Im Jahr 2020 ist die britische Wirtschaft wegen des Corona-Lockdowns um fast 10 Prozent eingebrochen. Gemessen an den Folgen des Corona-Lockdowns, war der Brexit für ein Schnäppchen zu haben. Und dann ist da noch die grüne Energiepolitik.
Die erste Reaktion der Presse auf den Rücktritt der britischen Premierministerin Liz Truss war so reflexartig wie vorhersehbar. Das erste, was den geneigten politischen Kommentatoren hierzulande einfällt, sobald im Vereinigten Königreich Probleme auftreten, ist der Brexit. Dahinter steckt der Wunsch als Vater des Gedankens, dass den Briten dafür, dass sie das Friedens- und Wohlstandsprojekt EU nicht zu würdigen wussten, nun die gerechte Strafe widerfahren möge. Der Vorteil, über ein gefestigtes Ressentiment zu verfügen, dass die Erklärung für eine Katastrophe schnell bei der Hand ist und man sich das Studium von Wirtschaftszahlen sparen kann.
Die negativen Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute aus dem Jahr 2016 nahmen an, dass die britische Wirtschaft im Jahr 2030 um 2,7 Prozent schwächer wäre als ohne Brexit. Das heißt, über 14 Jahre verteilt eine Abschwächung des Wachstums, die das in der Summe ergeben würde. Das ist ein ziemlich kleiner Effekt, was darauf zurückzuführen ist, dass in einer globalisierten Welt unter den Regeln der Welthandelsorganisation WTO die Wirkung von Binnenmarkt und Handelsverträgen begrenzt ist und sich im Bereich hinter dem Komma bewegt. China und die USA sind zum Beispiel kein Teil des EU-Binnenmarkes und hatten trotzdem kein Problem mit Deutschland Handel zu treiben. Gemessen an den großen Effekten – den Corona-Lockdowns, der Energiekrise und der Inflation –, sind die Auswirkungen des Brexit statistisch kaum erfassbar.
Im Jahr 2020 ist die britische Wirtschaft um fast 10 Prozent eingebrochen. Wegen des Brexit? Nein, wegen des Corona-Lockdowns. Zum Vergleich: In der Finanzkrise 2008, die das Vereinigte Königreich wegen seiner starken Abhängigkeit vom Finanzsektor besonders stark getroffen hat, brach die Wirtschaft um weniger als 5 Prozent ein. Das heißt, die Corona-Maßnahmen haben die britische Wirtschaft so stark getroffen wie zwei Finanzkrisen. Im Vergleich dazu ist die Wirtschaft in Schweden, das solche Lockdowns unterlassen hat, um weniger als 3 Prozent zurückgegangen. Im Zuge der Coronakrise stieg die Staatsverschuldung des Vereinigten Königreichs gemessen am BIP von 82 auf 94 Prozent an. Gemessen an den Folgen des Corona-Lockdowns, war der Brexit für ein Schnäppchen zu haben.
Der britische „Doppel-Wumms“
Die britische Wirtschaft hatte sich von diesem Schock noch nicht erholt, als gleich der nächste Schlag das Inselkönigreich mit voller Wucht erwischte: Die Explosion des Gaspreises. Der wesentliche Grund für die verzweifelte Lage der britischen Wirtschaft ist nicht der Brexit, sondern der Umstand, dass die Briten auf dem Weg zur grünen Energiewende heute schon da sind, wo Deutschland erst noch hinwollte. Als Insel setzte das Vereinigte Königreich vor allem auf Windräder und erneuerbare Energien. 37 Prozent der Nettostromerzeugung kommen aus Wind, Biomasse und Solarenergie. Wie hierzulande können erneuerbare Energien aber nicht die Grundlast abdecken. Wie in Deutschland sollte das Erdgas das leisten und die Kohle ersetzen. Schlimm für die Briten: Sie sind dabei schon viel weiter gekommen als die Deutschen. Während in Deutschland immer noch Kohle- und Braunkohle einen festen Teil des Energiemixes bieten, kommen dort nur noch 1,9 Prozent des Stroms aus Kohle, 39 Prozent aus Erdgas.
Liz Truss, die in Deutschland als neoliberaler Gottseibeiuns firmiert, stand vor Problemen, die wir auch hierzulande kennen. Die Unternehmen und Privathaushalte ächzen unter der Last steigender Energiepreise. Die Reaktion gleicht der in Deutschland. Die 45-Tage-Premierministerin plante, die Energiepreise einzufrieren und die Kosten für Strom und Heizen auf 2.500 Euro pro Haushalt festzuschreiben und die Unternehmen zu entlasten. Dafür wollte die britische Regierung 150 Milliarden Euro in die Hand nehmen. In Deutschland läuft das unter dem urwüchsigen Namen „Doppel-Wumms“, der nur schwer ins Englische zu übersetzen ist. Bezieht man die unterschiedliche Bevölkerungsgröße mit ein, bewegen wir uns in Deutschland mit 200 Milliarden in einer ähnlichen Größenordnung.
Truss wird oft mit Thatcher verglichen. Der Vergleich ist oberflächlich und stimmt nicht. Margaret Thatcher verordnete dem Land eine harte Sparpolitik, kürzte öffentliche Ausgaben und erhöhte sogar die Steuern, um den Haushalt zu sanieren. Die Staatsverschuldung ging von 45 Prozent des BIP auf 27 Prozent zurück. Erst in ihrer zweiten Regierungszeit nach 1983 brachte Thatchers Finanzminister Nigel Lawson eine große Steuerreform auf den Weg. In Deutschland lief es im Übrigen ähnlich. In der ersten Regierungszeit von Helmut Kohl sanierte Bundesfinanzminister Stoltenberg den Haushalt und auf dieser Basis brachte die Regierung in der zweiten Amtszeit eine große Steuerreform auf den Weg. Diese Politik aus Haushaltsdisziplin und schrittweiser Entlastung nannte man damals „symmetrische Finanzpolitik“.
Wir befinden uns in einem Teufelskreis
Liz Truss lag ganz auf der Linie der Geld- und Finanzpolitik, dass Staatsschulden und Gelddrucken zu dauerhaftem Wohlstand führen können. Der Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Konservativen besteht hier lediglich darin, dass die einen das Geld mit Konjunkturprogrammen und die anderen mit Steuersenkungen verteilen wollen. Eine ganze Generation staatsgläubiger Ökonomen hat die Politik Glauben gemacht, der Staat könnte sich unbegrenzt verschulden und im Notfall die Druckerpresse eingreifen. Genau das funktioniert aber nicht mehr. Warum? Wenn Sie einen Vermögensberater haben, der ihnen bei zweistelligen Inflationsraten rät, Anleihen für 1 Prozent Zinsen zu kaufen, sollten sie sich Gedanken darüber machen, ob ihr Geld noch in den richtigen Händen ist. Wir befinden uns in einem Teufelskreis. Die hohe Inflationserwartung treibt die Forderung nach höheren Zinsen. Das erschwert es den Staaten ihre Staatsanleihen zu platzieren. Greifen die Zentralbanken ein und kaufen selbst die Staatsanleihen, erhöht das die Inflationserwartung und beschleunigt die Flucht aus fest verzinsten Wertpapieren.
Das heißt, mit der Truss-Krise im Vereinigten Königreich tritt die Weltwirtschaft in eine neue Phase ein. In der letzten Phase seit der Finanzkrise 2008, die fast eineinhalb Jahrzehnte gedauert hat, haben sich die westlichen Industriestaaten durch die Notenpresse finanziert und einen großen Ballon öffentlicher Ausgaben für Migration, Klima und Corona geschaffen. Alle westlichen Staaten finanzieren heute Staatsapparate, die zu groß sind, Versorgungssysteme, die sie sich nicht mehr leisten können, und verbrennen ihr Geld in aberwitzigen, ideologisch motivierten Großprojekten, deren Gigantomanie nur noch von der theatralischen Rhetorik zu ihrer Rechtfertigung überboten wird. Bei unseren britischen Nachbarn endete diese Phase nun mit einer glücklosen Premierministerin und in Deutschland mit einem Doppel-Wumms.