Ich hatte, glaube ich, am Anfang dieser Serie einmal kurz erwähnt, dass ich die längste Zeit meiner Lehrerkarriere an Waldorfschulen gearbeitet habe, also in einem System, in dem nach den obskuren Anweisungen eines mit einer seltsamen Krawatte bekleideten Gurus Kindern beigebracht wird, ihren Namen zu tanzen und Getreidebrei zu mümmeln. Die Allermeisten, die diesen Schultyp beurteilen, wissen darüber nicht viel mehr. Namen tanzen, Steiner gleich Rassist (hat „Neger“ gesagt) und dass man eine Person kennt, die da arbeitet und gepflegt einen „an der Waffel“ hat, wie der Franke sagt (morbus Bahlsen im Karnevalsgürtel), sind oft die einzigen belastbaren Informationen über dieses System und schon ist eine behäbig lächelnde Einigkeit hergestellt.
Die dennoch nicht verhindert, dass man, vor die Wahl zwischen einem Discounterbütterchen und einer Demetersemmel gestellt, doch zur letzteren greift, man gegen Krebs doch ganz gerne im Fall des Falles ein Mistelpräparat schluckt und dass, wenn das eigene Kind oder Enkelkind in der vierten Klasse immer noch sehr originell schreibt und vor Schulangst ins Bett macht, ein Übertritt an eine Waldorfschule nicht so ganz fern mehr liegt. Schreiben lernt es da auch erst in der 10. Klasse, schläft aber ruhig und trocken wie ein Murmeltier. Dabei sei unbestritten, dass Angehörige der Waldorfszene nicht selten nicht nur einen an der Waffel, sondern oft ein ganzes Waffeleisen verschluckt haben. Dass es auch da schlechte Schulen gibt und, letztlich, erzwungen durch die Art der Bezuschussung, eine Selektion der Schüler Richtung Mittelschicht stattfindet.
So weit so gut. Steiner hat ca. 40 Bücher geschrieben und mehr als 300 liegen als Vortrags-Nachschriften vor. Die Hälfte habe ich, glaube ich, gelesen, ich darf mir also ein solides Halbwissen zuschreiben. Damit Ende meiner Apologie.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
Interessant für unser Bildungsthema ist folgendes: Steiner macht in seinen gesellschaftstheoretischen Schriften eine bemerkenswerte Zuordnung der drei Hauptforderungen der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Erst einmal wird die Gesellschaft in drei Funktionsbereiche eingeteilt: Wirtschaftsleben, als quasi Basis, Rechtsleben, auch Politik als mittleres System und ein von diesen unabhängiges Geistesleben, wie er es nennt, als drittes. Diese Systeme funktionieren nur einwandfrei, wenn sie in gewisser Weise getrennt sind. Der Wirtschaft ordnet er den Begriff „Brüderlichkeit“ zu, „Gleichheit“ dem Recht und „Freiheit“ der geistigen Sphäre. Kommen diese Zuordnungen durcheinander, entsteht Dysfunktion. Die Möglichkeiten dieser Dysfunktion sollen hier, etwas karnevalistisch kurz durchexerziert werden.
Wirtschaft und Gleichheit: Gibt so etwas wie Kommunismus und scheint nicht zu funktionieren.
Wirtschaft und Freiheit: Gibt im Extremfall Manchesterkapitalismus, auch bedenklich.
Wirtschaft und Brüderlichkeit: Die soziale Marktwirtschaft war vielleicht ein Versuch, könnte gehen, wird aber gerade abgebaut.
Recht und Freiheit: Wilder Westen.
Recht und Brüderlichkeit: Baziamigo-CSU-Kreisverband.
Recht und Gleichheit: passt.
Geistesleben und Brüderlichkeit: Abschreiben im Fahrschülerkeller.
Geistesleben und Gleichheit: Das ist der Grund allen schulischen Elends.
Geistesleben und Freiheit: passt.
„Wir brauchen mehr MINT-Absolventen“
Über diese Zuordnungen könnte man natürlich viel schreiben und nachdenken, aber schon die oberflächliche Betrachtung zeigt ein gewisses kritisches Potenzial. Liest man den ersten Satz der „Declaration of Rights“ der amerikanischen Verfassung („Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind“), dann ist für das intellektuelle Leben schon mal klar, dass er offensichtlich nicht so ohne weiteres stimmt.
Menschen haben nicht die gleichen intellektuellen oder physischen Voraussetzungen, und die Forderung, dass hier Gleichheit vorauszusetzen sei oder zu herrschen habe, ist hoch problematisch und zeigt die oben angeführte Begriffsverwirrung. Dass die Wirtschaft mit ihren Ansprüchen („Bildung als Ressource, Vorbereitung aufs Leben, wir brauchen mehr MINT-Absolventen“) versucht, in das Bildungssystem einzugreifen und dass die momentan hochgejubelte Digitalisierungsoffensive nicht zuletzt ökonomischen Interessen und ihren bertelsmännischen Agenten dient, das ist jedem kritisch denkenden Menschen bewusst. Die Problematik der Gleichheitsideologie, die in der Bildung zum Rechtsanspruch wird, was als Bildungsmöglichkeit ja noch sinnvoll ist, aber was dann doch in der Gegenwart seltsame Blüten treibt, hat man dagegen kaum auf dem Schirm.
Ein Beispiel ist das Integrationsgebot Behinderter oder von Menschen mit Verhaltensoriginalitäten oder besonderen Begabungen oder wie man sie gerade korrekt bezeichnet. Ich habe mit dieser Schülergruppe gearbeitet und jeder, der da praktische Erfahrungen hat, kann wissen, dass gerade diese Gruppe nicht selten eine überwältigende emotionale Wärme und Freundlichkeit zeigt. Aber glaubt man wirklich, man tut diesen Leuten einen Gefallen, wenn man sie einem „normalen“ Schulbetrieb aussetzt?
Glaubt man wirklich, 50 Prozent der Schüler seien Abiturienten?
Oder der unaufhaltsame Drang ins Gymnasium: Glaubt man wirklich, fast 50 Prozent der Bevölkerung seien für wissenschaftliches Arbeiten geeignet? Die Unis richten langsam flächendeckend Rechtschreibseminare ein, die Leute fliegen serienweise aus naturwissenschaftlichen Studiengängen raus, weil sie nicht die grundlegendsten Vorkenntnisse haben, aber das scheint irgendwie nirgends angekommen zu sein. Ganz nebenbei: Die Schweizer Maturitätsschulen, die recht anspruchsvoll sind, nehmen weniger als 15 Prozent der Jugendlichen auf, mir wäre aber nicht aufgefallen, dass die Schweiz unter einem großen Bildungsnotstand leidet.
Und davon abgesehen: Ein taxifahrender Soziologiedoktor verdient deutlich weniger als ein guter Dachdecker mit eigenem Kleinbetrieb. Der soziale Aufstieg über Bildung wird sowieso langsam zum Ammenmärchen. Dieses missverstandene Gleichheits- und Rechtsdenken im Bildungswesen führt zu nichts anderem als zu einer Nivellierung auf eher mäßigem Niveau.
Steiner meint, das Grundprinzip des Geisteslebens wäre eine Art von positiv verstandener Konkurrenz. In der Wissenschaft ist es so: Verteidigung und Falsifizierung von Theorien sind das Grundprinzip ihrer Fortentwicklung. Dagegen will die Schule kein Kind zurücklassen, aber hält alle unter ständigen Ermahnungen in „Mittelmaß und Wahn“ fest und wirft mit Berechtigungen um sich, denen keine Fähigkeiten entsprechen. „Wahn“ meint das Gefühl, das eigene Können entspräche der Berechtigung, die erworben wurde. Dazu gibt es gruselige Beispiele beim politischen Personal.
Bildung wird lediglich als Eintrittskarte für den sozialen und ökonomischen Aufstieg verstanden. Das ist aber von der Theorie her falsch; dass es in der Praxis für manche stimmen kann, liegt an gesellschaftlichen Verhältnissen, die bestimmte Tätigkeiten privilegieren. Kinder sind nicht gleich, und Freiheit sollte im Bildungswesen nur bedeuten, dass das Individuum zu sich kommen können soll und dabei gefördert wird. Dass Schule heute das nicht leistet, dürfte auch ohne weitere Begründung einleuchten.
Lesen Sie am nächsten Samstag: Fortschritt ins Elend.
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