Dieter Prokop, Gastautor / 10.06.2020 / 16:00 / Foto: Fabian Nicolay / 9 / Seite ausdrucken

Ohne Unterschiede keine Demokratie

Freiheit und Demokratie haben nicht nur eine strukturelle Dimension, also nicht nur rechtlich abgesicherte Strukturen zur Voraussetzung, die Freiheiten garantieren. Freiheit und Demokratie haben auch eine kulturelle Voraussetzung: die Bereitschaft, Realität wahrzunehmen, sich also gegenüber Wunschfantasien und Glaubensvorstellungen nüchtern zu verhalten. Politik kann in Demokratien nicht nur Stimmungsmanagement sein. Aber auch nicht nur das Entwerfen von Organisationsformen. Politik ist auch das Praktizieren einer Kultur. Damit ist nicht gemeint, dass die Politiker nach Bayreuth gehen oder eine Willkommenskultur feiern oder eine Kultur des Totengedenkens sein soll. Gemeint ist, dass in Demokratien von Politikerinnen und Politikern erwartet wird, dass sie so rational wie nur möglich agieren und damit eine Kultur der Vernunft praktizieren, „im Einklang mit gesundem Menschenverstand, vernünftiger Überlegung und verständigem Rat“ (s. „Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam“ von Barbara Tuchman).

Es ist eine Floskel, wenn man immer wieder als Voraussetzung für eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit den „mündigen Bürger“ beschwört. Aber das heißt ja: wissbegierige Individuen. Weil die Leute sich nichts vormachen lassen, können die öffentlichen Debatten, kann der öffentliche Diskurs, nicht nur Stimmungs-Konversation („Erzählung“, „Narrativ“) sein. Der öffentliche Diskurs kann auch nicht darin bestehen, dass sich Politiker Tag für Tag zwecks Imagebildung bei Twitter „positionieren“. Wissbegierige Individuen suchen etwas Anderes: Sie suchen „Identität“, und zwar nicht nur eine persönliche Identität, sondern sie suchen auch realitätstüchtige Identifikationen ihrer Umgebung und auch der Welt. In Demokratien ist die Suche nach rationaler Identifikation der Sachen eine differenzierte öffentliche Arbeit, die geleistet werden muss. Die WiIlkommens-Freudigen und die Apokalyptiker wollen das nicht, und Greta kann das nicht. Von Politikerinnen und Politikern aber muss man ein differenziertes Identifizieren der Sachen verlangen. Rationalität beginnt bei der Definition der Sachen. Man muss den Sachen eine Identität geben, und zwar eine angemessene.

Politik sollte gestalten wollen

Einfaches Beispiel:

Wenn sich eine Großmarkthalle nicht „Großmarkt“ nennt, sondern „Frischezentrum“ – ist das dann eine angemessene Identität? Nein, denn der Kunde eines Großmarkts wäre dumm, wenn er glauben würde, dass alle in dieser Halle ihm immer frische Ware verkaufen.

Und nochmals als Beispiel:

„Geflüchtete“ ist keine angemessene Identität. Das Tätigkeitswort verwischt die Frage des Rechtsstatus der betreffenden Personen. Nicht jeder soeben Angekommene ist ein „Geflüchteter“, ein Großteil wurde vom Familienclan nach Europa geschickt, um dem Clan Geld zu schicken. Ein illegal eingereister Sozialleistungs- und Spenden-Akquisiteur ist kein Flüchtling, also kein politisch Verfolgter. – Erst wenn die Politiker also zwischen einem Flüchtling und einem illegal eingereisten Sozialleistungs- und Spenden-Akquisiteur unterscheiden würden, würden sie der Sache, den illegalen Einreisen nach Europa eine realitätstüchtige Identität geben.

Und noch etwas:

Politik ist kein wissenschaftlicher, akademischer Diskurs, selbst wenn jener noch so rational sein sollte. Politik, wenn sie nicht bloß Moralpolitik ist, will gestalten. „Den Sachen eine rationale Identität geben“, heißt in der Politik auch: Gestaltungsfähigkeit erhalten. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestags, sagt das so:

„Jede Seite muss sich gefallen lassen, dass ihre Argumente immer auch am moralischen Anspruch gemessen werden. Wer sich aber vom Standpunkt des vermeintlich moralisch Erhabenen gesinnungsethisch den Luxus einer aufs eigene Ideal gerichteten Absolutheit leistet, verzichtet in der Wirklichkeit einer komplexen Welt auf seine politische Gestaltungsfähigkeit. Auf die kommt es aber an.“

Auch das muss in den öffentlichen Diskurs, um die richtigen Definitionen von Realität – um das „den Sachen Identität Geben“ – eingehen: die Erhaltung von Gestaltungsfähigkeit. Schäuble beruft sich auf Max Weber, auf dessen Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik und auf das Bohren harter Bretter (s. „Politik als Beruf“ von Max Weber). Das ist unbedingt notwendig, denn dieses hartnäckige „Bohren“ ist Teil realitätstüchtiger Politik.

Zweifeln, Vergleichen

Jetzt möchte ich erörtern, welchen Erfahrungsmodus und Erkenntnismodus die „Moderne“ impliziert. Folgendes sollte dabei allerdings klar sein:

Klar ist, dass eine Kritik der Postmoderne nicht in einer Idealisierung der Moderne münden kann. Denn die Moderne implizierte auch den Aufstieg der instrumentellen Vernunft (s. „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ von Max Horkheimer 1967), des technokratischen Denkens, der Herrschaft des Funktionellen. Also: Die Moderne ist kein Inbegriff des Besseren.

Besser war an der Moderne stets, dass sie sich gegen die starren Weltbilder richtete: Die Moderne impliziert kein festgefügtes Weltbild, im Gegenteil. Wo immer man den Beginn der Moderne ansetzt, stets ist klar, dass jene darin bestand, dass die Weltbilder von festgefügten Ordnungen nicht mehr gelten. Das war schon im 14. Jahrhundert in Italien so, im frühen 16. Jahrhundert in Deutschland, im 18. in Frankreich. Die eigentliche Moderne beginnt dann wohl Anfang des 20. Jahrhunderts.

Außerdem entwickelt der moderne Erfahrungsmodus Realitätstüchtigkeit. Die Theorie der Moderne oder der „Zweiten Moderne“ (s. „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ von Ulrich Beck) auszubreiten, ist hier nicht notwendig. Man kann „Moderne“ hier als ein Interesse an mehr Realitätstüchtigkeit verstehen. Realitätstüchtigkeit bedeutet, dass man die Übel dieser Welt wahrnimmt und benennt. Zu einer realitätstüchtigen Wahrnehmung gehört es aber auch, dass man die real gegebenen guten, sinnvollen, nützlichen, vernünftigen Aspekte dieser Welt wahrnimmt.

Den Sachen eine rationale Identität geben

Was heißt das: „Den Sachen eine rationale Identität geben“? Die erkenntnistheoretischen Aspekte hat Theodor W. Adorno dargestellt:

Die Herstellung des Identischen und die Arbeit am Nichtidentischen: Adorno wusste, dass Identität zu etwas Starrem, Unlebendigem gerät, wenn man aufhört, sich für die lebendige, nicht identifizierte oder sich gegen das Identifizieren sperrige Realität zu interessieren. Er nannte jene das „Nichtidentische“. Die Arbeit des „Identifizierens“ besteht sowohl in der Feststellung von abstrakter, identischer Allgemeinheit als auch in der Spontaneität nichtidentischer Impulse beziehungsweise der Anstrengung, das Nichtidentische auf den Begriff zu bringen. Das bedeutet: Ohne Identisches gäbe es keine Freiheit und keine Erkenntnis. Aber ohne das Zulassen von Erfahrung, bliebe das Identische ein sich ewig wiederholender Mythos: Und täglich grüßt das Murmeltier.

Nun kann man auch mit einer ein für alle Mal festen Identität durchs Leben gehen, und für den, der an einer festen Identität festhält, ist auch die gesellschaftliche Umwelt fest identifiziert. Alles nicht Identifizierte, „Nichtidentische“, ist einem dann ein Gräuel, das man mit Vorurteilen bewältigt. Mit festen, starren Identifikationen verhält man sich gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt (und sich selbst) unversöhnlich.

Shitstorms zum Beispiel heißen Shitstorms, weil ihnen alles Versöhnliche fehlt. – Für Theodor W. Adorno ist jedoch die Bereitschaft zu einem versöhnlichen Denken und Handeln ein Merkmal mündiger Bürger und Bürgerinnen. Versöhnlichkeit zeigt sich in der Beachtung und Analyse des Anderen. „Das Andere“ ist bei ihm nicht nur eine andere Person, sondern auch eine Sache, ein Objekt. Ich spreche hier absichtlich von „Beachtung und Analyse des Anderen“, also nicht vom „Eingehen auf den Anderen“ oder „Eingehen auf das Andere“. Denn mit dem Begriff „Versöhnung“ ist keine therapeutische und auch keine pfäffische „Kommunikation“ gemeint. Nein! Es geht um die investigative Neugier gegenüber einer Person oder Sache und damit auch um das stets zweifelnde, kritische Nachfragen. Adorno:

„Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe sich in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des Unterschiedenen. Dann erst käme der Begriff von Kommunikation, als objektiver, an seine Stelle. Der gegenwärtige ist so schmählich, weil er das Beste, das Potenzial eines Einverständnisses von Menschen und Dingen, an die Mitteilung zwischen Subjekten nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft verrät. An seiner rechten Stelle wäre, auch erkenntnistheoretisch, das Verhältnis von Subjekt und Objekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Anderen. Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.“ (vgl. „Zu Subjekt und Objekt“ von Theodor Adorno , [ ] hinzugefügt)

„Versöhnung“ ist keine Attitüde

„Nachfragen des Unterschiedenen“ – das klingt unverständlich, aber es ist einfach. Das Problem stellt sich nicht nur für Philosophen oder Soziologen, sondern auch für Journalisten.

Beispiel:

Wenn eine aktuelle Nachrichtensendung im Fernsehen die Schlauchboote mit den von den deutschen Schiffen „Geretteten“ zeigt und dazu in der Nachrichtensendung lediglich gesagt wird: „Sie alle suchen ein besseres Leben“ – dann ist das zwar nicht falsch, aber da ist immer etwas „Unterschiedenes“ als „Nichtidentisches“ im Raum, nämlich die Frage: Welche Rolle spielen bei der „Rettung“ die Menschenschmuggler-Banden? Gibt es da eine Kooperation der deutschen „Retter“ mit den Menschenschmugglern? Gute Journalisten müssten diese Fragen stellen, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass keine Kooperation stattfindet oder dass man nichts darüber in Erfahrung bringen konnte.

Weiteres Beispiel:

Wenn heute ein protestierender Schüler in eine Fernsehkamera sagt: „Ich rette das Weltklima, indem ich kein Fleisch esse“, dann steht auch hier etwas „Unterschiedenes“ als „Nichtidentisches“ im Raum: Der Journalist, der das sendet, müsste doch auch fragen, warum die Lehrer den Schülern keine differenzierte Urteilsbildung beigebracht haben. Statt aber das Lehrerversagen zu thematisieren, wird den Zuschauern hier ein Journalistenversagen präsentiert, ein Unwille oder Unvermögen, kritisch nachzufragen. Dazu könnte der Journalist den Lehrer dieses Schülers aufsuchen und fragen, ob er denn auch glaubt, dass man das Weltklima retten könne, indem ein paar Schüler in Deutschland kein Fleisch essen.

„Versöhnung“ ist nicht durch „kommunikative Hingabe“ zu erreichen, auch nicht durch „zwanglose Begegnungen“ und auch nicht durch ein pfäffisches „Verhältnis zur Natur“. „Versöhnung“ ist keine Attitüde. Versöhnung zielt auf eine „rationale Identität“ der Dinge. Jene herzustellen, ist auch das Interesse der mündigen Bürgerinnen und Bürger – und auch deren Interesses an Politik. Sie haben ein Interesse an der rationalen Identität der Sachen, also auch der Sache, die die Politik jeweils behandelt. Sie wollen nicht mit Floskeln abgespeist werden, mit denen sie über die Realität der Sachen hinweggetäuscht werden sollen.

Das Denken in Widersprüchen aufrechterhalten

„Rationale Identität“ ist also kein „ethischer“, normativer Begriff, denn wer rationale Identität sucht, erhält seine Maßstäbe nicht aus einer Ethik, sondern aus dem, was sich aus der „unversöhnten Sache“ selbst ergibt. Adorno:

„[…] denn die unversöhnte Sache, der genau jene Identität mangelt, die der Gedanke surrogiert [d. h. ersatzweise präsentiert], ist widerspruchsvoll und sperrt sich gegen jeglichen Versuch ihrer einstimmigen Deutung. Sie, nicht der Organisationsdrang des Gedankens veranlasst zur Dialektik.“ (s. „Negative Dialektik“ von Theodor Adorno, [ ] hinzugefügt)

Was Dialektik ist, muss hier nicht erörtert werden (s. hierzu „Negative Dialektik“ von Theodor Adorno 1966), man könnte hier auch „… veranlasst zu einem differenzierten Urteil“ sagen. Rationale Identität kann nur durch einen Blick auf die Welt hergestellt werden, der das Denken in Widersprüchen aufrechterhält und damit gegen jede einfache, vorurteilsvolle Herstellung von Identität opponiert.

Das Erkennen objektiver Qualitäten in der Praxis

„Erklär mal ’nem Bekloppten, dass er bekloppt ist“, sagte Dieter Bohlen. Bohlen macht jedes Jahr die Sendung „Deutschland sucht den Superstar“. Darin sucht eine Jury unermüdlich nach guten Darbietungen von gefühlvollen Songs. Gute Darbietungen sind solche, die im Gesang und der Performance Qualität zeigen. Es gibt einige, die im Rahmen des Genres/Formats des gefühlvollen Songs fantastisch gut singen und performen können. Es bewerben sich auch junge Leute, die ihre Sache gut machen, aber nicht ins Format, ins Genre passen, zum Beispiel Rapper.

Vor allem aber bewerben sich viele, die nicht singen können und deren Performances grauenhaft stümperhaft sind. Man merkt, dass diese Personen keinerlei Arbeit und Anstrengung geleistet haben, geschweige denn eine Ausbildung in der Kunst des gefühlvollen Songs und der Performance hatten. Auch diese nicht gelungenen Auftritte werden in den Sendungen gezeigt. Wenn die Jury aus prominenten Song-Experten sie dann kritisiert, verteidigen manche „Bekloppte“ ihren Schrott vehement und behaupten – ganz im Sinn der Postmoderne –, dass sie eben „anders“ singen und performen.

Dass das alles in den Sendungen gezeigt wird, auch die nicht gelungenen Auftritte und die vernichtenden Urteile der Jury – und dass Bohlen seine Urteile immer mal in drastische Worte fasst –, macht den Reiz dieser Sendungen aus. Der Reiz besteht darin, dass man sich als Zuschauer im Vergleich der schlechten mit den perfekten Darbietungen selbst ein Urteil bilden kann. Wenn etwas gut war, begründen die Mitglieder der Jury das. Sie tun das nicht mit einem musikwissenschaftlichen Vortrag, sondern sie sagen oft nur, dass das „hammergeil“ war oder dass sie eine Gänsehaut gekriegt hätten. Vergleicht man aber selbst die Auftritte, stellt man fest, dass die Jury meistens Recht hat.

Also: Objektive Qualitätsunterschiede kann man auch empfinden – und dann erst, wenn man kann und will, sprachlich artikulieren. Aber objektive Qualitätsurteile sind immer rational begründbar.

Das gilt auch für die Politik, wenn sie demokratisch sein soll. So wie bei Bohlen eben schlechter ist, wer die Töne nicht trifft und besser, wer die Töne trifft, so ist auch in der Politik schlecht, wer Hypes und Hysterien produziert und besser, wer Sachpolitik in klare, einfache Worte und Begründungen fassen kann.

Die materielle und zugleich kulturelle Basis von Rationalität

Wenn man keine Moralkeulen schwingen und auch keine puritanischen Benimmregeln propagieren möchte – woher kann dann das Interesse am objektiven Vergleichen kommen? Adornos Antwort: Überlegungen darüber, was nützlich ist und was nicht, haben in allen Gesellschaften ihre materielle Basis im Tausch. Ohne rationale, objektive Identifikation der getauschten Sachen wäre Tausch nur Täuschung und Betrug. Adorno hierzu:

„Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn wer den nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt [d. h. setzt die ganze Welt des Nichtidentischen in Bezug] zum Identischen, zur Totalität.“ (s. „Negative Dialektik“ von Theodor Adorno, [ ] hinzugefügt)

Das bedeutet: Wenn nichtidentische Dinge identisch gemacht werden, werden sie vergleichbar gemacht. – Dann kommt der hier entscheidende Gedanke:

„Würde indessen das Prinzip abstrakt negiert; würde als Ideal verkündet, es solle, zur höheren Ehre des irreduzibel Qualitativen, nicht mehr nach gleich und gleich zugehen, so schüfe das Ausreden für den Rückfall ins alte Unrecht.“ (Ebd.)

Also: Die Herstellung von Vergleichbarkeit ist eine produktive Sache, und man würde nur das alte Unrecht befördern, wenn man sich – postmodern – damit begnügen würde, das unvergleichlich Qualitative – die „Diversity“, die „Differenz“ – zu idealisieren.

Den Geist des rationalen Gesellschaftsvertrags real praktizeren

Die öffentliche Herstellung von rationaler Identität – das ist eine Fortführung der Ideen der Aufklärung, auf die kein Demokrat verzichten kann. Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen!“ hat in diesem Sinn auch eine kulturelle Dimension: „Mehr Rationalität wagen!“

Natürlich wäre es naiv, so etwas lediglich als Benimmregel zu propagieren. Und wenn es stimmt, dass bereits der Warentausch rationales Denken impliziert, so heißt das nicht, dass er sie immer auch befördert. Außerdem muss man lernen, dass auch Rationalität sich auch in Angemessenheit und maßvollem Handeln zeigen muss. Dafür braucht man dann doch – und die Theoretiker und Politiker der Aufklärung wussten das –, gesellschaftliche Einrichtungen, die den Geist des rationalen Gesellschaftsvertrags real praktizeren. Es bedarf hierfür der Infrastrukturen! Selbst wenn die Vorstellung von autonomen Subjekten, mündigen Bürgerinnen und Bürgern, und von Demokratie einen utopischen Aspekt hat, gehören dazu auch reale Infrastrukturen, in denen die Herstellung rationaler Vergleichbarkeit garantiert wird:

Infrastrukturen wie Pressefreiheit; Meinungsfreiheit; eine funktionierende Öffentlichkeit; die Freiheit von Kunst und Wissenschaft; eine von den Interessen politischer Demagogie unabhängige Schulbildung. Auch eine von den Interessen von Wirtschaft und Politik unabhängige Universitätsausbildung und politische Bildung. Nur über derartige Infrastrukturen wird rationaler Vergleich möglich. Es ist Aufgabe der Politik, diese Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen, zu pflegen und deren politische und ökonomische Unabhängigkeit zu sichern. Für Politikerinnen und Politiker kann nur das der Imperativ sein. Erst diese Pflege kultureller Infrastrukturen, die freiheitliche, unabhängige Individuen schaffen – und nicht nur formal-paritätische Repräsentanzen und Privilegien – wäre dann auch der wirkliche, ernsthafte humanitäre Imperativ.

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 2 finden Sie hier.

Dies ist ein Auszug aus: „Machtspiele der Gegenwart“ von Dieter Prokop, 2020, Hamburg: tredition, hier bestellbar.

Foto: Fabian Nicolay

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Rolf Lindner / 10.06.2020

“Infrastrukturen wie Pressefreiheit; Meinungsfreiheit; eine funktionierende Öffentlichkeit; die Freiheit von Kunst und Wissenschaft; eine von den Interessen politischer Demagogie unabhängige Schulbildung. Auch eine von den Interessen von Wirtschaft und Politik unabhängige Universitätsausbildung und politische Bildung. Nur über derartige Infrastrukturen wird rationaler Vergleich möglich. Es ist Aufgabe der Politik, diese Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen, zu pflegen und deren politische und ökonomische Unabhängigkeit zu sichern.” Schön geschrieben der Artikel, oder gut gebrüllt Löwe. Was aber tun, wenn in Deutschland der politmediale Komplex genau das Gegenteil tut. Der befasst sich höchstens mit solchen Artikeln oder ihren Autoren - wenn überhaupt, um sie mit seiner Pseudomoral zu diffamieren und niederzuschreien. Der Autor kann dabei noch froh sein, dass das Buch, aus dem der Artikel herausgezogen wurde, nur bei einigen wenigen Menschen mit überdurchschnittlichem IQ Wiederhall finden wird. Bei einer größeren Publizität müsste er mit einem Besuch von Antifa-Schergen rechnen. Zu dem Schäuble-Zitat: Irgendwelche Konsequenzen zu dem Geschriebenen sind ihm jedenfalls nicht nachzuweisen. Abgesehen davon, dass solche Debatten sowieso auf einer Ebene stattfinden, die die realen Vorgängen, wie sie hier und jetzt z.B. am Wochenende stattfanden und weiter stattfinden werden, in keiner Weise berühren werden.

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