Alexander Wendt / 16.07.2018 / 06:25 / Foto: Pixabay / 28 / Seite ausdrucken

Der offene Fall

Wem in Deutschland sagt der Name Ömer Güney etwas? Selbst Ermittler, Journalisten und Politiker, die sich über Jahre in viele Details des NSU-Komplexes eingearbeitet hatten, können mit dem Namen in der Regel nichts anfangen.

Juristisch gilt der Komplex des Nationalsozialistischen Untergrunds mit dem Urteil gegen Beate Zschäpe und eine Reihe weiterer Angeklagter seit dieser Woche als abgeschlossen. Die beiden, die als Köpfe des NSU galten, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, kamen bekanntlich schon am 4. November 2011 ums Leben. Das Urteil gegen ihre Komplizin Zschäpe – lebenslange Haft – geht als Novum in die Rechtsgeschichte ein: einer Frau, der die Staatsanwaltschaft nicht in einem Fall nachweisen konnte, an einem der 27 NSU-Tatorte dabei gewesen zu sein,  wurde die Mittäterschaft zur Last gelegt aufgrund ihrer Verbindung mit zwei Männern, deren DNA sich an keinem der 27 Tatorte fand.

Aber zurück zu Ömer Güney. Er gehört nicht zu den neun Toten der so genannten Ceska-Serie –  den Morden an türkisch-kurdischen Kleinunternehmern, die zwischen den Jahren 2000 und 2006 dem NSU-Urteil zufolge mit einer schallgedämpften 7,65-Millimeter-Ceska-Pistole in Deutschland erschossen wurden. Güney war ein Täter – ein mutmaßlicher Agent des türkischen Geheimdienstes MIT. Er erschoss am 19. Januar 2013 im Kurdistan Informations-Center in Paris diedrei kurdische PKK-AktivistinnenSakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Söylmez.

Als Waffe benutzte er eine schallgedämpfte Browning des Kalibers 7,65 Millimeter. Nicht nur in Kaliber und Ausstattung der Tatwaffe glich der Dreifachmord den Morden der Ceska-Serie, sondern auch in den anderen Umständen: Es waren professionelle Hinrichtungsmorde am Arbeitsort der Opfer. Die französische Polizei überführte Güney; die Tat führte zu erheblichen diplomatischen Verwerfungen zwischen Paris und Ankara. Die türkische Regierung wies jede Verantwortung für die Exekutionen zurück. Für Januar 2017 war der Mordprozess angesetzt. Kurz vorher klagte Güney über unklare Kopfbeschwerden, er wurde aus der U-Haft in ein Pariser Krankenhaus verlegt. Dort verstarb er am 17. Dezember 2016 unter ungeklärten Umständen.

Sehr viele lose Fäden

Die französischen Ermittler fanden einiges über Güneys Lebensweg heraus. Unter anderem, dass er von 2003 bis 2011 in Deutschland gelebt hatte, genauer, in Bayern. Drei Opfer der Ceska-Serie starben bekanntlich in Nürnberg, zwei in München. In französischen und englischsprachigen Medien gab es eine Fülle von Berichten über Güney und die Morde, in Deutschland nur sehr wenige. Aber kein Artikel stellte einen Zusammenhang mit den Exekutionsmorden gleichen Stils in Deutschland her. Auch der Autor verfügt nicht über einen bisher unbekannten Beleg. Dieser Artikel dient nur der Zusammenstellung von Fakten, die möglicherweise überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Natürlich dient diese Zusammenstellung auch weder der verbotenen PKK, noch stellt sie die Existenz des NSU in Frage. Dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in Jena versucht hatten, eine Bombe zu bauen, dass sie für eine Serie von Banküberfällen und einen Sprengstoffanschlag verantwortlich waren – dafür gibt es Belege. Das Blut der 2007 in Heilbronn erschossenen Polizistin Michèle Kiesewetter fand sich auf einer Jogginghose, die Uwe Böhnhardt zugeordnet wurde.

Die Frage, die sich aus Sicht von etlichen Mitgliedern des Bundestags-Untersuchungsausschusses zum Komplex NSU nie befriedigend klären ließ, lautet: Wie passen die Hinrichtungen von acht türkischen Kleingewerbetreibern und einem Griechen in Ladenlokalen zwischen München und Rostock – jedes Mal ohne verwertbare Spuren – zu dem Täterprofil der beiden Uwes? Woher hatten reisende Täter derart gute Ortskenntnisse? Das Ladenschild des Geschäfts in Köln, in dem die NSU-Täter laut  Gerichtsurteil 2001 einen Sprengsatz deponiert hatten, lautete „Lebensmittel Getränkehandel Gerd Simon“. Dass tatsächlich ein aus dem Iran stammender Unternehmer das Geschäft führte, konnte kein Durchreisender wissen.

Warum endet die Ceska-Serie 2006, obwohl die NSU-Täter bis November 2011 aktiv waren und über ein ganzes Arsenal an Waffen verfügten, inklusive der Ceska? Warum kam die Ceska nur bei den Hinrichtungen der Geschäftsleute zum Einsatz, aber weder bei einem der Banküberfälle noch bei der Ermordung Michèle Kiesewetters?

Auf Nachfrage wollte Zschäpes Anwalt Wolfgang Heer nicht kommentieren, ob der Fall Güney in Paris in seiner Verteidigung eine Rolle gespielt hatte. Der ehemalige Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses Clemens Binninger sagte, wenn der Name und die Morde in Paris vorgekommen sein sollten, dann jedenfalls nicht prominent. In dem Komplex NSU finden sich sehr viele lose Fäden, von denen viele ins Leere führen. Manche wurden möglicherweise nicht ausreichend verfolgt.

Möglicherweise gibt es einfach nur viele offene Fragen

Zu den ungeklärten Punkten gehören auch die so genannten Bekenner-Kassetten – aufwendig geschnittene DVDs mit Bildern der Ermordeten aus der Ceska-Serie, unterlegt mit rechtsradikaler Musik und dem NSU-Logo. Obwohl die Mordserie 2006 endete, wurden einige DVDs erst nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos verschickt, die meisten fielen in die Hände der Polizei. In der von Explosion, Feuer und Löschwasser verwüsteten Wohnung Zschäpes in der Zwickauer Frühlingsstraße fanden die Beamten 2011 nach Angaben der Bundesanwaltschaft 35 versandfertige Briefumschläge mit Kassetten. Sechs weitere Exemplare fanden sich in einem Rucksack aus dem ausgebrannten Wohnmobil von Böhnhardt und Mundlos – allerdings erst bei einer nochmaligen Durchsuchung des Rucksacks nach dem 4. 11. 2011. Zu dem Rucksack fand sich sogar eine Kaufquittung – er wurde zwei Tage vor dem Tod der beiden Uwes erworben.

Fest steht, dass eine DVD zu einem Zeitpunkt in den Briefkasten einer Zeitung gesteckt wurde, als Zschäpe schon in U-Haft saß. Dokumentiert durch Aussagen von BKA-Beamten in dem Prozess ist außerdem, dass Strom- und Wasserverbrauch der Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße – dem Quartier also, das bis zuletzt Quartier des NSU-Trios gewesen sein sollte –  eher für eine Person passte als für drei. Der NSU-Untersuchungsausschuss hielt auch fest, dass die Ermittler den Rechner nie aufspürten, auf dem die Endversion des Bekennervideos hergestellt wurde.

Möglicherweise gibt es – wie gesagt – einfach nur viele offene Fragen zum NSU und gleichzeitig erstaunliche Ähnlichkeiten der Ceska-Morde mit der dreifachen Hinrichtung in Paris 2013. Vielleicht finden französische und/oder deutsche Fahnder irgendwann etwas zu den deutschen Jahren von Ömer Güney, und es stellt sich heraus, dass sich keine Fäden seines Falls mit dem des NSU berühren.

Die Familien der drei erschossenen PKK-Aktivistinnen setzten jedenfalls im Februar 2017 durch, dass der Komplex Güney und Parisnoch einmal untersucht wird.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Alexander Wendts Publico

Zu den offenen Fragen im NSU-Komplex gibt es die sehenswerte ZDF/3sat-Dokumentation "Kampf um die Wahrheit" und zu einigen interessanten Details des NSU-Prozesses ist der ARD-Film "Heer, Stahl und Sturm" zu empfehlen.

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Alexander Rostert / 16.07.2018

Interessant wäre auch die Frage, wozu man sich eigentlich die Mühe machen soll, als Neonazi über Jahre hinweg türkische (oder vielmehr und komischerweise hauptsächlich kurdische) Gemüsehändler zu erschießen, wenn kein Mensch diese Tatserie mit Neonazis in Verbindung bringt und also auch nicht mit “Terror”. Ich dachte bisher immer, Terroristen gleich welcher Couleur legten Wert darauf, dass ihre Taten auch ausdrücklich als Terror gewürdigt würden. Vielleicht deshalb die angebliche Bekenner-CD - nach Jahren des vergeblichen Mühens um öffentliche Wahrnehmung. Schade nur, dass sie dann zu Lebzeiten der “NSU-Terroristen” nie in Umlauf gebracht wurde bzw. verblüffend, dass ihr letztlicher Versand dann nach einem Dutzend Jahren zeitlich exakt mit dem Zugriff auf das Trio zusammenfiel. Merkwürdig auch das gehäufte Frühableben von wichtigen Zeugen, bevor sie vor Gericht aussagen konnten. Der gesamte NSU-Komplex ist so voller Ungereimtheiten und die ganze Sache stinkt so sehr gegen den Wind nach wohlfeilem (weil rechtsradikalem) Bauernopfer, nach V-Leuten, die man aus politischen Gründen über die Klinge springen lässt, nach internationalen Geheimdienstverwicklungen und einem bei den meisten Morden völlig anderen Tathintergrund, dass das Verfahren hätte eingestellt werden müssen - oder die Zschäpe bei der vorliegenden Anklage freigesprochen aus Mangel an Beweisen. Aber sicher nicht vor einem deutschen Gericht des Jahres 2018.

Stefan Lanz / 16.07.2018

Der Fall bleibt offen, ja. Aber keine Beweise für Zschäpes Mittäterschaft? Warum wurde sie dann zB. beim Ausspähen eines Tatorts gesehen? Warum hat sie in der gemeinsamen Wohnung Feuer gelegt? Warum hat sie nicht vollumfänglich Mittäter benannt? Sie hat also die Taten nicht nur gedeckt und mitorganisiert, sondern war auch aktiv an den Taten beteiligt. Was hätte man den gerne für ein Urteil gehabt? Einen Freispruch? Nicht ihr Ernst, oder?

beat schaller / 16.07.2018

Sehr interessant Herr Wendt. Es bleiben in der Politik eben viel zu viele Fragen offen, wenn etwas nicht ins Bild passen soll! Schon viel zu lange und viel zu oft. Die mysteriösen Toten in England, welche Putin und Russland angelastet werden, obwohl nicht bewiesen, lassen grüssen. Es wird versanden und wohl bei den meisten Menschen in Vergessenheit geraten….bis dann wieder mal etwas neues herauskommt, aber dann hat man sich schon daran gewöhnt und lebt in der “geschützten Werkstatt” des angenehmen Lebens weiter. Danke für den Bericht. b.schaller

H.U.Sperling / 16.07.2018

Ich vermute mal, dass die Richter in Gelsenkirchen der AFD nahe stehen. Wieviel Werbespots müßte man schalten, um den gleichen Zuwachs an Wählerstimmen zu erreichen.

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