Der Fortschritt ist umkehrbar

Die Welt wird aufgeklärter, wohlhabender, egalitärer und am Ende steht das „Ende der Geschichte“? Denkste. Wer die Menschen der Gegenwart für nicht besser hält als jene der Vergangenheit liegt meistens richtiger.

Im Westen, insbesondere in den USA und in Deutschland, dominiert ein „progressives Geschichtsbild“. Das heißt, Geschichte wird als Fortschrittsprozess mit einer klaren Ziellinie begriffen. Die Welt wird aufgeklärter, wohlhabender, egalitärer und am Ende steht das „Ende der Geschichte“. In dieser globalen Idealwelt gibt es nur noch Weltinnenpolitik, Unterschiede zwischen Nationalitäten und Konfessionen gehören genauso der Vergangenheit an wie die zwischen Geschlechtern und sozialen Schichten. In dieser Welt besitzt jeder Erdenbürger gleichberechtigt einen Anspruch auf Gesundheit,  soziale Sicherheit uns saubere Umwelt. Aus dem Recht auf Streben nach Glück wird der Anspruch auf Glück an das global aufgeklärte Weltkollektiv.

Der Gegenpol zum progressiven Weltbild ist das tragische Weltbild. Das tragische Weltbild geht davon aus, dass Geschichte die „ewige Widerkehr des ewig Gleichen“ ist. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts sind demnach nicht grundsätzlich klüger, aufgeklärter und einsichtsfähiger und weniger irrational als die Menschen des 19. Jahrhunderts und der Jahrhunderte davor. Macht, Konflikte und Ungleichheit werden die Zukunft genauso bestimmen wie die Vergangenheit. Wir können immer nur partiell die Lage verbessern, konkrete Probleme lösen und das Schlimmste verhindern. Wir können für eine gewisse Zeit einzelne Inseln der Freiheit und des Wohlstandes schaffen, aber die Zivilisation ist von der Barbarei immer nur eine Generation entfernt.

Folgen für die Vorstellung von Demokratie

Das „progressive Geschichtsbild“ ist im Westen heute das dominante, das „tragische Geschichtsbild“ wohl die Haltung einer starken Minderheitsposition. Viele Menschen sind sich nicht bewusst, dass sie dem einen oder anderen Geschichtsbild anhängen, aber es macht einen gewaltigen Unterschied und erklärt viele unterschiedliche Haltungen. Für die Progressiven sind die Tragiker gewollt oder ungewollt Verteidiger eines ungerechten Status quo. Für die Tragiker sind die Progressiven gefährliche Schwärmer, die die Lage durch ihren Moralismus noch schlimmer machen, als sie ohnehin ist. Es handelt sich nicht nur um abstrakte Einstellungen, sondern um verschiedene Mentalitäten und psychologische Grundhaltungen. Fast jeder Mensch lässt sich der einen oder anderen Kategorie zuordnen.

Das vorherrschende progressive Geschichtsbild hat Folgen, sowohl für die Vorstellung von Demokratie als auch von internationaler Politik. Für die Demokratie hat es die Folge, dass grundsätzlich nur Positionen akzeptiert werden, die den „Fortschritt“ nicht grundsätzlich infrage stellen. Zwischen den Parteien darf über den richtigen Weg in dieses globale Utopia gestritten werden. Progressive können Kompromisse akzeptieren, die einzelnen Gruppen die Anpassung an den Fortschritt leichter machen, aber die Richtung der historischen Entwicklung selbst darf nicht infrage gestellt werden. Die Widersacher und Feinde des Fortschritts sind aus ihrer Sicht diejenigen, die diese Entwicklung stören, behindern oder sogar einen schlimmen „Rückfall“ verursachen.

Mit dem „Falschen“ darf es keinen Kompromiss geben

Die Anhänger des tragischen Geschichtsbildes können pragmatischer handeln, weil sie mit der Unvollkommenheit der Welt leben können. Sie gehen etwa davon aus, dass die internationale Politik früher wie heute ein Kampffeld von Groß- und Mittelmächten um Macht und Einfluss-Sphären ist. Sie setzten sich nur zeitlich und regional begrenzte Ziele. Ihnen geht es um partikulare Interessen, darum, Katastrophen abzuwenden und konkrete Probleme zu lösen, ohne den Anspruch, sie für immer und für alle zu lösen. Das ist für die Anhänger des progressiven Geschichtsbildes unmöglich zu akzeptieren. Wenn nicht alle erlöst sind, dann ist niemand erlöst, oder wie Adorno sagte: Es gibt kein richtiges im Falschen. Mit dem „Falschen“ darf es keinen Kompromiss geben.

Die Schock-Wirkung, die der Sieg der Taliban in Afghanistan und Putins Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat, hängt eng mit dem progressiven Geschichtsbild zusammen, denn beides, den Sieg einer fundamentalistischen Gruppe und den Krieg einer Großmacht um Land und Einflusszonen, dürfte es auf unserer Stufe der Entwicklung eigentlich gar nicht mehr geben. Ebenso basiert die Hoffnung auf die „Zivilgesellschaft“ darauf, dass die Welt einen fortschrittlichen Zustand erreicht hat, der unumkehrbar ist. Wer hingegen die Menschen und Mächte des Jahres 2022 für nicht besser oder grundlegend verschieden von denen des Jahres 1922, 1822 oder 1722 hält, wird weniger überrascht sein. Nur weil wir heute mit Handy und Internet kommunizieren, heißt das nicht zwangsläufig, dass sich die Natur des Menschen gewandelt hat.

Die einen haben gelernt, die Unvollkommenheit der Welt zu akzeptieren, für die anderen ist das schier unerträglich.

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Jakob Mendel / 23.06.2022

Ich schlage vor, Anhänger des progressiven Geschichtsbilds zu fragen, was denn „Fortschritt“ sei, auf einer druckreifen Definition zu bestehen und nicht lockerzulassen, bis alle Phrasen getilgt sind.

Matthias Keller / 23.06.2022

Ich habe die einen Teil der Coronazeit damit verbracht mir ein paar interessante Monolitenforschungen auf youtube anzusehen. Pyramiden und Obelisken die eine erstaunliche größe haben und angeblich von Menschen die direkt aus der Steinzeit kamen gabaut worden sind. Man könnte nun auf die Idee kommen das unsere hochtechnische Zivilisation vielleicht nicht die erste auf Erden ist und vielleicht auch nicht die letzte.

Jakob Mendel / 23.06.2022

@J. Braun: Ich erlaube mir zu widersprechen. Wenn kluge Leute heiraten und kluge Kinder bekommen (ob das an den Genen liegt oder an der Förderung, die kluge Eltern ihren Kindern angedeihen lassen, kann hier dahingestellt bleiben), weniger kluge Leute aber seltener heiraten oder weniger Kinder bekommen, steigt die *durchschnittliche* Intelligenz der betrachteten Population. (Was zivilisatorische Katastrophen zugegebenermaßen nicht ausschließt. Aber das war ja auch nicht Ihr Punkt.)

Fred Burig / 23.06.2022

@martin schumann:”... Die Menschen waren früher sicher nicht dümmer als wir heute. Sie haben nur nicht so viel gewusst.” Da eine Redewendung sinngemäß aussagt, dass Wissen Macht ist, hätten wir dann wohl jetzt mit mehr Wissen auch mehr Macht. Aber “nichts wissen” macht scheinbar nach wie vor nichts! Denn wie sonst könnten dann grüne Politiker gar an die Hebel der Macht gekommen sein - besonders so eine Hupfdohle, wie die Außendienstlerin! MfG

Hans Meier / 23.06.2022

Also mir gefällt die „souveräne Demokratie der Isländer sehr gut“ wo freie Wikinger schon vor über tausend Jahren, ihre Things abgehalten, und Mehrheitsbeschlüsse, gefasst haben. Da „handelten und beschlossen die Familien-Oberhäupter einer freien, ganz ursprünglichen Demokratie“. Was dann unter den Anglikanern entstand, war schon keine echte Demokratie mehr, „wo die Lords den Ton und das Kommando hatten, wer residierte und wer parrierte“. Noch schlimmer scheint mir diese „Konsumdemokratie im Westen, wo eine McDonald`s-Kundschaft zwar offiziell wählen darf, aber die Finanzkönige von New York dem Präsidenten, ganz gleich von welcher Coleur, „die Politik, bestimmen, die ihnen die besten Renditen bescheren, und die größten Abhängigkeiten der Bevölkerungen organisieren“. Die “USA-Wirtschaft teil sich in 20% was mit Werten machen, in 80% Dienste und Finanzen, bei den 20%” sind auch „die 3% Bumbumindustrie, mit den höchtsen Renditen und Kurswerten, die Lieblinge der US-Finanzkönige, die das Sagen in der Politik haben“. Die für Krieg, für Bumbum-Absatz und Nachlieferungen an Bumbum, für höchste Steuersummen für die Bumbumbranche die Politik dominieren. Wo sind da denn noch „Spuren von einer echten Demokratie“?

A. Ostrovsky / 23.06.2022

Ich schreibe hier einmal einen offenen Brief an Elon Musk: Lieber Elon, ich erkennen, dass es da zwischen Dir und dem Bill Gates ein Gerangel gibt. Ich erkenne nicht genau, worum es da wirklich geht, weil ich auch den Eindruck nicht verhindern kann, Dass sich Deine Positionen zu oft ändern bzw. was über Dich veröffentlicht wird, zu widersprüchlich ist. Wenn Du nun schon in Preußen/Deutschland eine Giga-Factory baust, solltest Du vielleicht auch die Kommunikation mit den Deutschen nicht ganz ignorieren. Deine Redeweise ist zu flapsig, als dass die Deutschen willens sind, Dir in Englisch zu folgen. Versuch doch auch einmal, dass Du erstens eindeutiger wirst, zweitens, dass Du deine Kommunikation für die Deutschen professionalisierst und dann bitte auch aufpasst, dass da nicht irgendwelche Gates-Abhängigen als Übersetzer alles verdrehen. Kürzlich habe ich ein Video gesehen in deutscher Übersetzung, wo Du mit Döpfner über die deutsche Energiepolitik redest. Schade, dass ich persönlich nun gar nichts von einem Ausbau der Kernkraft in DE halte. Einem Weiterbetrieb der noch aktiven 3 Kraftwerke könnte ich zustimmen, wenn dann aber die inzwischen unterlassenen Sicherhetsüberprüfungen wenigstens nachgeholt werden. Einem Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken würde ich zeitbegrenzt zustimmen, wenn man den CO2-Rummel beendet, dafür aber die sonstigen in der Braunkohle enthaltenen Stoffe (Radium, Quecksilber, Schwefel) aus den Rauchgasen entfernt. Ansonsten versuche doch auch mal, mit KOMPETENTEN Leuten in Deutschland zu diesem Thema eine OFFENE Debatte anzustoßen. Döpfner ist als Physiker, Chemiker, Techniker und als Soziologe eine Fehlbesetzung, aber besser als Merkel oder Scholz ist er schon. Ich möchte Dich auch auf das Plutonium, bzw. generell die künstlichen Isotope durch Neutroneneinfang hinweisen und natürlich auf deren Halbwertszeiten und TÖDLICHKEIT bei Inkorporation. Vielleicht findest Du mal die Zeit, dich selbst noch etwas weiter zu bilden. Viel Erfolg.

Benedikt Diller / 23.06.2022

Sehr geehrter Herr Bökenkamp, mit “Fortschritt ist umkehrbar” haben Sie zwar die Kernthese von Horkheimer/Adornos “Dialektik der Aufklärung” ganz passabel wiedergegeben (im Original lautet sie: “Aufklärung schlägt in Mythologie zurück”),aber genau wie die Mehrheit der progressiven Linken reißen auch Sie Adornos berühmten Satz: “Es gibt kein richtiges Leben im falschen.” aus dem Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist ein kurzer, nur 3 Buchseiten umfassender Essay mit dem Titel “Asyl für Obdachlose” (geschrieben 1944 und veröffentlicht 1951 in dem Buch “Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben”). In diesem Essay stellt Adorno einige sarkastische Überlegungen zur Möglichkeit von Wohnungseinrichtungen (richtiges Leben?) unter den Bedingungen des erzwungenen Exils (falsches Leben!) an. Wollte man Adornos Satz so übersetzen, dass ihn auch die heutige “letzte” Generation richtig versteht, dann müsste er etwa so lauten: “Cocooning wird euch nicht vor den fatalen Konsequenzen eures woken Kapitalismus bewahren.”

Detlef Rogge / 23.06.2022

Die alte, schlichtweg nicht zu beantwortende Frage: Ist Geschichte zielgerichtet, also auf einen für alle Kulturen anzustrebenden Endpunkt angelegt, wobei die westliche Kultur den anderen vorangeht, oder gibt es parallel unterschiedliche, gar antagonistische Entwicklungen, die zu abweichenden Ergebnissen führen werden? Meine Einschätzung: Geschichte ist nicht finalistisch angelegt, es gibt weder dauerhaften Fortschritt, noch ein erkennbares Ziel. Geschichte verläuft nicht planmäßig und berechenbar oder ist gar determiniert, wie es der »Historische Materialismus« unterstellt, sie bleibt Chaos, von Zufällen und Verhängnissen geprägt, alles ist jederzeit möglich. Aus der Zunft der ernstzunehmenden Historiker jedenfalls kenne ich keinen einzigen mit progressivem Geschichtsbild, zugegeben allesamt durchweg zwanzig Jahre älter als der geschätzte Autor. Ansonsten noch: Die Moderne liegt begraben auf den Walstätten des Großen Krieges, Putins gegenwärtige Ukrainekampagne zeigt sich lediglich als Leichenschändung einer einstmals hoffnungsfrohen Utopie. Einzig verblieben aus dieser die Errungenschaften des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.

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