Susanne Baumstark / 03.10.2018 / 00:40 / Foto: Tomaschoff / 14 / Seite ausdrucken

Wir waren schon mal weiter: Toleranz 1974

Das Bombardement des Toleranz-Gebrülls wird jetzt wissenschaftlich begleitet: von der Forschungsstelle Toleranz an der Uni Kiel. Das Land könnte auch hier wieder erhebliche Gelder einsparen, wenn man sich einfach die Texte aus jenen Zeiten vornimmt, in denen noch normal gedacht und geschrieben wurde. Auf einen potenziellen Missbrauch der Toleranzidee respektive eine missbräuchliche Terminologie wies etwa Kurt Sontheimer 1974 in der Wochenzeitung Die Zeit hin.

Für ihn ist Toleranz das Ergebnis einer moralischen Anstrengung: eine Tugend, die nicht die bloße Folge unserer natürlichen Neigungen ist. „Tolerant sein bedeutet also, sich mit etwas abfinden, obwohl es einem gegen den Strich geht.“ Allerdings nicht – bis auf die pauschal ausgegrenzten Kritiker der Migrationspolitik – maßlos und unbestimmt, wie die Forderung danach heute überall auftritt: „Nun wäre es gewiss unsinnig, verlangen zu wollen, man solle sich mit allem und jedem abfinden, was einem widerfährt. Unbegrenzte Toleranz, die alles gutheißt, was geschieht, kann also gewiss nicht der Sinn der Toleranzidee sein.“ 

Richtig verstandene Toleranz, die weiß, warum und wofür, „ist keine Angelegenheit des Gefühls, sondern ein Akt der Vernunft“. Sie bewege sich, im Gegensatz zur exzessiven Toleranz, innerhalb bestimmter Grenzen. „So kann es sich zum Beispiel ein Rechtsstaat nicht erlauben, die illegale Gewaltanwendung oder den Rechtsbruch generell zu tolerieren, wenn er Rechtsstaat bleiben will. Es kann auch keine Toleranz gegenüber dem Verbrechen und gegenüber der Inhumanität geben.“

Die Kritik der 1980er Jahre bezog sich deshalb auf „die Verwässerung der Toleranzidee durch ihre Identifizierung mit der Gleichgültigkeit“. Unter dem heuchlerischen Schirm von Toleranz dürfe man reden, schreiben, organisieren, solange Herrschaftsinteressen davon nicht berührt werden. „Die Herrschenden halten sich sogar viel darauf zugute, als tolerant und freiheitlich zu erscheinen, aber diese ihre Toleranz … entspringe der Gleichgültigkeit und dem mangelnden Interesse an dem, was andere tun und erleiden, und sie schlage sofort um in die Intoleranz“, in die Verfolgung, wenn bestehende Machtverhältnisse durch Meinungen und Gruppen entscheidend verändert werden. 

Sontheimer stellte klar: „Toleranz als Selbstzweck, als Dauerhaltung, die sich nicht an anderen Werten (wie etwa Freiheit) orientiert, ist nicht Toleranz, ... sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenstück zur Toleranz ist weniger die Intoleranz als die Indifferenz, salopper gesprochen, die allgemeine ‚Wurschtigkeit‘.“ Die Devise müsste also sein: Null Toleranz fürs Weiterwurschteln und: eine konkret definierte (!) Haltung zeigen.  

Foto: Tomaschoff

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Dirk Jungnickel / 02.10.2018

Danke ! Ein wichtiger Beitrag. Toleranz ist wohl einer der am meisten missbrauchten Begriffe.  Er wird stets von denen missbraucht, die berechtigte Kritik an ihren Handlungen oder Ideen als intolerant diffamieren.  Der Begriff ist gefährlich, weil die Negation   dazu geeignet ist,  andere mundtot zu machen.  Toleranz funktioniert ausschließlich auf Augenhöhe. Ob man ihn auf die Vernunft reduzieren kann, ist fraglich. Kompliziert wird es im religiösen Disput. Als Christ wird mir Nächstenliebe auferlegt, also Toleranz zu jedermann ? Mitnichten. Wenn mir jemand gegenüber tritt, von dem ich weiß, dass seine Religion die meine ablehnt oder gar bekämpft, dann schade ich der meinen, wenn ich das toleriere.  Also wende ich mich ab, aber halte es als Protestant mit Luther: “Eine feste Burg ist unser GOTT, eine gute Wehr und Waffen ... ! ”

Thorsten Helbing / 02.10.2018

Wie weit geht Toleranz? Muss man Tolerant gegenüber der Intoleranz sein bis die Toleranz eine Fussnote der Geschichte der Toleranten gegenüber den Intoleraten aufgrund der Toleranz der toleranz wegen den Intoleranten das Feld überliess? Es scheint so. 1974 ist mein Geburtsjahr. Bis 2015 war ich ein sehr toleranter, weil an den Rechtsstaat glaubender Mensch. Was in drei Jahren kaputt gemacht werden kann, das kann keine Erinnerung an den 40 Jahren davor gutmachen. Entropie! Scheint ein allgemeingültiges Gesetz zu sein. Schade. Aber nicht wieder herstellbar. Richtungswechsel: Ja, das wäre wohl möglich. Mögen die Wähler in Zukunft Weise entscheiden.

Marcel Seiler / 02.10.2018

Danke! Dieser Artikel geht in die richtige Richtung: Wir, also die Gegner der herrschenden Klasse in Politik und Medien, müssen unbedingt auf die philosophischen und psychologischen Grundlagen eingehen, die diese völlig fehlgeleitete Klasse motitiviert. Die Kritik von einzelnen Politikfeldern ist nicht verkehrt, aber geht nicht an den Kern: der ist ein tiefes Fehlverständnis von Staat und Gesellschaft und tragenden Grundkonzepten, hier: Toleranz.

Fritz kolb / 02.10.2018

Ich habe den Eindruck, dass Toleranz immer stärker auf die Probe gestellt wird. Toleranz beispielsweise gegenüber Politikern und deren Entscheidungen. Jüngstes Beispiel dafür, was ich meine, sind die heute als „Erfolg“ titulierten Ergebnisse des sog. „Dieselgipfels“. Also grob zusammengefasst soll sich jeder Besitzer eines Euro5-Diesel ein neues Auto kaufen. Sein altes wird nicht verschrottet, sondern kann weiterverkauft werden, mit riesigen Abschlägen zu Lasten des Verkäufers.  Die Hersteller lehnen ihre Verantwortlichkeit schlicht ab. Da stehen sie also vor den Mikrofonen, unsere sog. Volksvertreter, schauen schön in die Kameras und erzählen dem Volk von einer Einigung, die keine ist. Soll ich mich also damit abfinden, obwohl es mir „gegen den Strich geht“? Es wäre angebracht und keineswegs ein Zeichen von Intoleranz, auch nicht von Wurschtigkeit, diese Figuren zu fragen, ab sie noch ganz bei Sinnen sind. Es gibt durchaus so etwas wie Fehlertoleranz, in der Wissenschaft und auch im platten Leben. Aber das ist einfach nur sehr dumm. Und Dummheit verdient keine Toleranz. Vielleicht wäre das auch ein geeignetes Forschungsobjekt für die Forschungsstelle Toleranz in Kiel, die in dem Fall auch Forschungsstelle für „wurschtige“ Blödheit heißen könnte.

Rudolf George / 02.10.2018

Das Wort “Toleranz” ist doch ohnehin nur noch eine Worthülse. Diejenigen, die es exzessiv im Mund führen sind sich so gut wie nie gewahr, dass das Objekt der Toleranz durch die Benutzung dieses Begriffs negativ konnotiert wird, da dieses Objekt lediglich erduldet wird, d.h. grundsätzlich nach wie vor abgelehnt wird. Und wenn die sich moralisch erhaben Fühlenden versuchen kritische Stimmen dadurch zum schweigen zu bringen, indem sie als intolerant stigmatisiert werden, verkennen die selbsternannten Moralisten, dass es weder tolerante noch intolerante Menschen, da es weder absolute Toleranz noch absolute Intoleranz gibt. Das einzig vernünftige, über das man sprechen kann, ist WAS man toleriert und WAS nicht. Sobald jemand also pauschal behauptet, “Sie sind aber intolerant”, outet er oder sie sich somit als Dumpfbacke.

Arne Brandt / 02.10.2018

Was die meisten Menschen nicht bemerken, ist, dass Pazifismus und Toleranz historisch gesehen oftmals als Waffen eingesetzt wurden. Es ist völlig offensichtlich, wieso der Ostblock im kalten Krieg die Friedens- und Anti-Atomwaffenbewegung im Westen unterstützt hat. Und es ist völlig offensichtlich, wieso die militaristische SED, die keinerlei Problem mit Mauern oder Todesstrafe hatte, nach der friedlichen Revolution eine 180° Wende machte und auf einmal Militär, Grenzen und Überwachung nicht ertragen konnte. Wohlgemerkt nur, solange es um die Staaten des Westblocks ging. “Toleranz” üben sie nur gegenüber dem IS und der Hamas, gegenüber der AfD oder Viktor Orban sind sie ganz und gar intolerant. & diese Art der selektiven “Toleranz” und “Friedfertigkeit” ist in Wirklichkeit das exakt Gegenteil, es ist eine knallharte, gezielte Aggression, die lediglich geschickt genug ist, sich als Friedfertigkeit zu verkaufen.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Susanne Baumstark / 11.07.2020 / 16:00 / 6

Die Maskerade der Tagesschau

Zur Rede der Bundeskanzlerin im EU-Parlament am 8. Juli anlässlich des Beginns der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat die Tagesschau wieder einen derart schmierigen Hofbericht abgeliefert, dass die hinterlassene Schleimspur sogar…/ mehr

Susanne Baumstark / 29.06.2020 / 06:00 / 82

„Helfer sind tabu”? Die gemanagte Missachtung

Das war schon ein ungewohnt gepfefferter Kommentar von Thomas Berbner in den Tagesthemen am 22. Juni: „Schon vor Stuttgart haben mir Beamte immer wieder berichtet, bei jungen Einwanderern verbreitet…/ mehr

Susanne Baumstark / 25.06.2020 / 10:00 / 14

Yanis Varoufakis und die „Progressive Internationale“

Weitgehend unbemerkt hat sich die post-kapitalistische „Progressive Internationale“ (P.I.) gegründet. „Wir organisieren, mobilisieren und vereinen progressive Kräfte aus der ganzen Welt“, tönt es dort. Themen…/ mehr

Susanne Baumstark / 15.06.2020 / 14:45 / 10

Die Krise als Studium

In akademischen Netzwerken wird der englischsprachige Master-Studiengang „International Organisations and Crisis Management“ beworben. Er startet im Wintersemester 2020/21 in Jena „Das passende Studium zur Corona-Krise“, meint…/ mehr

Susanne Baumstark / 30.05.2020 / 12:00 / 14

Corona-Arbeitsplatzvernichtung: Von Not und Zynismus

Aus psychologischer Sicht nehmen die Folgen des Lockdowns inzwischen dramatische Ausmaße an. Wie aus einer Anhörung des Tourismusauschusses im Bundestag am Mittwoch hervorgeht, habe man „bereits Suizide…/ mehr

Susanne Baumstark / 23.05.2020 / 10:30 / 14

Mein Briefwechsel mit der Antidiskriminierungsstelle

Meine E-Mail an die Anti-Diskriminierungsstelle: Sehr geehrter Herr Franke,  ich bin seit längerem einigermaßen entsetzt über die regelrechte Stigmatisierungswut, die insbesondere von den etablierten Medien…/ mehr

Susanne Baumstark / 18.05.2020 / 11:30 / 9

Fortschreitend obskur: Die Finanzierung der Parteienstiftungen

Endlich mal eine gute Idee: Der Kandidat für den CDU-Vorsitz, Friedrich Merz, will wegen der Corona-Krise die Ausgaben des Staates überdenken. "Wir sollten nach der…/ mehr

Susanne Baumstark / 06.05.2020 / 11:00 / 12

Corona-App höchst problematisch

Das „Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung“ hat eine Datenschutz-Folgenabschätzung (DSFA) für die geplante Corona-App veröffentlicht. „Wir haben es angesichts der geplanten Corona-Tracing-Systeme mit…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com