Ein Münchner Veranstaltungszentrum lud die Freien Wähler – inklusive Parteichef Hubert Aiwanger – aus, Amazon Prime wollte die Sendung „Pumuckl“ erst ab 12 Jahren freigeben, und Markus Lanz rief zur Entlassung eines FDP-Referenten auf.
„Heizungsgesetz stoppen!“ heißt die Veranstaltung der Freien Wähler (FW), die kommenden Donnerstag im Münchner Veranstaltungszentrum Backstage hätte stattfinden sollen. Geplant waren Reden von Parteichef Hubert Aiwanger und weiteren FW-Politikern. Das Backstage, nach Selbstaussage „ein Raum der Diskussion, der Toleranz und der Meinungsfreiheit“ hat den Auftritt abgesagt. Zwar gelte generell: „Wir […] zensieren nur, wenn rote Linien eindeutig überschritten werden.“ Bei Aiwanger habe sich dies gleich doppelt ereignet: Sein „wohl stark populistischer und sogar eher hetzerischer Auftritt“ bei der Heizungspolitik-Demo in Erding am vorvergangenen Samstag stößt dem Betreiber der Location genauso sauer auf wie die „populistischen und LGBTQIA+-feindlichen Aussagen hinsichtlich der Lesung der Drag-Queen und des Drag-Kings in einer Münchner Bibliothek“.
Bei der sehr gut besuchten Erdinger Demonstration, auf der Ministerpräsident Söder (CSU) sowie sein Stellvertreter und Mehrheitsbeschaffer Aiwanger sprachen, hatte Letzterer gefordert, dass „endlich die schweigende, große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss“. „Mit seiner AfD-Rhetorik (‚die Demokratie zurückholen‘) und Fäkalsprache (‚habt ja wohl den Arsch offen‘) rückt Aiwanger die Freien Wähler ein Stück weiter nach rechts“, schrieb das ZDF. Wenn Demokratie und Arsch rechts sind, was ist dann links?
Für den bayerischen SPD-Chef Florian von Brunn war „Erding […] der bisherige Höhepunkt des rechtspopulistischen Kulturkampfs“. Dass man dort selbst Wärmepumpen durch die kulturkämpferische Brille sieht, verrät mehr als die Implikation, die Anderen hätten diese Auseinandersetzung angefangen. Apropos: Wer hat mit den erwähnten Drag-Queen-Lesungen begonnen? Der kritische Journalist Boris Reitschuster (den Bertelsmanns Facebook-Zensoren aktuell wieder einschränken) zitiert dazu eine russischstämmige Freundin. Die wundert sich, warum Rammstein-Sänger Till Lindemann für angebliche sexuelle Fehltritte vorverurteilt wird (siehe unten), man in Deutschland andererseits aber kein Problem mit amtlicher Frühsexualisierung von Kindern hat.
Die Grünen beantragten im Landtag sogar – erfolglos – Aiwangers Rücktritt als bayerischer Wirtschaftsminister. Sie freuen sich nun, wie auch ein FDP-Vertreter, über die Absage des Backstage. Dessen Geschäftsführer Hans-Georg Stocker fordert „honore [sic!] Persönlichkeiten“ innerhalb der FW auf, sich dem Parteivorsitzenden, „ihrem ‚Capo‘“ entgegenzustellen. Die privat betriebene – wenn auch eventbezogen zuweilen städtisch subventionierte – Kultureinrichtung hat übrigens seit Jahren Probleme mit Cancel-Forderungen und dafür eine eigene Rubrik auf ihrer Website eingerichtet. Dort kann man sich informieren, warum welche Konzerte abgesagt wurden oder doch nicht und dass das Backstage sich bei einer dort auftretenden Musikgruppe von der „Haltung des Sängers der Band hinsichtlich des Fangs und Verzehrs von Walen auf den Färöer-Inseln“ distanziert. Immerhin zeigt man sich beschämt, dass bei einer Backstage-Veranstaltung 2019 ein jüdisches Mitglied des Münchner Stadtrats „von einigen Gästen der linken Szene von der Bühne gebuht und beleidigt“ worden war.
Hurra, hurra …
In München trieb auch der „Kobold mit dem roten Haar“ sein Unwesen. Die Fernsehserie Meister Eder und sein Pumuckl wurde nun von Amazon Prime mit einer Altersgrenze von 12 Jahren versehen. Vernünftig, möchte man meinen, schließlich ist man dem dann entwachsen. Aber nein, gemeint ist das Mindestalter, das im Falle der Sendung traditionell bei 0 liegt. Als Gründe für diese Einschränkung gibt der amerikanische Streamingdienst an: Gewalt, Alkohol, Rauchen. Nach laut vernehmbarem Kopfschütteln bei Facebook und anderswo sieht Amazon nun seinen „Fehler“ ein und will ihn korrigieren. „Pumuckl würde heute wohl kein Bier mehr vom Meister Eder bekommen“, schrieb der österreichische Staatsfunk schon 2015. Er berichtete, dass im Kinderbuch Jan und Julia kaufen ein bei einer Neuauflage aus einem Zigaretten- ein Bankautomat geworden war. „Je nachdem, wie die Dreinreder Kinder erzogen und zugerichtet haben wollen“, so vor zehn Jahren die inzwischen verstorbene Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger, „sind eben ihre Vorstellungen von brauchbarer Lektüre für Kinder“.
Jagd auf Fraktionsreferenten
„Wer die Wahrheit sagt“, lautet ein Sprichwort, „braucht ein schnelles Pferd.“ Und, wenn es nach ZDF-Moderator Markus Lanz ginge, auch einen auf Arbeitsrecht spezialisierten Anwalt. Lanz hat in einer Folge seiner Sendung (ab Min. 45:47) in der vergangenen Woche die FDP-Bundestagsfraktion aufgefordert, einen ihrer Referenten zu entlassen. Steffen Hentrich, Umweltökonom und Experte für Klimapolitik, scheint nämlich nicht ausreichend weltanschaulich gefestigt zu sein. Schon vor zwei Monaten hatte das ZDF in einem Artikel – ähnlich wie die Frankfurter Rundschau – zur Jagd auf Hentrich geblasen, einen Fraktionsangestellten der FDP, der offenbar dem herrschenden Narrativ im Wege steht.
Dem – „umstrittenen“ – Hentrich wird seine Teilnahme am „sogenannten ‚Battle of Ideas‘ in Berlin“ im Jahre 2019 zur Last gelegt. Das sogenannte ZDF bezieht sich damit auf eine Veranstaltung des Freiblick-Instituts (inzwischen Träger des Magazins Novo), bei der der FDP-Mann auf einem Podium unter anderem mit Achgut-Gastautor Andrea Seaman saß. Er bezweifelte dort, „dass wir eine Klimakrise oder einen Klimanotstand haben“. Stattdessen sei der Einfluss von Aktivisten auf die Politik das Problem. Außerdem hatte er 2021 einen Tweet abgesetzt, in dem er bei unmittelbaren Auswirkungen des Klimawandels auf Wetteränderungen ein Fragezeichen setzt und behauptet: „Global ist es in den letzten Jahren kaum wärmer geworden.“
In seiner Sendung konfrontierte Moderator Lanz den FDP-Bundestagsabgeordneten Konstantin Kuhle, einen seiner Gäste, mit dieser Aussage, von der Kuhle, Vize-Fraktionsvorsitzender der sogenannten Liberalen, sich sogleich brav distanzierte. Ist die Aussage denn, wie ein anderer Gast reflexartig unterstellte, unzutreffend? Für die Zeit ab 2015 – Hentrich sprach ja von den „letzten Jahren“, nicht Jahrzehnten – dürfte seine Einschätzung unzweifelhaft stimmen; den Temperaturanstieg in der Zeit vorher kann man durchaus moderat finden. Und was den Effekt auf Extremwettereignisse betrifft, gehen die Meinungen auseinander. Wer fordert eigentlich umgekehrt die Entlassung von Lanz?
Oldtimertreff gecancelt
3.000 Autos und 30.000 Besucher durfte man zum Klassikertreffen am übermorgigen Sonntag im hessischen Rüsselsheim erwarten, der ehemaligen Opel-Wiege, deren Bürger Stolz auf ihr automobiles Erbe sind. Daraus wird diesmal nichts: Deutschlands größte eintägige Oldtimerschau wurde auf Weisung des Regierungspräsidiums Darmstadt am Dienstag abgesagt. Vorausgegangen war eine Klage des Kreisverbandes des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Hintergrund: Teile der Veranstaltungsfläche liegen im Landschaftsschutzgebiet, was in der Vergangenheit aber offenbar kein Problem dargestellt hat. FDP-Landtagsabgeordneter Stefan Naas wirft der Regierungspräsidentin Brigitte Lindscheid (Grüne) fehlendes „Fingerspitzengefühl“ vor. Seines Erachtens hätte man ein „milderes Mittel oder eine gemeinsame Lösung“ finden können.
Suck Box und Felix Klein
In Sachen Rammstein geht es weiter. Aufgrund der öffentlichen Diskussion um Frontmann Till Lindemann hat rigging WERK, ein Mannheimer Veranstaltungstechnik-Unternehmen, angekündigt, künftig nicht mehr mit der Band zusammenzuarbeiten. Pikant: Dass Frauen für Lindemann rekrutiert wurden und ein Bereich unter der Bühne für sexuelle Handlungen während der Show („Suck Box“) zur Verfügung stand, war dem Unternehmen lange bekannt. Das „offenbart doch die Scheinheiligkeit der Branche“, befindet der Focus. In der Tat: Sobald ein Verhalten plötzlich massenmedial als verurteilenswert gilt, springen viele auf den Zug auf.
Zu denen hat sich auch Felix Klein gesellt, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, dem die Rammstein-Konzerte im Berliner Olympiastadion ein Dorn im Auge waren. Was haben die mit Judenverachtung zu tun? Klein: „Antidemokratische Diskriminierungen wie Antisemitismus, Frauenverachtung und Rassismus gehen oftmals Hand in Hand.“ Ach so, alles hängt mit allem zusammen, da hätte er ruhig noch „Transphobie“ ergänzen können – Hauptsache, er steht wieder in der Zeitung. Meinungs- und Kunstfreiheit gingen zu Lasten von Frauen und Juden, deutet Klein an, der als Feigenblatt für die Politik der Bundesregierung, etwa der des importierten Antisemitismus oder der gegenüber Israel, fungiert. Außerdem kramt er noch das „Deutschland“-Video von Rammstein hervor, das 2019 Kritik wegen einer Holocaust-Szene hervorrief und von Henryk Broder gelobt wurde.
Kontaktschuld in der Wissenschaft
Über Geoff Marcy hatte ich Ihnen vor ein paar Wochen berichtet, den bedeutenden US-amerikanischen Astronomen, der wegen an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen der sexuellen Belästigung aus den 2000er-Jahren zunehmend schikaniert wird. Nun beklagt die schwedische Astronomin Beatriz Villarroel, dass man die Hexenjagd auf sie erweitert hat, nur weil sie mit Marcy in einem Projekt zusammenarbeitet. Ihr wurde nach eigener Darstellung verweigert, Forschungsergebnisse auf einer Konferenz zu präsentieren, eine andere Konferenz reagierte nicht auf ihre Anmeldung für eine Teilnahme, sie erhielt von verschiedenen Astronomenkollegen Drohmails und -anrufe. Auf Twitter wurde dazu aufgerufen, ein wissenschaftliches Paper, das Villarroel mit Marcy verfasst hatte, nicht zu zitieren. Auch könne sie gewisse Förderanträge vergessen. Ein Vorwurf an ihre Adresse habe gar gelautet, sie unterstütze – Achtung, Woke-Vokabular – die „Vergewaltigungskultur“.
Flinte statt Flinta
Die Dienstgradbezeichnungen im britischen Militär, ob Corporal oder Lieutenant, sind durchgehend geschlechtsneutral gehalten, was in der englischen Sprache begründet liegt. Allerdings gibt es Armee-Regimenter, in denen Soldaten Rifleman oder Guardsman genannt werden. Darüber hätten sich Soldatinnen beschwert, weshalb der Chef der Landstreitkraft, General Sir Patrick Sanders, nun überlegt, diese Bezeichnungen abzuschaffen und durch „inklusivere“ zu ersetzen. Dagegen regt sich allerdings Widerstand unter weiblichen Truppenangehörigen.
Die deutsche Bundeswehr wiederum verwendet das generische Maskulinum, zum Beispiel „Frau Hauptmann“. Pläne, die Dienstgradbezeichnungen zu „gendern“, wurden 2020 vorläufig ad acta gelegt. Dem Bundeswehrverband waren „fast nur Frauen, die eine solche Änderung ablehnen“, bekannt. Das kann sich freilich durch eine Zunahme an woken Soldaten ändern.
Sorry, schwangere Männer
Aber zurück nach Großbritannien. Howard Donald von der Band Take That wurde jetzt ein Soloauftritt gecancelt. Ende Juli sollte er auf der Nottinghamshire Pride singen, einem mittelenglischen LGBT-usw.-Festival. Nun jedoch hat India (ehemals Jonathan) Willoughby – nach Eigenaussage „die erste Trans-Nachrichtensprecherin der Welt“ – an die Öffentlichkeit gebracht, welche Twitter-Posts Donald mit einem Like versehen hatte. Darunter manches Oppositionelle, etwa zur Corona-Politik, vor allem aber Tweets zur Geschlechtlichkeit, die Willoughby & Co. sauer aufstoßen: Es gebe lediglich zwei Geschlechter, nur Frauen bekämen die Periode, Männer könnten gar nicht schwanger werden. Shocking! Auf die Kritik folgte Selbstkritik: Der Musiker ging in Sack und Asche, entschuldigte sich, wolle dazulernen, löschte erst seine inkriminierten Likes und dann seinen ganzen Twitter-Account. Dadurch, wendet Brendan O’Neill ein, fühlen sich die Angreifer bestätigt und ihre Macht wächst.
Vorurteile gegen Hunnen
Wenigstens Nancy Mitford kann sich nicht mehr für irgendwas entschuldigen, da sie schon seit einem halben Jahrhundert unter der Erde liegt. Die Schriftstellerin bekam jetzt allerdings posthum eine Trigger-Warnung verpasst. Der Penguin-Verlag (Bertelsmann) versah ihr Buch Englische Liebschaften von 1945 mit dem Hinweis, dass es „Vorurteile, die in der britischen Gesellschaft weit verbreitet waren“, enthalte. Selbstverständlich seien derartige Vorurteile damals wie heute unangebracht. Wie Lauren Smith bei Spiked ausführt, zeigt im Roman eine unsympathische Figur ihre Abneigung gegen Frauen und Ausländer, vor allem gegen Deutsche („Hunnen“). „Lesern wird nicht mehr zugetraut, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen“, kritisiert Smith. Verlage sollten „aufhören, unsere Intelligenz zu beleidigen“.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
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