Andreas Schmitt arbeitet in der EDV-Abteilung des Bischöflichen Ordinariats in Mainz, sitzt für die SPD im Parlament der Verbandsgemeinde Nieder-Olm vor den Toren der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt und ist amtierender Präsident der wohl bekanntesten Karnevalssitzung der Republik, die unter dem Titel „Mainz bleibt Mainz“ im jährlichen Wechsel von ARD und ZDF bundesweit übertragen wird und, wenn man den veröffentlichten Zahlen Glauben schenken mag, immer noch zwischen fünf und sechs Millionen Zuschauer vor den Bildschirmen versammelt. In der Corona-Session 2020/21 wird das Helau-und-Wolle-mer-se-roilosse-Spektakel ohne Saalpublikum und Elferrat vorproduziert. Der Zusatz „... wie es singt und lacht“ fällt diesmal weg, weil es im Dauer-Lockdown nichts zu lachen gibt. Und singen ist eh verboten.
Wie es sich für einen Mainzer Sitzungspräsidenten gehört, steigt Andreas Schmitt auch selbst in die „Bütt“, wie die närrische Rostra mit dem Relief einer Eule traditionell genannt wird. Dort zieht er als „Obermessdiener“ vom Mainzer Dom vom Leder. Letztes Jahr wurde er mit seiner „Büttenrede gegen rechts“ in den Medien ausgiebig gefeiert. Nur wenige Stunden nach dem rechten Terroranschlag in Hanau, der vielleicht gar kein rechter Terroranschlag war, wurde seine „bitterernste Brandrede gegen rechte Hetzer“, so die Journalistin Dunja Ramadan in der Süddeutschen Zeitung, zum Internethit. Und kein geringerer als „YouTube-Star“ Rezo nannte den eifernden Kappenträger mit dem ausladenden Körperformat und dem ausgeprägten Doppelkinn einen „nicen Typ“.
Sein Vortrag begann mit ein paar eher harmlosen Kalauern, dann redete sich der „Endfünfziger“ laut SZ in Rage: „Die Demokratie, die werden wir schützen / Eure Gesinnung wird Euch nix nützen / Unsere Kinder werden nicht mehr für Euch erfrieren / auf keinem Schlachtfeld mehr krepieren / und auch nicht kämpfen bis zuletzt / während Ihr Euch in den Führerbunker setzt.“ Tuffta, Narrhallamarsch, Kameraschwenk ins Publikum, wo Cem Özdemir von den Grünen saß, was ihm später in den sozialen Medien angekreidet wurde, weil man nach einem Ereignis wie dem in Hanau nicht ausgelassen Karneval feiern dürfe.
Mainz war einst die „radikalste deutsche Stadt“
Die Redactrice hatte noch ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass Schmitt schon mehrfach gegen die AfD gewettert habe, mit Pointen wie „vom Gauland zum Gauleiter ist es gar nicht so weit“ oder „Wenn Pegida und AfD zum Aufmarsch gehe / so viel Dummheit auf ei’m Haufen hat noch keiner gesehe“. In einem Phoenix-Interview zwei Tage vor der letzten rheinland-pfälzischen Landtagswahl im März 2016 durfte sich der SPD-Lokalpolitiker darüber echauffieren, dass „Rechtsradikale, fast kriminelle Elemente“ drauf und dran seien, in den Landtag einzuziehen, was sie dann auch taten, mit 12,6 Prozent der abgegebenen Stimmen. Da gelte es, so der SPD-Genosse Schmitt weiter, „die etablierten Parteien zu unterstützen, alle demokratischen Kräfte zu bündeln, um die Kameraden in Schach zu halten.“
2017 hatte der rheinland-pfälzische AfD-Chef Uwe Junge die Prunksitzung demonstrativ verlassen, nachdem der Kabarettist und erklärte SPD-Sympathisant Lars Reichow und der altgediente Büttenredner Hans-Peter Betz („Guddi Gutenberg“) die damalige AfD-Bundeschefin Frauke Petry als „Kräuterhexe“ und ihre Partei als „Bremsspur in der Unterhose Deutschlands“ bezeichnet hatten. Daraufhin kamen die Fastnachter sogar aus den eigenen Reihen unter Beschuss. „Till“ Friedrich Hofmann legte seinen Kollegen nahe, lieber zum „Florett“ statt zum „Holzhammer“ zu greifen und weniger dem „Populismus“ zu huldigen als der „geschliffenen Form des Ausdrucks“.
Im Gegensatz zum Münchner Ballfasching oder der archaischen alemannischen Fastnacht ist der rheinische Karneval, speziell die „Meenzer Fassenacht“, schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine hochpolitische Angelegenheit. Als sich die Mainzer mit den Mitteln karnevalistischer Parodie zuerst gegen die napoleonische Besatzungsmacht, später gegen preußische und österreichische Truppen in der „Bundesfestung Mainz“ und Metternichs Polizei- und Zensurregime auflehnten, gehörte dazu noch eine gehörige Portion Mut. Führende Karnevalisten wie Ludwig Kalisch, der von 1843 bis 1848 die politische Karnevalszeitschrift „Narrhalla“ redigierte, oder Franz Zitz, Präsident des Mainzer Carnevals-Vereins der Jahre 1843 und 1844, wurden nach dem Scheitern der Paulskirchen-Revolution in Abwesenheit zum Tode verurteilt und konnten nur in der Emigration überleben. Mainz war im Vormärz eine Keimzelle bürgerlich-demokratischen Widerstandes. Kein Wunder, dass der Historiker Heinrich von Treitschke das alte Mogontiacum als die „radikalste deutsche Stadt“ zwischen 1830 und 1848 bezeichnete.
Auf dass man im Parlament endlich wieder unter sich weilt
Eine gehörige Portion Zivilcourage bewies später auch der legendäre Mainzer Fastnachter Seppel Glückert mit seinen Spitzen gegen die braunen Machthaber. „Zu reden hier heut braucht man Mut, weil eh mer sich vergucke dut, als Opfer seiner närrischen Kunst kann einquartert wer'n ganz umsunst“, reimte er 1933. Zweimal soll er in späteren Sitzungen sogar das KZ Dachau erwähnt haben. Vor der „Einquartierung“ daselbst schützte ihn wohl nur seine Popularität in der Mainzer Bevölkerung.
Heute gegen „rechts“ auszuteilen und sich dafür vom versammelten Mainstream akklamieren zu lassen, erfordert vergleichsweise wenig Mumm. Zumal dann, wenn damit noch Werbung für eine Partei verbunden ist, die im Mainzer Rathaus seit Kriegsende unangefochten herrscht, von 1965 bis 1987 in Gestalt des bodenständigen, äußerst populären SPD-Oberbürgermeisters Jakob („Jockel“) Fuchs, heute in der des blassen Juristen und Berufspolitikers Michael Ebling, dessen einziges (auch nicht mehr besonders) besonderes Merkmal darin besteht, in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft zu leben. Der Mainzer SPD-Filz aus roten Landes- und Kommunalpolitikern, dem auch der jetzige Sitzungspräsident Schmitt angehört, ist legendär. Auch diesen März sind wieder Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz. Bühne frei für den wackeren Freiheitskämpfer Schmitt, auf dass man im Parlament endlich wieder unter sich weilt.
Heute sitzen die Philister mitten unter den Karnevalisten
Auch zu Helmut Kohls Zeiten als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und späterer Bundeskanzler schadete es nicht, als Mainzer Oberkarnevalist über das richtige Parteibuch zu verfügen. Ein Vierteljahrhundert lang bis 1989 versah Rolf Braun dieses Amt, seines Zeichens Referent in der Mainzer Staatskanzlei und Kohls Redenschreiber und erkennbar an seiner kantigen Hornbrille. 1978 hatte er in „Mainz bleibt Mainz“ einen legendären Auftritt als Müllmann und konnte noch Witze reißen, die ihn heute wegen „hate crimes“ geradewegs aus der Bütt vor den Kadi führen würden, so harmlos sie auch sind: „Zwei Türken fressen im Duett, schon morgens Knoblauch um die Wett. Das ist der Duft der weiten Welt, bringt Papa Freud und Kindergeld.“ Und weiter:
„Is wo was los, gleich welche Ecke, dann sind da, kennste auch verrecke, an all dem Ärger und Tumult uff jede Fall wir Deutsche schuld. Ich bin bestimmt kein Chauvinist, doch sag ich, weil es Wahrheit ist, wir reichen heute jedem Land zur wahren Freundschaft unsre Hand, der Scheel reist um die ganze Welt, all sind se scharf auf unser Geld, doch darf man uns bei dieser Reise, nit dauern vor den Koffer scheiße, sonst machen wir den Deckel zu, dann hat die liebe Seele Ruh.“
Braun trug das in breiter Mundart so sympathisch vor, dass eigentlich immer alle lachen konnten. Ganz anders Schmitt, dessen streckenweise bierernste Philippika gegen „rechts“ ein Wille zur Vernichtung des politischen Gegners durchzieht, der längst das Klima der öffentlichen Auseinandersetzung prägt. Während Schmitt unverhohlen hetzt und spaltet, schließt Braun mit einer rhetorischen Umarmung:
„Ich hab in meiner Mülltonn unne, vor kurzem hier die Kapp gefunne, die sicher einer fortgeschmisse, der wollt von Fassenacht nix wisse, ich setz se uff, guck wie se passt, so werd auch ich zum Enthusiast für unser vaterstädtisch Fest, das niemand aus den Fängen lässt, ob Müllmann, Bäcker, Gassekehrer, ob Beamter, Doktor oder Lehrer, ob Bürgermeister und Minister, wir kämpfen gegen die Philister, und liebe unsre Fassenacht, seht das is Meenz wies singt und lacht.“
Prinz Karneval, der große Gleichmacher, unter dessen Narrenkappe damals noch alle passten. Heute sitzen die Philister mitten unter den Karnevalisten.