Zur verbreiteten Krankheitsbeschreibung „Ich hab Rücken“ kommt nun eine zweite hinzu: „Ich hab Elektrofahrrad“. Vergangene Woche traf ich eine alte Bekannte, die sportliche Sophie, sichtlich angeschlagen mit einer Schiene am Knie. Da die Skisaison noch nicht angefangen hat, musste das Malheur eine andere Ursache haben. Schuld war, so stellte sich heraus, ein sonntäglicher Unfall auf dem Chiemsee-Radweg mit dem neu erstandenen Elektro-Fahrrad. Das scheint öfter vorzukommen, jedenfalls fragte der Unfallchirurg bei Sophies Einlieferung ins nächstgelegene Spital nur trocken: „Elektrorad?“
Elektoräder, auch „Pedelecs“ genannt, sind so etwas wie das Viagra für den Zweiradverkehr wohlhabender Pensionisten. Nach Angaben des Fahrrad-Clubs ADFC gibt es in Deutschland mittlerweile rund 3,5 Millionen Pedelecs. Allein 2017 seien knapp 700.000 neu hinzugekommen. Wie der geölte Blitz sausen Männlein und Weiblein damit über Stadt und Land, vergessen dabei aber, dass höhere Geschwindigkeiten naturgemäß mit einem längeren Bremsweg einhergehen. Auch das Fehlen eines Airbags wird meist erst nach dem Abflug bemerkt. Alleine 2017 leistete das Pedelec in 68 Fällen Zubringerdienste für die letzte Reise, die meisten der Betroffenen waren über 70 Jahre alt. Insgesamt wurden über 5.000 Verletzte registriert.
Es handelt sich um einen typischen „Racheeffekt“, den ich an dieser Stelle schon öfter mal erwähnte. Das ist ein häufig verblüffendes und auch kurioses Phänomen, bei dem neue technische Lösungen unerwartete neue Probleme hervorbringen. Ein einfaches Beispiel sind die starren, eng anliegenden Skistiefel, die die Zahl der Knöchel- und Schienbeinbrüche erfolgreich gesenkt haben. Allerdings mit einem kleinen Nachteil: Der Fortschritt geht nun auf Kosten des vorderen Kreuzbandes im Kniegelenk. Das Elektrofahrrad erlaubt es auch Menschen fortgeschrittenen Alters, selbst alpine Steigungen ohne Gefahr für Herz und Kreislauf zu erklimmen. Mit dem Elektrofahrrad geht es gleichsam immer bergab. Manchmal allerdings auch in des Wortes doppeltem Sinne: Dann nämlich, wenn sein Lenker hinter der nächsten Biegung frontal auf einen entgegenkommenden E-Pedalisten trifft.
Brikett statt Schweinsbraten
Besonders beeindruckend finde ich die Piloten elektrischer Lastenfahrräder, die mit gebieterischem Gesichtsausdruck den innerstädtischen Verkehr teilen wie Moses das Rote Meer. Es handelt sich entweder um junge Frauen ohne Makeup oder junge Männer mit Vollbart, die ihren Nachwuchs im morgendlichen Berufsverkehr zum Hort chauffieren. Um diese Kinder müssen wir uns keine Sorgen machen, sie leben mit der täglichen Bedrohung und können entsprechende Immunkräfte aufbauen. Vermutlich werden einige von ihnen nach dem Heranwachsen eine Karriere als Truckdriver ergreifen, um mit ihrem 30-Tonner das Nullenergiehaus ihrer Eltern platt zu machen.
Elektrische Fahrräder und Motorroller sind, im Gegensatz zum Elektroauto, verblüffend erfolgreiche Fahrzeuge. Der grüne Zeitgeist verbucht sie gerne unter dem Stichwort der verkehrsmäßigen Abrüstung, was aber nicht ganz stimmt. Es handelt sich wohl eher um eine Aufrüstung, denn die meisten besaßen schon vorher ein Fahrrad. Doch nun treten an die Stelle des Muskelantriebs – zumindest teilweise – eine Batterie und ein Elektromotor. Musste man bisher für eine Runde um den Chiemsee eine halbe Maß Bier und eine Schweinshaxe verbrennen, was der eigentliche Sinn der ganzen Aktion war, fährt man jetzt mit Windpower und lässt ein paar Fledermäuse schreddern. Bei Flaute und Regen zündet das Kraftwerk für den E-Pedalisten ein Brikett aus Hambach an, damit schafft er vermutlich sogar zwei Runden um den Chiemsee. Ich persönlich bleibe beim Schweinsbraten, respektive einem bayrischen Wurstsalat und warte wie ein flügellahmer Formel-1-Fahrer darauf, dass sie mich überrunden.