Der spektakuläre Wirecard-Skandal steckt voller Mythen und hinterlässt viele offene Fragen. Seine juristische Aufarbeitung legt den Schluss nahe, dass das auch so bleiben soll. Ein Besuch in der Dunkelheit.
Seit dem 8. Dezember 2022 läuft der Strafprozess vor der 4. Großen Strafkammer am Landgericht München 1 gegen den ehemaligen Wirecard-Chef Markus Braun und seine Kollegen – oder sollen wir sagen: Komplizen? Bemerkenswert ist vor allem, worüber nicht gesprochen wird: Obwohl hier der größte Wirtschaftsskandal seit Bestehen der Bundesrepublik Gegenstand ist, ist in der Anklageschrift nur von Marktmanipulation, Betrug an den kreditgebenden Banken und ein bisschen Untreue die Rede, nicht aber vom Betrug an vielen tausend Aktionären, und schon gar nicht von Geldwäsche oder der eventuellen sonstigen mittelbaren Beteiligung an hierdurch möglicherweise finanzierten illegalen Geschäften.
Im Wirecard-Musterverfahren (Zivilverfahren) vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht (BayObLG) gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) Deutschland, Braun und andere auf Schadensersatz für die geprellten Anleger vertritt Rechtsanwalt Elmar Vitt gemeinsam mit der Kanzlei Mattil den Musterkläger Kurt Ebert. In dem parallel laufenden Strafverfahren der Staatsanwaltschaft gegen Braun und andere Wirecard-Manager versuchen sie (bislang erfolglos), als Nebenkläger zugelassen zu werden. Sie gehen davon aus, dass die Rechtslage diese Befugnis eindeutig hergibt. Grund: Sie nimmt an, dass die Anklage bewusst Informationen zurückhält, die zeigen würden, dass die Verantwortlichkeit für das Wirecard-Desaster noch woanders als bei den drei Angeklagten liegt. Bisher verweigert man ihnen aber hartnäckig jede Akteneinsicht und die Nebenklageposition, mit der sie selbst über Beweisanträge und Beteiligung an Zeugenvernehmungen an der Sachverhaltsaufklärung mitwirken dürften.
Zum Verständnis dieses Sachverhalts sollte man sich die Hintergründe vergegenwärtigen. Deshalb hier erst einmal eine Zusammenfassung des Wirecard-Skandals nebst Anmerkungen zu den Protagonisten, denn neben den Wirtschaftskriminellen spielen im „House of Wirecard“ auch Wirtschaftsprüfer, Behörden, Politiker und Geheimdienste eine Rolle, was der Geschichte erst die eigentliche Würze verleiht.
Sagenhafter Aufstieg dank großflächigen Betrugs
1999 wird der Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister in München gegründet. Das Internet ist noch lahm, aber bargeldloses, elektronisches Bezahlen schon der letzte Schrei. Während in der traditionellen Zahlungsabwicklung Visa und Mastercard dominieren, bewegt sich Wirecard auf eher schlüpfrigem Terrain, wickelt den Zahlungsverkehr für Sexhomepages und Online-Glücksspiele ab. Ausweislich der vorgelegten Zahlen scheint das FinTech-Unternehmen ein spektakuläres Wachstum hinzulegen. Da ahnt noch keiner, dass das Bild einer erfolgreichen Firma nur vorgetäuscht wird. In Wahrheit schreibt die Firma Verluste und braucht Kredite, frisiert Geschäftszahlen, auch um den Wert der Wirecard-Aktie in die Höhe zu treiben.
Das gelingt zunächst ganz gut, das vermeintliche Börsenwunderkind aus dem e-commerce-Sektor scheint das sonst eher wenig innovationsfreundliche Deutschland zu schmücken. Obwohl bereits 2008 erste anonyme Vorwürfe über intransparentes Reporting laut werden und die hohe Rentabilität hinterfragt wird – und 2015 in der Financial Times eine Artikelserie des Finanzjournalisten Dan McCrum mit dem Namen „House of Wirecard“ anläuft, in der auf gewisse Ungereimtheiten hingewiesen wird.
Als Wirecard 2018 die Commerzbank aus dem DAX verdrängt und die Aktie auf ein Rekordhoch steigt, der Börsenwert auf fast 25 Milliarden Euro klettert, hat der Betrug längst begonnen: Dokumente werden gefälscht, Konten erfunden, Umsätze aufgebläht, Luftbuchungen vorgenommen, um Kreditgeber und Investoren zu täuschen. Drittanbieter werden zur Geldwäsche eingeschaltet.
„Eine große Geldwäscheanlage“
2019 erhebt die Financial Times neue Vorwürfe gegen Wirecard. Es geht um mögliche Geldwäsche und Kontenfälschung in Asien, in die ein Wirecard-Manager in Singapur verwickelt sein soll. Jetzt erst wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die unter der Rechts- und Fachaufsicht des Finanzministeriums (seinerzeit Minister: Olaf Scholz) steht, aktiv und beauftragt die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) mit einer Analyse der Wirecard-Bilanz. Die Wirecard-Bank wird unter Geldwäscheintensivaufsicht gestellt, und das Unternehmen beauftragt Wirtschaftsprüfer mit einer Sonderprüfung, um die Vorwürfe der Bilanzfälschung zu entkräften.
Der Schuss geht aber nach hinten los. Der Sonderbericht der KPMG spricht von fehlenden Nachweisen für Umsatzerlöse und Einzahlungen auf Treuhandkonten. Für das Jahr 2019 können die Wirtschaftsprüfer keine ausreichenden Nachweise über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten ermitteln, die sich angeblich auf 1,9 Milliarden (!) Euro belaufen. Als Wirecard einräumt, dass die fraglichen Bankguthaben „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen“, bricht das Kartenhaus zusammen: Die Aktie geht in den Sturzflug über, Braun tritt zurück, sein Vertrauter und COO (Chief Operating Officer) Jan Marsalek wird gefeuert und verschwindet, die Staatsanwaltschaft München ermittelt wegen Bilanzfälschung und gewerbsmäßigen Bandenbetrugs.
Es folgen Insolvenzverfahren, Zerschlagung des Unternehmens, die Entlassung von zahlreichen Mitarbeitern. Die märchenhafte Geschichte vom Start-up, das zum Global Player wird, ist zu Ende. Der Liebling der Investoren hat sich als einer der größten Betrugsfälle der deutschen Nachkriegsgeschichte herausgestellt, das vermeintliche Vorzeigeunternehmen war im Grunde nur „eine große Geldwäscheanlage“, wie es der Politiker Fabio De Masi (parteilos, früher Die Linke) ausdrückt, der über erhebliches Wissen bezüglich des Wirecard-Skandals verfügt und im Untersuchungsausschuss des Bundestages, der zum Missfallen der damaligen Regierungsparteien Union und SPD eingerichtet wurde, nicht lockerließ.
Wobei sich eine Frage erhebt: Wer hat letztendlich aus welchem Grund die erforderlichen Informationen über das Geschäftsmodell durchgestochen? Theoretisch hätte Wirecard wohl noch eine Weile weitermachen können. Man arbeitete gleichsam mit Geld, das nur kurzzeitig oder auch nur in der Phantasie vorhanden war, aber so etwas kann lange gutgehen. Dinge wie Drogen- oder Waffengeschäfte werfen ja durchaus großzügige Provisionen ab.
Wer weiß was?
Noch mehr wissen allerdings die beiden mutmaßlichen Haupttäter aus Österreich, Markus Braun und Jan Marsalek. Nur dass ersterer schweigt und letzterer seit seinem Entschwinden nach Minsk nicht mehr gesehen ward. Wobei nicht klar ist, ob er entschwand oder entschwunden worden ist. Fest steht, dass er unter den Augen von Geheimdiensten und Behörden völlig ungehindert mit einem gemieteten Privatjet Typ Cessna Citation vom Flugplatz Vöslau-Kottingbrunn 40 Kilometer von Wien entfernt Richtung Minsk abfliegen konnte. Hier verliert sich seine Spur.
Insbesondere Marsalek, er verfügte über mindestens acht Pässe, scheint über eine beeindruckende kriminelle Energie zu verfügen; interessant sind seine Kontakte zu österreichischen, russischen und libyschen Geheimdienstlern – und zu österreichischen und deutschen Politikern. Letztere wollten sich möglicherweise mit einem deutschen Global-Player schmücken, erstere hegten naturgemäß ein intensives Interesse an den bei Wirecard gesammelten Daten über Kunden, deren möglicherweise spezielle Interessen und die Zahlungsströme, die das alles verraten.
Mit Braun angeklagt sind der ehemalige Chefbuchhalter des Konzerns, Stephan von Erffa, und Oliver Bellenhaus, ehemaliger Leiter der Wirecard-Tochtergesellschaft in Dubai. Um noch einmal die Dimension des Wirtschaftsverbrechens zu verdeutlichen: Sie haben ihre Kreditgeber um satte 3,1 Milliarden Euro geprellt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs – der Schaden der Anleger wird auf eine weit höhere Summe von bis zu rund 20 Milliarden Euro geschätzt.
Dass Jan Marsalek sich an einem unbekannten Ort aufhält, von dem er wohl nicht zurückkehren wird, lässt vermutlich einige Leute besser schlafen. Nicht zuletzt seinen Chef Braun, dessen Taktik darauf hinauslaufen dürfte, sich als Opfer von Marsaleks Machenschaften zu gerieren und sich ansonsten auf Unwissenheit hinauszureden.
Doch darüber hinaus bleiben Fragen. Warum hat es keiner kommen sehen? Schließlich habe es genügend Warnsignale gegeben, so der Rechtsanwalt Marc Liebscher in diesem Interview von 2020: Die Hälfte der Aktionäre seien Shortseller gewesen, die auf fallende Kurse der Aktien eines Unternehmens spekulieren, also kein Vertrauen in die echte Substanz des Unternehmens haben. Das hätte schon stutzig machen müssen, ebenso wie das niedrige Kurs-Gewinn-Verhältnis. Und erste Warnungen habe es schließlich bereits 2008 gegeben.
Was soll unter dem Teppich bleiben?
Dennoch habe der Wirecard-Skandal ein „komplettes Systemversagen“ offenbart, in das Wirtschaftsprüfer ebenso involviert gewesen seien wie die BaFin, Investoren mit „Casino-Mentalität“, die aufs schnelle Geld aus sind, und die einheimische Presse, die völlig unkritisch gewesen sei. Die Wirtschaftsprüfer von EY haben viele Jahre lang die Bilanzen von Wirecard für in Ordnung befunden, möglicherweise, weil, wie es in der Branche bisher üblich ist, im Anschluss an die Prüfungen oft die noch lukrativeren Beraterverträge bei derselben Firma winken. Jetzt ist das Unternehmen im Visier der Anwälte der geschädigten Aktionäre: Weil bei Wirecard nix mehr zu holen ist und Marsalek und Braun auch keine Milliarden lockermachen können, erscheinen Klagen nur bei EY und der BaFin sinnvoll.
Denn hinter der BaFin steht der Bund, der müsste im Ernstfall zahlen – mit unseren Steuergeldern, natürlich. Der Fall BaFin ist besonders interessant. Als Zahlungsdienstleister hätte Wirecard komplett geprüft werden müssen in Hinblick auf kapitalmarktrechtliche Fragen – und nicht nur die hauseigene Bank –, aber das geschah nicht. Tatsächlich wurde Wirecard lange geschützt, verfolgt wurden die Kritiker im Ausland – etwa der Börsenspekulant Fraser Perring, der sich ebenso wie die Journalisten Dan McCrum und Stefania Palma von der Financial Times eine Strafanzeige einfing. Auch sehr ungewöhnlich: das Short-Selling-Verbot 2019. Wetten auf fallende Kurse der Wirecard-Aktie wurden untersagt, was bei vielen Anlegern den Eindruck hinterließ, dass beim Skandalkonzern trotz zahlreicher kritischer Medienberichte alles in Butter sei. Noch einmal: Verantwortlich war zu jener Zeit als Finanzminister Olaf Scholz. Auch die Abschlussprüferaufsicht APAS versagte. Da hat die Rechtsaufsicht das Wirtschaftsministerium, also damals verantwortlich: Peter Altmaier. Und wer legte sich noch 2019, als es längst genügend Grund zu Misstrauen gab, auf einer China-Reise für Wirecard ins Zeug? Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Auch ein Ex-Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt trat gegenüber der Bundesregierung als Wirecard-Lobbyist auf.
Apropos: Die Tatsache, dass etwa Jan Marsalek mit diversen Nachrichtendiensten Umgang pflegte, könnte – wie bereits angedeutet – mit dem Zugang zu hochbrisanten Daten zu tun haben, an denen Geheimdienstler immer interessiert sind. Diese Daten könnten möglicherweise zudem zeigen, dass auch EY tiefer verstrickt sein könnte in die Machenschaften rund um Wirecard als nur durch schlampige Prüfungstätigkeit. Das würde auch erklären, warum sich – abgesehen von möglichen politischen Verstrickungen – die Justiz sehr zugeknöpft zeigt, was Akteneinsicht betrifft. „Denn: Viel Wissen, viel Ärger, / wer das Können mehrt, der mehrt die Sorge.“ Steht schon in der Bibel, Kohelet 1,18.
Lesen Sie morgen Teil 2: Wie die Strafjustiz die Wirecard-Opfer verhöhnt
Claudio Casula arbeitet als Autor, Redakteur und Lektor bei der Achse des Guten.