Hamed Abdel-Samad, Gastautor / 14.09.2020 / 15:00 / 46 / Seite ausdrucken

Meine Liebeserklärung an Deutschland

Vor 25 Jahren kam ich als Student nach Deutschland. Seitdem ist viel passiert. Mit mir, mit Deutschland und mit meiner Beziehung zu diesem Land. Ich wurde ein freier Mensch, der sich aus der Umklammerung der Religion mit all ihren Zwängen lösen konnte. Ich wurde ein freier, aber auch ein bedrohter Schriftsteller, der von Personenschützern begleitet werden muss. Das Land wurde in den vergangenen 25 Jahren bunter, diverser, liberaler. Und dann langsam immer polarisierter. Aus der Polarisierung wurde mit der Zeit eine tiefe Spaltung. Eine Spaltung, die zunehmend den gesellschaftlichen Frieden bedroht und die Errungenschaften dieses Landes gefährdet.

Die einen suchen in der Multikulti-Doktrin einen Ablassbrief für vergangene Schuld, die anderen fliehen vor dieser Schuld in Wut, Großkotzigkeit und Reichsnostalgie. Und die bürgerliche Mitte richtet sich in einer emotionalen, intellektuellen und politischen Komfortzone ein. Und so spaltet die Schuld die Republik, statt sie zu einen! Ich habe bislang viele Bücher über meine Herkunftskultur und über Migration veröffentlicht. Nun kommt dieses Buch, das sich ausschließlich mit Deutschland, seiner Geschichte, seiner Kultur und seinen Problemen der Gegenwart beschäftigt. Manche behaupten, es gäbe jenseits der deutschen Sprache keine spezifische deutsche Kultur. Wer soll diese Behauptung widerlegen, wenn nicht einer, der von außerhalb kommt und sich seit einem Vierteljahrhundert mit der deutschen Mentalität, Lebensweise, Philosophie und Politik auseinandersetzt?

Ich blicke nicht nur auf die letzten 25 Jahren zurück, sondern auf 1.000 Jahre deutsche Geschichte und versuche, die Frage zu beantworten, was Deutsch-Sein bedeutet und was Deutschland – über die Zeitläufte hinweg – im Innersten zusammenhält. Ich war auch auf der Suche nach dem Urproblem der Deutschen und kam zu einem überraschenden Ergebnis. Dieses Urproblem war nicht nur für den Holocaust, sondern auch für die heutige Polarisierung und die vergiftete Streitkultur mitverantwortlich!

Deutschland ist das Produkt all dessen, was auf seinem Boden geschah

Ich habe diesem Buch den Titel „Aus Liebe zu Deutschland“ gegeben, weil ich dieses Land mit all seinen Fehlern, Brüchen, Widersprüchen und Narben wirklich liebe. Ich sehe den Prozess seiner Entwicklung als Widerspiegelung meiner eigenen Geschichte. Wir haben beide einen sehr langen Weg zu uns selbst zurückgelegt. Einen Weg, der von Selbstüberschätzung, Zerrissenheit, Wut, Aggression, Selbsthass und Schuldgefühlen, aber auch von Selbstkritik, Selbstverantwortung und Selbstüberwindung gekennzeichnet ist. Wir haben beide eine Art frühkindliche Störung und ein Trauma erlitten, das bis heute posttraumatische Verhaltensstörungen mit sich bringt.

Wir waren beide lange stark auf das Unheil in unserer Geschichte fixiert und versuchten, auf seinen Trümmern eine Identität und ein Wertesystem zu errichten, das sich vor allem in Abgrenzung zum Vergangenen definiert. Wir neigten beide in der Vergangenheit dazu, von einem Extrem ins nächste zu wechseln. Aber wir beide wagten es auch, uns für die westlich-freiheitliche Lebensweise zu öffnen, obwohl unsere früheren Identitäten gleichsam als Antithese dazu galten. Wir wagten beide den Wandel und zerbrachen nicht an den Veränderungen, obwohl wir immer noch verwundbar sind.

Ich unterscheide deshalb nicht zwischen einem hellen und einem „Dunkeldeutschland“, nicht zwischen „Gutmenschen“ und Patrioten. Ich suche mir aus der Geschichte keine dunklen Jahre und keine Sternstunden heraus, um Deutschland daran festzumachen oder es darauf zu reduzieren. Deutschland ist das Produkt all dessen, was auf seinem Boden geschah, und es ist die Summe aller Menschen, die hier leben. Das Land als Ganzes, als Prozess zu verstehen und zu akzeptieren, hat mir geholfen, mich selbst zu verstehen und zu akzeptieren. Durch die Außen- und die Innensicht, durch die Zuneigung und die Distanz zum Land kann ich Deutschland anders sehen und vielleicht besser verstehen als viele, die hier geboren sind.

In diesem Jahr feiert Deutschland dreißig Jahre deutsche Einheit. Dieses Buch ist mein Beitrag dazu. Darin schreibe ich über die deutsche Identität, die Erinnerungskultur, die Willkommenskultur, die Wutkultur und die Leitkultur. Ich schreibe über Werte und Ängste, über die politische Mitte und die Zivilgesellschaft, über die Demokratie und ihre Feinde. Meine Liebeserklärung an Deutschland ist keine Sonntagsrede und keine Laudatio, sondern eine ehrliche Auseinandersetzung mit meiner Wahlheimat und ein kritischer Beitrag zu den aktuellen Debatten.

Alle, die eine ehrliche Debatte durch Demagogie, Gesinnungsethik, Emotionalisierung, Moralisierung, Maulkörbe und Denkverbote behindern, fügen dem Land großen Schaden zu und hindern es daran, seine Potenziale zu entfalten. Der Untertitel lautet „Ein Warnruf“, weil ich sehe, dass das Land gerade dabei ist, einige seiner wichtigsten Errungenschaften zu verspielen!

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Hamed Abdel-Samads Facebookseite.

„Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf“ von Hamed Abdel-Samad, 2020, München: dtv, hier bestellbar.

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Zdenek Wagner / 14.09.2020

Vielleicht sollten die wackeren jungen Weltverbesserer, Deutschlandhasser, Islamurmarmer, Wasserflaschen- und Teddybärenwerfer einfach ihre Wuschelköpfe aus ihren Allerwertesten ziehen und sich mal so richtig in ihrem Land, dessen baldigen Untergang sie so sehnlich herbeiwünschen, umschauen - und dann erst die verpickelten und selten dummen Münder aufreißen. Hallloooooo? Deutschland quillt förmlich über vor Kultur! Kaum ein Land auf der Welt kann sich derart vieler Kulturgüter rühmen wie Deutschland. Kirchen, Schlösser, ja ganze Städte, die von einer hoch entwickelten Baukunst zeugen. Schon mal den Kölner Dom gesehen? Musik (Beethoven, Haydn, Bach (schrieb jede Woche eine Kantate)  - sind bekannt, oder?), Dichtung (Rilke - schon mal gehört?), Philosophie (Kant?), Medizin (Semmelweis, Röntgen, Virchow?) etc. etc. etc.  Schon mal den Namen Luther gehört? Schopenhauer? Das könnte ich jetzt wochenlang so weiter treiben! Aber vielleicht sollte man bei dem Versuch den Begriff “Kultur” zu definieren gar nicht erst so hoch greifen. Im Grunde genommen “wissen” (fühlen) wir alle instinktiv was Kultur ist, nur sobald man dem Versuch des philosophischen Deklinierens und Sezierens erlegen ist, verliert sich der Faden im Nichts. Es ist wie mit dem Tausendfüßler, der beim Nachdenken darüber, welchen Fuß er vor den anderen setzen soll, auf einmal nicht mehr gehen. Oder wie mit den Schmetterlingsflügeln, die nicht angetastet werden dürfen. Kultur ist - neben der Sprache versteht sich - alles, was wir tagsüber denken und tun, unsere Alltagsgepflogenheiten, der Klatsch im Treppenhaus, die Pünktlichkeit des Gas-Wasser Installateurs, Fußball, die besten Autos der Welt, Weißwurst und Lederhosen, Quax der Bruchpilot, Fassbender, Schwarzwald, Schloß Schwanstein, Die kleine Hexe, Sauerkraut, Spendenfreudigkeit, Fleiß, Bausparvertrag ... Und nun die 1 Million Dollar Frage: Was hat uns die Zuwanderung im Austausch dafür Besseres anzubieten?????????????

Wolfgang Nirada / 14.09.2020

Schön mal wieder von Ihnen zu hören (bzw zu lesen)... An Ihrer Stelle würde ich mir aber trotz Ihrer Zuneigung zu diesem untergehenden Deutschland schleunigst ein sicheres zivilisiertes Land suchen in dem Recht, Ordnung, Freiheit und Sicherheit gewährleistet ist. Wenn der geniale Donald Trump hoffentlich die Wahl gewinnt wären die Vereinigten Staaten von Amerika für weitere 4 Jahre eine gute Alternative… Deutschland mutiert unaufhaltsam und unumkehrbar zu einem der islamischen Shithole-Countries die jemanden wie Sie am liebsten am nächsten Baukran aufknüpfen würden…

Dr. Inge Frigge-Hagemann / 14.09.2020

Ich fürchte, die Schadenzufügungen, die Sie exakt benannt haben, schreiten immer deutlicher und schneller voran. Am Ende steht der’point of no return’ und das wars dann mit dem einst schönen Deutschland. Ein kunterbunter, kritikloser, deindustrialisierter Einheitsbrei mit mittelalterlichen Lebensweisen bevölkert dann ein Gebiet, das einmal Deutschland hieß.

Ilona Grimm / 14.09.2020

Ich freue mich sehr, endlich einmal wieder von Hamed Abdel-Samad auf der Achse zu lesen! Da ich bisher alle (?) auf Deutsch erschienenen Bücher von ihm besitze und mit großem Interesse gelesen habe, werde ich mir auch das neue zulegen. Ein nicht Einheimischer, der freundlich über Deutschland und seine Menschen, Geschichte und Kultur schreibt, ist mal eine Abwechslung. Es liegt doch eine große Gefahr darin, dass Menschen, die von Zugewanderten und mit ihnen verbündeten linksgrünen zertifizierten Gutmenschen stereotyp als Kartoffeln, Köterrasse und Rassisten geschmäht werden, über kurz oder lang dieselbe Aggressivität entwickeln, die ihnen entgegengebracht wird. Alle leben vom Fleiß der verachteten Einheimischen und nutzen deren Wirtschaftskraft und technische Errungenschaften ohne moralische Bedenken aus, was andererseits als „kulturelle Aneignung“ diffamiert würde. Nun bin ich sehr gespannt, welches das Urproblem von uns Deutschen ist. Aber da habe ich schon im voraus meine Schwierigkeiten: Wer ist ein Deutscher? Ein Bayer (wenn ja, welcher: Oberbayer, Niederbayer, Schwabe, Allgäuer, Oberpfälzer, Oberfranke, Mittelfranke, Unterfranke) oder Hesse, Niedersachse,  Thüringer, Sachse, Holsteiner….? Und alle mit deutlich unterschiedlichen Eigenschaften/Eigenheiten, Dialekten usw., je nach Region. Aber es muss wohl so sein, dass wir alle dasselbe Urproblem (genetisch?) mit uns rumtragen, denn den Holocaust hat – von Ausnahmen abgesehen - das ganze Volk mit getragen und die jetzige Spaltung zieht sich auch durch alle Gesellschaftsschichten unabhängig von der regionalen Herkunft der Menschen. -//- Dreißig Jahre „deutsche Einheit“ werden demnächst gefeiert. Und fünfzehn Jahre davon regiert uns ein eisiges, herzloses Produkt der DDR. Deutschland ist nicht mehr mein Land. Und das hat nichts, aber auch GAR NICHTS, mit Zuwanderern wie Hamed Abdel-Samad zu tun! Menschen wie ihn empfinde ich als Bereicherung!

Christian Kaisan / 14.09.2020

Hab nur ich “das Urproblem der Deutschen” nicht verstanden?

Claudius Pappe / 14.09.2020

Seit 25 Jahren leben sie nun in Deutschland. Das ist nur der Zeitraum der ” Wiedervereinigung” . Ich kenne auch den Zeitraum 30 Jahre vor der ” Wiedervereinigung”. Das war in der Bonner Republik ein ganz anderes Deutschland, als das sie es kennen. In der Bonner Republik gab es nicht so viele Schichten wie heute, da waren ( nach heutigen Maßstäben) fast alle gleich im Vergleich z.B. England.. Ja, es gab die “reichen” Zahnärzte, damals zählte Leistung und Bildung noch. Das Bildungssystem war noch nicht so durchlässig wie heute, aber wer wollte und sich anstrengte konnte seinen Weg machen. Vielleicht nicht nach ganz oben, aber immerhin konnte ein gut ausgebildeter Facharteiter als Alleinverdiener ein Haus bauen.

Jutta Faerber / 14.09.2020

Ich freue mich sehr darüber endlich wieder etwas von Ihnen zu hören und zu lesen! Ich hoffe doch, dass Sie ihr Buch in diversen Fernsehformaten vorstellen dürfen. Vielleicht schicken Sie ein Exemplar an Aydan Özoguz zur Horizonterweiterung? Interessant wäre eine Diskussion zwischen Ihnen im GEZ-Fernsehen.

Werner Arning / 14.09.2020

Solange Deutschland seine Extreme in den Griff bekommt, handelt es sich um ein Land mit riesigem Potential. Derzeit erleben wir die Kraft dieses Extrems wieder. Es ist aus seinem (einige Jahrzehnte dauerndem) Schlummer erwacht. Deutschland ist gefährdet, solange das Extrem „regiert“. Deshalb muss es darum gehen, dem „deutschen Extremismus“ die Stirn zu bieten, Deutschland wieder zu zähmen. Das wilde Tier muss wieder an die Leine. Ansonsten bekommen wir es mit seiner Unberechenbarkeit zu tun. Diese wirkt zerstörerisch und selbstzerstörerisch. Ihr Wesen ist zutiefst irrational. Rationale Kräfte müssen die Oberhand gewinnen. Vernunft muss wieder walten. Das ist die Aufgabe, welcher es sich zu widmen gilt. Die Gefahr liegt darin begründet, dass sich die heutige Generation nicht mehr an den lange zurückliegenden, letzten Wahnsinn erinnert. Die Erinnerung ist nur oberflächlicher Art.

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