Rainer Bonhorst / 02.05.2022 / 16:00 / Foto: Manfred Werner / 38 / Seite ausdrucken

Darf man heute noch Anna Netrebko hören?

Die russische Operndiva hat sich zuerst zu wenig, und dann zu viel von Putin distanziert. Gecancelt wurde sie nun von gleich zwei Seiten. Rainer Bonhorst bleibt ihr treu.

Gerade habe ich mir mal wieder einen Auftritt mit Anna Netrebko angeschaut und angehört. Da sie in Deutschland inzwischen eine unerwünschte Ausländerin ist (Österreicherin, glaube ich), war das ein quasi illegales Vergnügen, wie damals das heimliche Rauchen auf dem Schulhof. Nur noch schöner. Was dem Hör- und Sehvergnügen sogar den Reiz doppelter Illegalität gab, war das Stück selbst. Das Blumenduett aus Lakmé von Delibes. Wie das Wort Duett schon andeutet: Sie singt nicht allein. Anna Netrebko singt gemeinsam mit Elina Garanca.

Oh je! Die schöne dunkle Russin mit der großen Blonden aus dem Baltikum. Riga, Lettland. Zur Zeit beider Geburt war das Land noch die Sowjetrepublik Lettland. Und seit dem Ukraine-Krieg zittern die freien Letten vor Putins Ambition, weitere ehemalige Schäfchen heim in den großrussischen Stall zu holen.

Die Russin und die Lettin im Duett – da tun sich politische Abgründe auf. Ja, dürfen die das überhaupt? Nun gut, der Auftritt fand vor dem Krieg statt, und was heute politisch so heikel ist, passte damals stimmlich wunderbar zusammen. Aber was ist mit mir als Zuhörer? Darf ich mir die beiden jetzt mitten im Krieg noch reinziehen? Und da ich es tue: Bin ich ein politischer Opern-Opportunist? Oder ein schäbiger Netrebko-Boykott-Brecher?

Das gesinnungstüchtige Deutschland

Anna Netrebko tritt weiterhin in vielen europäischen Ländern auf, die sich angesichts ihrer Gesangs-Power sagen: Wir sind doch nicht blöd! Aber im gesinnungstüchtigen Deutschland (München, Berlin) und Amerika (New York) ist sie gecancelt. Und außerdem in ihrem ersten Heimatland, Russland. Dort wurde sie ins kulturelle Sibirien geschickt, weil sie sich von Putins Krieg distanziert hat; in Deutschland wurde sie ausgestoßen, weil sie sich nicht heftig genug distanziert hat. Sie ist ein doppeltes Opfer der Cancel Culture. Das schafft nicht jede.

Es wird halt mit Kanonen auf eine Nachtigall geschossen, und die fliegt zum Glück einfach woanders hin. Würde ich auch tun, wenn ich singen beziehungsweise fliegen könnte. In England sagt man gerne: Right or wrong – my country. Das gilt auch anderswo. Dass man seine Heimatliebe nicht einfach ablegt, nur weil man gerade eine blöde Regierung hat, ist eigentlich keine Neuigkeit. Der Diva ist das offenbar nicht gestattet.

Aber lassen wir das und kehren wir zurück zum russisch-baltischen Duett. Und zur Frage: Was ist in dieser problematischen Situation die korrekte Zuhörer-Haltung?

Eine Möglichkeit ist, nur unter Protest zuzuhören. Also beispielsweise mit einer ukrainischen Flagge in der Hand. Oder man lauscht ganz neutral im Dienste der Wissenschaft. Etwa zur Erforschung der Frage: Klingt das süße Blumenduett zu Kriegszeiten anders als in Friedenszeiten? Weiterhin zuckersüß oder vielleicht doch bittersüß? Eine weitere Möglichkeit wäre, beim Zuhören Partei zu ergreifen. So könnte ich mich auf die Mezzo-Stimme von Elina Garanca konzentrieren und Anna Netrebkos Sopran mit Hörverachtung strafen. Aber kann das Gelingen? Wenn zwei auch bei zartem Gesang so starke Stimmen ans Ohr dringen?

Was das Hörvergnügen angeht, so fällt mir die Entscheidung zwischen der Baltin und der Russin schwer. Politisch bin ich auf der Seite der Baltin. Als Deutscher fühle ich aber auch mit der Russin. Schließlich war mein Land viel länger ein Paria als jetzt ihr Land. Ich meine Russland, nicht Österreich. Trotzdem könnte ich mir aus Gründen der politischen Korrektheit Elina einfach allein vorknöpfen, zum Beispiel als Carmen. Aber soll ich wirklich ganz darauf verzichten, Anna zu bewundern, wenn sie singt: Meine Lippen, sie küssen so heiß?

Nein, mach ich nicht. Ich weigere mich einfach, mich zwischen zwei Hochgenüssen zu entscheiden. Die deutsche Kulturwacht kann mir den Buckel runterrutschen. Ich begehe fröhlichen Kulturlandesverrat und höre mir noch etwas von den beiden an. Was haben wir denn da noch? Ach ja: die Barkarole von Offenbach haben sie zusammen gesungen. Und dann noch das „Mira o Norma“ von Bellini.

Nicht einmal Helene Fischer kann die Situation retten

Es gibt jede Menge solcher Fraternisierungs-Gesänge aus der Vorkriegszeit. Im Sinne einer konsequenten Cancel Culture müsste das Abspielen baltisch-russischer Duette heutzutage natürlich streng verboten sein. Und kulturpolitische Querhörer müssten von politisch korrekten Kunst-Entscheidern an den Pranger gestellt werden. In dieser Atmosphäre wäre es vielleicht klüger, auf Helene Fischer auszuweichen. Moment mal. Ist die nicht auch aus Russland? Sibirien? Russlanddeutsche?

Sowas aber auch. Nichts als Fallstricke, wo man auch hinhört!

Gibt es keine Präzedenzfälle, an denen man sich orientieren kann? Wie mogelt man sich aus einem solchen Dilemma heraus? Wie haben die das eigentlich damals in der DDR gemacht, als sie nicht durften, wie sie wollten? Stimmt, die haben einfach Rudi Carell im Westfernsehen geschaut, ob dem Honecker das gefiel oder nicht. Gute Idee! Was die konnten, kann ich schon lange.

Und tatsächlich entdecke ich gerade noch ein Stück, bei dem Anna und Elina gemeinsam aufgetreten sind. Als die weiblichen Stimmen in Verdis „Bella figlia dell' amore.“ Das führ ich mir jetzt erst einmal zu Gemüte. Danach kann ich mir immer noch über Sinn oder Unsinn des politisch korrekten Gesangs Gedanken machen.

Foto: Manfred Werner CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

netiquette:

Ludwig Luhmann / 02.05.2022

Wer in unserer heutigen Zeit noch der Netrebko lauscht, ist ein ... Feind der Musikfeinde!

Helmut Driesel / 02.05.2022

  Dazu fällt mir nur ein: “Es war die Kanone, Schatz, und nicht die Nachtigall…”

Zdenek Wagner / 02.05.2022

Ein VOLLIDIOT der es nicht tut! Und ich werde noch Heute Fürst Igor von Borodin hören und Morgen fange ich mit den Brüdern Karamasov an und danach geht es mit Dr. Schiwago weiter. Darüber hinaus werde ich auch weiterhin Zigeunersoße sagen und Negerküsse verspeisen. Und wem es nicht passt, darf gerne vorbeikommen. Ich habe mich zwar seit der Schulzeit nicht mehr geprügelt, aber verlernt habe ich es trotzdem noch nicht ...

rei svager / 02.05.2022

gemäß einbürgerungsakt salzburger landesregierung ist DIE SÄNGERIN (auch diva genannt) seit 2006 SALZBURGERIN ähh ÖSTERREICHERIN. sie wurde also EIN-gebürgert. ob sie auch wo AUS-gebürgert wurde? nebenbeiig erwähnt: pro besucher zahlt der österreichische - EU- steuerzahler an die WIENER- staatsoper ...€ 900,- .... an subvention.  mir geht daher das befinden der dame ziemlich am allerwertesten vorüber….

Bernhard Joseph / 02.05.2022

Das ist doch alles nur noch kompletter Schwachsinn. Warum soll ich Anna Netrebko nicht mehr hören? Diese ganze Cancel Culture, egal um was es da geht, geht mir so ziemlich auf den Nerv, was soll diese ganze dümmliche Haltungsinszenrierung. Von mir aus kann Netrebko Putin lieben, ihn bewundern und was sonst noch. Das hat frein gar nichts mit ihren Fähigkeiten als Sänegrun zu tun. Mittlerweile ist der Stalinismus bei uns im Westen angekommen und die Dummköpfe merken es nicht mal.

Peter Rosé / 02.05.2022

Sehr geehrter Herr Seiler, zu Ihren Ausführungen eine Episode, die ich 1972 oder 73 als Musikstudent erlebt hatte: Eines Tages besuchte der inzwischen sehr betagte Komponist Aram Katschaturjan bei seinem Hamburgbesuch die Hamburger Musikhochschule (damals noch Hochschule für Musik und darstellenden Kunst). Natürlich nahm sich auch die DKP-Hochschulgruppe seiner an und veranstaltete ein “begrüßungskonzert” mit selbstkomponierter Musik (zwei Mitglieder der Gruppe waren Kompositionsschüler) im Stil Eissler und Texten von Brecht und eigenem Dichtgut. So war es vorgesehen. Nach zwei Eingangsstücken und einer Anspraches eines der Mitglieder, der K. als würdigen Vertreter des “Sozialistischen Realismus”, der - in Anspielung auf Gayaneh (mit dem berühmten “Säbeltanz”) - einen würdigen musikalischen Beitrag zur Vernichtung des Faschismus geleistet habe. K. hörte sich dies mit unbewegter Miene an (ich sah direkt neben ihm) und ließ dann die Veranstalter durch seine Dolmetscherin wissen, er fände dies alles sehr interessant; man müsse ihn aber jetzt leider entschuldigen, denn er müsse jetzt gehen, denn er wolle in die Staatsoper, um dort den wunderbaren “Rosenkavalier” zu genießen. Staatsoper, Strauss, Rosenkavalier - welch ein Affront für die wahren Antifaschisten der DKP, deren restliche Elaborate nun ohne den Ehrengast aufgeführt werden mussten. In der DDR (Dresden) betrieb man eine regelrechte Strausspflege. Auf die Gegenwart bezogen: Ich genieße weiterhin “Der Spieler” von Prokofiew in einer Aufzeichnung aus St. Petersburg unter der Leitung von Gergejew und habe mir gerade die - insgesamt nicht gerade umwerfende - “Bohème” der DG mit Anna Netrebko angehört. N.B.: Ravel verweigete seine Unterschrift unter den 1916 erschienenen Aufruf französischer Komponisten (darunter so außergewöhnliche wie Debussy, Fauré und Saint-Saens) zum Boykott zeitgenössischer Komponisten der Mittelmächte (u. a. Bartok, Kodaly, Schönberg, Strauss).

Thorsten Beyer / 02.05.2022

Ja, das darf man. Die wunderbare Anna Netrebko und viele andere russische Künstler werden hier quasi per Sippenhaft Putin zugerechnet, so als hätten sie Putins Krieg bzg kriegerischen Überfall zu verantworten.  Selbst wenn sie sich in der Vergangenheit pro Putin geäußert haben muss die Kunst das aushalten. Was ist da schon das gesellschaftliche Todesurteil vom Münchener Kleingeist Reiter, der all diese Leute ungeschehen machen will. Kunst und Politik haben Berührungspunkte, sie sind aber nicht dasselbe. All die Scharfrichter, die jetzt einzelne Russen für Putins+Selenskis Krieg verantwortlich machen wollen sollten lieber die jüngsten 8 Jahre Geschichte betrachten und sich dann nochmal überlegen, wer hier eine weiße Weste anhat. In meinen Augen keiner der beiden. Also lasst die Künstler endlich wieder frei aus der lächerlichen Sippenhaft und geht lieber den Bürgersteig fegen… Kehrwoch isch emmer.

M.-A. Schneider / 02.05.2022

Die Begeisterung für ihre wunderbare Stimme und ihr darstellerisches Talent lasse ich mir nicht nehmen, ich höre und sehe sie, wann immer mir danach ist, der Technik sei Dank!

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