My Bloody Valentine waren die Könige des Shoegazing. Beinahe regungslos standen die beiden Frontleute Kevin Shields und Bilinda Butcher bei ihren Auftritten da, während sich im Hintergrund Drummer Colm Ó Cíosóig und Bassistin Debbie Googe den Arsch abspielten.
In Ermangelung einer empfehlenswerten Schallplatte, die jetzt im November ihr fünfzigstes Jubiläum feiern würde, muss ich zum wiederholten Male dieses Jahr nach einem Album mit einem weniger runden Geburtstag Ausschau halten. Immer diese selbstauferlegten Zwänge... Ich weiß! Aber ich brauche irgendsoeinen Leitfaden, an dem ich mich entlanghangeln kann, und der – mit Luhmann gesprochen – die Komplexität reduziert und mir hilft, mich nicht im unerschöpflichen Meer der Kontingenz zu verlieren. Aber seltsam ist es schon, dass in den 70er Jahren immer mehr Platten auf den Markt kamen, aber gleichzeitig immer weniger gute darunter waren. Zwar sind im November 1973 ein paar Scheiben erschienen, denen man sich hätte zuwenden können. So kam beispielsweise gleich zu Beginn des Monats mit „Ringo“ dass dritte Soloalbum des ehemaligen Beatles-Drummers heraus, das besetzungsmäßig so nah an eine Wiedervereinigung der Fab Four herankam wie kein anderes eines Ex-Beatles.
Hätte bei der eröffnenden Lennon-Komposition „I'm The Greatest“ nicht Klaus Voormann (schon wieder!), sondern Paul McCartney den Bass gespielt, dann wäre die komplette Crew der Abbey-Road-Sessions, einschließlich des Gast-Keyboarders Billy Preston, am Start gewesen. Aber auch wenn acht der zehn Albumtracks von Ringos ehemaligen Bandkollegen geschrieben wurden, so ist mir die Musik auf der Scheibe schlechterdings zu belanglos. Wenn das bei einer Reunion der Beatles herausgekommen wäre, dann war es vielleicht wirklich besser, dass sie es bei der Trennung beließen. Ein weiterer Kandidat wäre das Album „Solar Fire“ von Manfred Mann's Earth Band gewesen, mit der tollen und vorbildlich eigenständigen Coverversion von Bob Dylans „Father of Day, Father of Night“. Aber als Ganzes war es mir unterm Strich dann letztlich auch zu dünn.
Dafür bin ich wie durch eine göttliche Eingebung wieder auf das Debütalbum der irischen Indie-Band My Bloody Valentine gestoßen. Das hat jetzt auch schon geschlagene fünfunddreißig Jahre auf dem Buckel und ist – passenderweise – auch im November, aber halt erst in dem von 1988 erschienen. Zuvor hatte die Gruppe aus Dublin schon einige Singles, EPs und Mini-LPs herausgebracht. Aber der entscheidende Kick kam mit der englischen Gitarristin und Sängerin Bilinda Butcher, die erst im Jahr davor zur Band gestoßen war. Auf einmal waren sie da: die wunderschönen Harmonien und die engelsgleichen Gesänge, etwa bei Songs wie „Strawberry Wine“ oder „She Loves You No Less“, die Assoziationen an 60er-Jahre-Acts wie The Mamas and the Papas oder die Byrds weckten.
Prügelharte Uptempo-Nummern
Spätestens aber seit ihrem ersten richtigen Longplayer „Isn't Anything“ gab sich die Truppe um Mastermind Kevin Shields alle Mühe, ihre Musik nicht zu schön werden zu lassen. So begannen sie mit extremem Fuzz und Halleffekten zu experimentierten und entdeckten die Tremolohebel an ihren Gitarren. Um zu der hinter dieser spröden Fassade liegenden Schönheit durchzudringen, bedurfte es dann oft schon mehrmaligen Hörens. Eindrucksvollstes Beispiel hierfür ist das traumversunkene „All I Need“ mit seinen in Hall getauchten an- und abschwellenden Fuzz-Gitarren, bei denen man glaubt, das Rauschen der Meeresbrandung zu hören. Insbesondere dieses Stück sollte wegweisend für die musikalische Zukunft der Band werden, klingt darin schon der fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrte und durch übermäßigen Einsatz des Gitarrentremolos leiernde Sound ihres Opus magnum „Loveless“ von 1991 an – dem Noise-Pop-Klassiker schlechthin.
Im Vergleich dazu ist die Musik auf „Isn't Anything“ um einiges transparenter, und es lassen sich noch eine Handvoll dieser prügelharten Uptempo-Nummern finden, die der Genre-Bezeichnung Post-Punk alle Ehre machen. Allerdings ist die damit verbundene Attitüde eine ganz andere als beim Punk. Eben nicht so schrill und exaltiert, sondern im Gegenteil: eher nach innen gekehrt und – trotz aller Power – irgendwie sogar kleinlaut und schüchtern; mit gesenktem Blick auf die eigenen Schuhspitzen. Daher auch die Bezeichnung Shoegaze für diese spezielle Art von seinerzeit neuartigem Gitarrenrock, zu dem mitunter auch Bands wie The Jesus and Mary Chain, Spacemen 3, Lush, Ride, Slowdive oder die Pale Saints gezählt wurden.
My Bloody Valentine aber waren die Könige des Shoegazing. Beinahe regungslos standen die beiden Frontleute Kevin Shields und Bilinda Butcher bei ihren Auftritten da, während sich im Hintergrund Drummer Colm Ó Cíosóig und Bassistin Debbie Googe den Arsch abspielten. Eine lebhafte Vorstellung davon bekommt man vielleicht bei zweien der härtesten Stücke des Albums: dem brachialen Duett „Feed Me With Your Kiss“ und der genialen Noise-Pop-Perle „Sueisfine“, mit dem wahnsinnigen Powerdrumming und dem rabiaten Fuzz-Bass. Shields und Butcher singen dazu praktisch in Sprechlautstärke, während hinter ihnen die Hölle losbricht. Eine, wie ich finde, sehr reizvolle Kombination, die erst durch Fortschritte bei der Feedbackresistenz in der Mikrofonie ermöglicht wurde, wodurch sich nun auch ein ausgesprochen leiser Sänger gegenüber einer lärmigen Band Gehör verschaffen konnte.
Geradezu magische Atmosphäre durch Open-Tuning-Akkorde
Die Jungs und Mädels von My Bloody Valentine haben aber auch ein paar ruhigere Stücke im Programm: etwa das bereits erwähnte „All I Need“ oder das von Bilinda Butcher hinreißend gesungene „Lose My Breath“, das mit seinen Open-Tuning-Akkorden eine geradezu magische Atmosphäre entstehen lässt. Der Gitarren-Nerd Shields besitzt nach eigenen Angaben an die fünfundzwanzig Modelle der Fender Jazzmaster, die er mit der jeweiligen offenen Stimmung und dem Titel des Songs beschriftet hat, für den er sie verwendet. Für jeden Song eine andere Gitarre; auch ein guter Grund, sich noch eine neue Klampfe zuzulegen.
„Isn't Anything“ schlug in der Alternative-Szene wie eine Bombe ein, und erklomm rasch die Spitze der britischen Independent-Charts. Für die Produktion des Nachfolgers brauchte die Band dann ganze drei Jahre, was das verhältnismäßig kleine, unabhängige Label Creation finanziell an seine Grenzen brachte. „Loveless“ erschien schließlich gegen Ende des Jahres 1991. Und obwohl es erneut Platz 1 der Independent-Charts belegen konnte und nur knapp die regulären Top 20 im Vereinigten Königreich verfehlte, trennte sich Creation danach von der ruinösen Combo. Mit solcherlei Charterfolgen und Vorschusslorbeeren war es jedoch nicht sonderlich schwer, einen neuen Plattendeal an Land zu ziehen, so dass Shields & Co. schon bald einen gut dotierten Vertrag bei den renommierten Island Records unterzeichnen konnten. Einen Großteil des Geldes investierten sie umgehend in ein eigenes Tonstudio in London, wo sie ihr drittes Studioalbum selbst von der Pike auf produzieren wollten. Aber irgendwie verhedderten sie sich in technischen Problemen, die ihre Kreativität lähmten und dazu führten, dass sie jahrelang nichts Substanzielles gebacken bekamen.
Letztlich zerbrach sogar die Band daran. Als 1995 Ó Cíosóig undGooge ausstiegen, war die Bassistin finanziell so abgebrannt, dass sie sich mit Taxifahren über Wasser halten musste. Shields und Butcher glaubten zunächst noch daran, das neue Album gemeinsam fertigstellen zu können, welches sie der Plattenfirma für 1998 in Aussicht stellten. Aber nach zwei weiteren unproduktiven Jahren trennte sich auch Butcher von Shields, der sich immer mehr zurückgezogen hatte und auf dem besten Wege war, komplett durchzudrehen, wie er selbst einmal anmerkte. 1999 hat Shields Island Records dann schließlich etwa sechzig Minuten halbfertiges Material übergeben, was in dieser Form jedoch nicht zu veröffentlichen war. Kostenpunkt bis dahin: eine halbe Million Pfund.
Eine der beinflussreichsten Rockbands der Neuzeit
In den folgenden Jahren wurde es still um My Bloody Valentine. Die einzelnen Mitglieder engagierten sich in verschiedenen Bandprojekten, ohne groß von sich reden zu machen. Sogar Shields kam wieder auf die Beine und begleitete die schottischen Indie-Rocker Primal Scream auf Tour oder kollaborierte mit Bands wie Dinosaur Jr. und Yo La Tengo. Zudem steuerte er ein paar Stücke zum Soundtrack von Sofia Coppolas Melodram „Lost in Translation“ aus dem Jahr 2003 bei. In der zweiten Hälfte der 2000er kamen erste Gerüchte auf, dass die inzwischen längst zur Legende gewordenen Indie-Helden sich wiedervereinigen würden.
Im Sommer 2008 war es dann tatsächlich soweit: Shields, Butcher, Googe und Ó Cíosóig standen erstmals seit sechzehn Jahren wieder gemeinsam auf einer Bühne. Das Konzert in London vor ausverkauftem Haus sollte den Auftakt für eine ganze Reihe von Auftritten bilden, die sie rund um den Globus führte. Und zu Beginn des Jahres 2013 erschien dann doch noch ihr lang erwartetes drittes Album unter dem Titel „m b v“ – das meines Erachtens jedoch nicht die hochgesteckten Erwartungen erfüllen konnte.
In den vergangenen Jahren kündigte Kevin Shields in Interviews immer wieder neues Material an. Es kam jedoch bis dato zu keiner weiteren Veröffentlichung. Immerhin unterschrieb die wohl unzuverlässigste Band des Musikbusiness 2021 einen neuen Plattenvertrag bei dem britischen Independent-Label Domino. Im Zuge dessen wurden ein mehr melodisches und songorientiertes sowie ein experimentelleres Album in Aussicht gestellt. Na, dann lassen wir uns mal überraschen. Bis dahin sind wir bestens bedient mit den wunderbaren alten Sachen, auf denen sich zu Recht ihr Ruf als eine der bahnbrechendsten und einflussreichsten Rockbands der Neuzeit gründet.
YouTube-Link zum Post-Punk-Highlight „Sueisfine“
YouTube-Link zum mystischen „Lose My Breath“, gesungen von der bezaubernden Bilinda Butcher
YouTube-Link zum traumversunkenen „All I Need“ – mehr Shoegaze geht nicht!
Hans Scheuerlein ist gelernter Musikalienfachverkäufer. Später glaubte er, noch Soziologie, Psychologie und Politik studieren zu müssen. Seine Leidenschaft gehörte aber immer der Musik.