von der Leyen (EU) und Klaus Schwab (WEF) sowieso. Und was ist mit Christine Lagarde (EZB)? Lagarde gab zu: „Was wir im Moment sehen, ist eindeutig eine rückläufige Aktivität im Vergleich zu einem hervorragenden Jahr 2022, in dem das Wachstum 3,4 Prozent betrug.“ 2023 habe die Wachstumsprognose bei 0,5 Prozent gelegen. Es sei also kein brillantes Jahr gewesen, aber doch viel besser als befürchtet. Die Inflation sei allerdings auf jeden Fall viel zu hoch. Lagarde wörtlich: „Die EZB ist entschlossen, die Inflationsrate zeitnah auf 2 Prozent zu senken, und wir ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen, um dies zu erreichen.“ Aha, auch Frau Lagarde möchte natürlich ihren Einfluss ausüben.
„Deutschland ist lediglich müde“
Einer der begehrtesten Gäste in Davos war jedoch Sam Altman von der ChatGPT-Firma OpenAI, der es begrüßte, dass Künstliche Intelligenz allmählich demystifiziert werde, weil sie von den Menschen nun in der Realität angewendet werde. Satya Nadella, CEO von Microsoft, sprach sich für einen „Multi-Stakeholder“-Ansatz aus und verriet, dass sein Unternehmen in den letzten Jahren rund 13 Milliarden Dollar in OpenAI investiert habe. Emmanuel Macron pries den Standort Frankreich an, und Christian Lindner behauptete, dass Deutschland nicht der „kranke Mann Europas“ sei, sondern lediglich müde und einfach nur einen Kaffee brauche – womit er strukturelle Reformen meinte –, um wirtschaftlich wieder erfolgreich zu sein. Auch der chinesische Ministerpräsident Li Qiang, der zweitmächtigste Mann Chinas, sprach über die Errungenschaften der chinesischen Wirtschaft. Und IWF-Direktorin Kristalina Georgieva, Weltbank-Präsident Ajay Banga, WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala sowie Klaus Schwab-Buddy Al Gore durften natürlich ebenfalls nicht fehlen.
Wer möchte, kann noch im Nachhinein stundenlang Videomaterial sichten und beispielsweise Veranstaltungen beiwohnen mit so vielversprechenden Titel wie „Wenn das Klima Ihre Gesundheit beeinträchtigt“ („When Climate Impacts Your Health“) oder „Generative KI: Dampfmaschine der vierten industriellen Revolution?“ („Generative AI: Steam Engine of the Fourth Industrial Revolution?“). Zur Vertiefung lassen sich auf der Website des WEF zudem noch thematisch begleitende schriftliche Publikationen herunterladen wie etwa „Kooperationsrahmen für die regionalisierte Impfstoffherstellung: Ein Konzept zur Verbesserung des Zugangs zu Impfstoffen durch regionalisierte Produktionsökosysteme“ („Regionalized Vaccine Manufacturing Collaborative Framework: A Framework for Enhancing Vaccine Access Through Regionalized Manufacturing Ecosystems“), „Quantifizierung der Auswirkungen des Klimawandels auf die menschliche Gesundheit“ („Quantifying the Impact of Climate Change on Human Health“) oder „Die Umsetzung des Europäischen Green Deal: Eine Perspektive des Privatsektors“ („Delivering on the European Green Deal: A Private-Sector Perspective“).
In einem kurzen Videoclip mit den Highlights des diesjährigen Treffens zieht das WEF die Erfolgsbilanz: „Fast 3.000 Menschen aus mehr als 125 Ländern kamen zusammen, um sich mit einem breiten Spektrum von Themen zu befassen, darunter globale Zusammenarbeit, Wirtschaftswachstum, KI-Entwicklung und Klimakrise.“ Als seine Mission formuliert das WEF: „Wir sind davon überzeugt, dass Fortschritt dadurch entsteht, dass wir Menschen aus allen Bereichen des Lebens zusammenbringen, die den Willen und den Einfluss haben, positive Veränderungen zu bewirken.“ Fragt sich nur, warum angesichts all der Erfolge, die das 1971 von Klaus Schwab ins Leben gerufene WEF angeblich vorzuweisen hat, die Welt in den letzten 50 Jahren nicht schon längst zu einem Paradies geworden ist, sondern im Gegenteil derzeit von einer „sich verschärfenden Polykrise“ gezeichnet ist.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.