Wings: 50 Jahre „Band on the Run“

Zum Abschluss des Jahres beschäftige ich mich mit dem Ex-Beatle Paul McCartney. Der hat nämlich im Dezember 1973 mit seiner damals noch verhältnismäßig neuen Band Wings eines seiner besten Alben veröffentlicht.

Und wieder neigt sich ein Jahr dem Ende zu, bei dem man aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr herausgekommen ist und sich ernsthaft fragen muss, wie man das alles überhaupt noch aushält. Mein persönliches Gegenrezept ist die Musik. Anlassbezogen oder auch einfach nur präventiv höre ich mir eine gute Platte an oder nehme die Gitarre in die Hand. Das lässt mich den ganzen Wahnsinn wenigstens für ein paar Momente vergessen. Oder ich rufe eines meiner Kinder an. Das hat praktisch denselben Effekt. Ja, Kinder... Was wäre diese vermaledeite Welt ohne sie? Und schon wieder ertappe ich mich beim Kopfschütteln – als ich an all die jungen Frauen denken muss, die sich wegen des Klimawandels sterilisieren ließen, weil ihnen irgendwelche hirnlosen Volltrottel eingeredet haben, dass Kinder die größten Klimakiller seien. Warum werden die eigentlich nicht als Menschenfeinde beschimpft? Was für ein Irrsinn!

Ich muss mit dem Kopfschütteln aufhören. Dann schon lieber headbangen. Allerdings habe ich mich nach einigem Hin und Her dann doch gegen das gerade 50 Jahre alt gewordene Black Sabbath-Album „Sabbath Bloody Sabbath“ entschieden, obwohl ich es jedem Liebhaber gepflegter Rockmusik wärmstens empfehlen kann. Es war ihre bis dahin reifste und wohl auch beste Scheibe gewesen, die mit einigen musikalischen Stilelementen zu überraschen vermag, die man dieser eher fürs Grobe bekannten Band gar nicht zugetraut hätte. Aber letzten Endes mussten sie gegen eines meiner größten Idole zurückstecken: Ex-Beatle Paul McCartney hat nämlich ebenfalls im Dezember 1973 mit seiner damals noch verhältnismäßig neuen Band Wings eines seiner besten Alben veröffentlicht.

„Band on the Run“ war das bereits dritte Album der Wings und kann als eine Art Notgeburt bezeichnet werden. Denn schon zwei Jahre nach Gründung der fünfköpfigen Gruppe standen Paul und Linda McCartney mit Ex-Moody-Blues Denny Laine, der sich über die Jahre als ihr treuester Gefährte erweisen sollte, nurmehr zu dritt da. Aufgrund nicht eingehaltener finanzieller Zusagen hatte der nordirische Gitarrist Henry McCullough, der schon 1969 mit Joe Cocker beim legendären Woodstock-Festival auf der Bühne gestanden hatte, die Band im Streit verlassen. (Fun-Fact am Rande: Die Stimme, die man am Ende von Pink Floyds „Money“ auf „The Dark Side of the Moon“ sagen hört: „I don't know, I was really drunk at the time“ stammt ebenfalls von McCullough und wurde bei der Wiederverwendung des Bandes wohl versehentlich nicht mit überspielt.)

Überraschungen in Westafrika

Kurz vor Beginn der Aufnahmen zu „Band on the Run“ nahm auch Schlagzeuger Denny Seiwell aus Solidarität mit McCullough seinen Hut. Das muss für die übriggebliebenen Drei ziemlich frustrierend gewesen sein, hatte ihr zweites Album „Red Rose Speedway“, das erst vor ein paar Monaten im Frühjahr 1973 erschienen war, doch die Wings an die Spitze der US-Charts und im Vereinigten Königreich unter die ersten Fünf befördert. Zudem wurde ihr Titelsong zum James-Bond-Streifen „Live and Let Die“ für den Oscar nominiert. Und nun standen die McCartneys und Mr. Laine auf einmal vor einem Scherbenhaufen. Umsonst all die Proben und Vorbereitungen der letzten Wochen und Monate.

Noch dazu war für die Aufnahmen zum neuen Album das EMI-Studio in Apapa im nigerianischen Bundesstaat Lagos reserviert worden. Nach den Strapazen der vergangenen beiden Jahre, in denen die Wings Tourneen durch Europa und Großbritannien (damals noch nicht Mitglied der EU bzw. EWG) absolvierten, hielt McCartney es für eine gute Idee, die Recordingsessions mit etwas Urlaubsatmosphäre zu verbinden. Da hätte er sich aber mal besser über die klimatischen Verhältnisse vor Ort informieren sollen. Denn statt sonnigem Urlaubswetter erwartete sie im August und September, als die Aufnahmen zu „Band on the Run“ stattfanden, gerade das Ende der Regenzeit in Nigeria. Das bedeutete: viel schlechtes Wetter und teils heftige Tropenstürme, die auch schon mal die gesamte Stromversorgung lahmlegen konnten.

Auch der Plan, die abtrünnigen Bandmitglieder durch afrikanische Musiker zu ersetzen, wurde schon bald wieder fallengelassen. Bei einem Kennenlerngespräch musste McCartney die Erfahrung machen, dass sein Beatles-Bonus im fernen Westafrika nicht allzu viel zählte und er sich vielmehr vorwerfen lassen musste, mit seiner Musik afrikanisches Kulturgut zu stehlen und auszubeuten. Das hohle Geschwätz von der „kulturellen Aneignung“ ist offenbar auch schon ein halbes Jahrhundert alt (wodurch es auch nicht wahrer wird). Aber ein bisschen was konnten Paul und Linda wieder „zurückgeben“: nämlich, als sie auf offener Straße überfallen und all ihrer Wertgegenstände entledigt wurden, einschließlich einer Tasche mit den Songtexten und Demokassetten für die geplanten Aufnahmen. Ob die Täter wussten, wen sie da ausraubten? Jedenfalls mussten die McCartneys sämtliche Kompositionen und die dazugehörigen Texte noch einmal aus dem Gedächtnis rekapitulieren.

Als Ausnahmesänger nicht genug gewürdigt

Die Aufnahmen selbst fanden unter denkbar widrigen Umständen statt. Nicht nur, dass sich das Studio praktisch noch im Bau befand; es war dazu auch noch mit veralteter, teils defekter Studiotechnik ausgestattet. Geoff Emerick, Toningenieur und Studio-Crack aus alten Beatles-Zeiten, wusste jedoch das Beste daraus zu machen und brachte den Laden zumindest so weit in Schuss, dass es mit den Sessions losgehen konnte. Wie schon auf seinem ersten Soloalbum übernahm Multiinstrumentalist McCartney neben dem Bass und einigen Leadgitarren auch das Schlagzeug. Denny Laine war für die akustischen und elektrischen Rhythmusgitarren zuständig und Linda durfte sich an diversen Keyboards und Synthesizern betätigen. Und mit dem Percussionisten Remi Kabaka war dann doch noch ein nigerianischer Musiker am Start, der jedoch schon seit den 60er Jahren in Großbritannien gelebt und unter anderem mit Ginger Baker und Steve Winwood zusammengearbeitet hatte.

Das Album beginnt gleich mit dem Titeltrack „Band on the Run“, in dem es im Wesentlichen um den Ausbruch einer Gruppe von Häftlingen aus einem Gefängnis geht. Mit der Exegese ist es bei McCartneys Texten ja immer so eine Sache: Sie sind meist sehr einfach gestrickt und scheinen nicht besonders tiefgründig zu sein. Aber der Klang der Worte in Kombination mit der Melodie besitzt bei ihnen oft das Potenzial, tief unter die Haut zu gehen und das Herz zu berühren. Ich denke da etwa an Songs wie „Yesterday“, „Hey Jude“ oder „Let it Be“, die trotz aller semantischer Uneindeutigkeit durchaus eine subjektive Bedeutsamkeit hervorrufen können.

Das ist das Geheimnis von McCartneys Lyrik, das sich einmal mehr auch im Refrain von „Band on the Run“ offenbart, als sich darin indirekt – sozusagen zwischen den Zeilen –, aber unmissverständlich ein Gefühl von Freiheit ausdrückt. Das beginnt eigentlich schon mit der zwölfsaitigen Akustikgitarre und dem wunderschönen Akkordwechsel zwischen C-Dur und Fmaj7, der auf das dreiteilige Intro folgt. Und dann diese Stimme! Ich verstehe gar nicht, warum McCartney nicht öfter als Ausnahmesänger gewürdigt wird. Wer verfügt denn bitte noch über einen solchen Stimmumfang und hat eine derartige Bandbreite an Gesangsstilistiken zu bieten?

Folgenreiche Wette mit Dustin Hoffman

Weiter geht’s mit dem glamrockigen „Jet“, das ich damals aus dem Radio auf Kassette aufgenommen hatte, ohne zu checken, dass es von McCartney und seinen Wings ist und deshalb umso mehr überrascht war, es später auf dem Album wiederzufinden. Zu den weiteren Höhepunkten gehört für mich noch die Rockballade „Let Me Roll It“ mit dem dramatischen Gitarrenriff, das mich immer an John Lennon's „Cold Turkey“ erinnert und sich wohl auch in anderer Hinsicht auf Pauls alten Kumpel bezieht; wenn nicht sogar als Friedensangebot nach all den Zwistigkeiten der vorhergehenden Jahre gemeint war (vgl. dazu auch meine beiden Artikel über Paul und Linda McCartneys „Ram“ und John Lennons „Imagine“).

Und last but not least wäre da noch der Song „Picasso's Last Words“, der sich einer Wette mit Dustin Hoffman verdankt, der den Ex-Beatle auf die Probe stellen wollte, ob er wirklich zu jedem x-beliebigen Thema ein Lied schreiben könne. In seinem zweibändigen Kompendium „Lyrics“ erzählt McCartney, dass Hoffman ihm einen Nachruf auf Pablo Picasso zeigte, in dem dessen letzte Worte zitiert wurden. Der gewiefte Songbird erkannte sofort den rhythmischen Fluss der Wörter, nahm seine Gitarre und sang den Text spontan auf eine Melodie, die ihm gerade in den Sinn kam. Hoffman war von den Socken; und Paul hatte einen neuen Song, den er für das Album nur noch etwas ausarbeiten musste. Zudem fügte er ans Ende eine Art Reprise an, in der noch einmal verschiedene musikalische Themen einiger Albumtracks anklingen.

Wie schon der Vorgänger erreichte auch „Band on the Run“ wieder die Spitze der US-Albumcharts. Und diesmal klappte es sogar auch in Pauls Heimatland Großbritannien – wie auch in Kanada, Norwegen, Spanien und Australien. In vielen weiteren Ländern Europas und der Welt konnte sich die Scheibe ebenfalls in den Hitlisten platzieren und wurde zur erfolgreichsten Veröffentlichung des Liverpoolers seit alten Beatles-Tagen. Das verlangte natürlich nach mehr, weshalb sich Paul rasch auf die Suche nach neuen Musikern machte. Er fand sie in dem jungen schottischen Gitarrentalent Jimmy McCulloch und dem amerikanischen Schlagzeuger Joe English, die für die nächsten fünf Jahre den Sound der Wings bereichern sollten (nachzuhören etwa auf dem Dreifach-Live-Album „Wings over America“ von 1976). Mit dieser Besetzung sollte sich McCartney mit seinen Wings nicht nur über seine alten Beatles-Kumpane erheben, sondern weltweit zu einem der größten Pop-Acts der Siebzigerjahre aufschwingen. Sir Paul McCartney feierte im vergangenen Juni seinen 81. Geburtstag.

Und damit soll es für dieses Jahr gut sein. Ich danke allen Lesern fürs Interesse, insbesondere auch denjenigen, die meine Texte mit ihren Leserbriefen kommentiert, ergänzt oder korrigiert haben. Trotz selbstauferlegter Qualitätskontrolle unterlaufen mir doch immer wieder Ungenauigkeiten und Fehler, weshalb ich für jeden Hinweis und jede Richtigstellung dankbar bin. Es ist ein Geben und Nehmen – und so soll es doch auch sein. Fröhliche Weihnachten!

P.S. Wen's interessiert: Ich habe wieder eine Spotify-Playlist mit vielen musikalischen Highlights des Jahres 1973 zusammengestellt. Sie ist unter „Scheuerlein's Musikkalender 1973 Achgut Playlist“ zu finden. Viel Freude damit... Und auch schon mal einen guten Rutsch ins neue Jahr!

P.P.S. Wie diese Woche bekannt wurde, ist Denny Laine am 5. Dezember im Alter von 79 Jahren verstorben.

YouTube-Link zum Titeltrack „Band on the Run“

YouTube-Link zum glamrockigen „Jet“ mit Video, das schon die neue Besetzung der Wings zeigt

YouTube-Link zu einer Live-Aufnahme von „Let Me Roll It“ aus dem Jahr 2012 im Madison Square Garden in New York mit schon etwas brüchiger Stimme, aber mit Pauls großartiger neuen Band

 

Hans Scheuerlein ist gelernter Musikalienfachverkäufer. Später glaubte er, noch Soziologie, Psychologie und Politik studieren zu müssen. Seine Leidenschaft gehörte aber immer der Musik.

Foto: Helge Heinonen / CC BY 2.0 Link">via Wikimedia Commons

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Leserpost

netiquette:

Thomas Taterka / 09.12.2023

Herr S. , ich verstehe dieses Nostalgie- Korsett mit den 50 Jahren nicht . Wenn es zum Beispiel 49 wären, hätte ich Bobbi Humphrey glatt verpasst . wie den Thrill von Steely Dan .

Helmut Driesel / 09.12.2023

  Irgendwie scheint mir jede Musik von einem gewissen Anachronismus zu zehren. Es gibt Unmengen von guten und weniger guten Musikern und jeder meint im Ernst, er oder sie könne noch ein eigenes Stück singen, spielen oder komponieren. Die KI wird das demnächst schonungslos überwachen können. Da haben die alten Originale einen Bonus. Aber auch die jungen Ohren haben einen Bonus. Sie sind wie noch leere Schatztruhen, die Jäger immer wieder anstiften zur Suche nach Schätzen. Die “uneindeutige Lyrik” ist nicht am Ende, sondern immer noch nobelpreisverdächtig. Aber nicht mehr lange. Es ist künstlerisch Endzeit. Seht es endlich ein. Also ich fände es toll, zu den letzten gehören zu dürfen, die diese Welt betrachten. Nichts macht noch Sinn, außer es trägt diesen letzten Tag mit. Alle Virtuosen und Genies waren einmal, die Gegenwart ebbt im Durchschnittlichen aus. Und der Entropie ist selbst das zu viel an Originalität und Würde.

Thomas Taterka / 09.12.2023

” Well Well Well ” , im Inland ist mein Vorname ” Herr ” , im Ausland ” Sir ” , da kenn’ ich keinen Spaß , Monsieur Kurtz . Im Übrigen ist man ein Barbar , wenn man die Beatles “entsorgt ” . Es ist so , als würde man aufhören wollen , zu lieben . Lieben ist ein Synonym für Leben . Oder war’s umgekehrt ?

A.Kurtz / 09.12.2023

Bei Vielem gehe ich ja mit Scheuerlein konform, seine Beatlesmania konnte ich nie nachvollziehen. Spätetens nachdem ich in der Jugend Led Zeppelin entdeckte, entorgte ich meine Beatles Platten aus der Kindheit ohne mit der Wimper zu zucken. Als ich dann irgendwann die Wings wahrnahm, wurde dieses langweilige, spießige und seichte Zeug entsprechend schnell ignoriert. Sein Nachruhm aus einer goldenen Ära bescherte ihm ein gewisses Potenzial an Fans, wobei es mir immer so vorkam, als wäre er durch seine ansonsten nahezu unbekannte Ehefrau genötigt worden eine Band zu gründen, natürlich mit ihr, damit sie auch mal etwas Rampenlicht abbekommt. Nebenbei: “Sir” (Gott wie peinlich) Paul McCartney konnte ich nie leiden, seinen Kollegen Lennon umsomehr. Ein echter Künstler. Seine Hippie-Allüren waren dem Zeitgeist der 70er und 80er geschuldet. Er war ja recht intelligent, wenn er Attentat, Drogen und Yoko überstanden hätte, wer weiß, wie er sich heute äußern würde?

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