Big Star: 50 Jahre „Radio City“

Es gibt Songs, die eigentlich todsichere Hits sind, aber aus unerfindlichen Gründen nie welche wurden. „September Gurls“ von der US-amerikanischen Band Big Star ist so ein Song. Ein Musikjournalist nannte ihn mal „den größten Nr.-1-Hit, der es nie in die Charts geschafft hat“.

Seitdem ich das Lied zum ersten Mal hörte, hat es einen festen Platz in meinen persönlichen Top 10. Allerdings hätte ihm zu dieser Zeit schon das Prädikat Evergreen zugestanden; aber dazu ist es viel zu unbekannt – wie auch die Band selbst, die jemand mal als „die beste Band, von der man noch nie etwas gehört hat“ bezeichnete. Dabei fing für die vier jungen Männer aus Memphis, Tennessee, alles so gut an. Insbesondere für Sänger und Gitarrist Alex Chilton, der als Sechzehnjähriger schon einen millionenfach verkauften Nummer-eins-Hit verbuchen konnte. Und zwar als Frontmann der Blue-Eyed-Soulgroup The Box Tops mit dem Stück „The Letter“ von 1967, das bis heute in keiner California-Summer-of-Love-Playlist fehlen darf.

1970 verließ Chilton die Box Tops und begann an einer Solo-Karriere zu basteln, was ihn eine Zeit lang nach New York führte. Wieder zurück in Memphis, begegnete Chilton seinem alten Jugendfreund Chris Bell, der im selben Studio wie er an Aufnahmen arbeitete. Beide waren von dem Wiedersehen so angetan, dass sie beschlossen, in Kontakt zu bleiben. Bell lud Chilton schließlich zu einer Probe seiner Band ein, der noch Bassist Andy Hummel und Schlagzeuger Jody Stephens angehörten. Chilton nutzte die Gelegenheit und spielte den dreien seinen neuesten Song „Watch the Sunrise“ vor – und Big Star war geboren. Den Namen schauten sie sich von einer Supermarktkette ab, die in Memphis und Umgebung weit verbreitet war und deren Stern-Logo offenbar einen bleibenden Eindruck auf die vier Musiker gemacht hatte.

Im Nu hatte man genug Songs beieinander, um damit ein ganzes Album füllen zu können. Dabei taten sich besonders Bell und Chilton als produktives Songwriting-Duo hervor, ganz nach dem Vorbild ihrer Idole Lennon/McCartney. Obwohl auch die anderen beiden Bandmitglieder sangen und komponierten, bestand der erste Longplayer, bis auf eine Nummer von Bassist Andy Hummel, ausschließlich aus Bell-Chilton-Songs. Die Scheibe mit dem doppeldeutigen Namen „#1 Record“ erschien schließlich im April 1972 und wurde in allen wichtigen Musikzeitschriften über den grünen Klee gelobt. Aufgrund eines Kompetenzgerangels zwischen der Plattenfirma Ardent und dem Vertrieb, der über das ebenfalls in Memphis ansässige Soul-Label Stax lief, kam es zu Problemen bei der Auslieferung, weshalb die Verkaufszahlen ins Stocken gerieten. Teilweise wurden schon ausgelieferte Exemplare sogar wieder zurückgerufen. Ein einziges Chaos!

Erbitterter Streit

Die Frustration über diesen von der Band unverschuldeten Flop sorgte für schlechte Stimmung unter den vier Mitgliedern, die sich immer häufiger in erbittertem Streit entlud, der nicht selten in gehässigen Handgreiflichkeiten endete. Bei einer dieser Eskalationen schlug Bassist Andy Hummel seinem Bandmate Chris Bell mit der Faust ins Gesicht, woraufhin dieser Hummels neue Bassgitarre gegen die Wand schmiss. Hummel rächte sich dafür, indem er Bells Auto auflauerte, in dem dessen Akustikgitarre lag, die er in einem unbeaufsichtigten Moment mit einem Schraubenzieher malträtierte. Mein lieber Herr Gesangverein! Das ist ja die reinste Niedertracht. Dazu kam noch, dass sich Bell gegenüber Chilton zurückgesetzt fühlte und seinen musikalischen Beitrag in den Albumreviews nicht genug gewürdigt sah.

Jedenfalls hatte Chris Bell irgendwann so die Schnauze voll, dass er noch vor Ende des Jahres 1972 die von ihm selbst gegründete Band verließ. Nach einigem Hin und Her entschlossen sich die verbliebenen drei, als Trio weiterzumachen. Aber die wenigen Auftritte liefen mehr schlecht als recht, und das Bandprojekt drohte allmählich im Sande zu verlaufen. Chilton dachte sogar schon daran, seine Solo-Karriere wieder aufzunehmen, als eines Tages die Anfrage einging, ob Big Star bei der Rock Writers' Convention auftreten möchte, einem Kongress zur Gründung eines Verbands für Rockmusikjournalisten, der im Mai 1973 in Memphis stattfinden sollte. Diese Gelegenheit wollte man sich natürlich nicht entgehen lassen und sagte umgehend zu. Das Konzert wurde von der illustren Kritikerschar so begeistert aufgenommen, dass die drei Musiker beschlossen, es noch einmal miteinander zu probieren. Auch ihre Plattenfirma Ardent erklärte sich angesichts des positiven Medienechos auf das Debüt dazu bereit, ein weiteres Big-Star-Album zu produzieren. Also machte man sich frohen Mutes an die Aufnahmen zu Platte Numero 2.

Das Album mit dem Namen „Radio City“ geriet um einiges rauer als sein Vorgänger, aber auch um einiges verspielter und experimentierfreudiger. Das zeigt sich schon in dem funk-rockigen Opener „O My Soul“ oder dem artverwandten „Back Of My Car“, bei denen gerüchteweise sogar Chris Bell mitgewirkt haben soll, aber in den Credits ausdrücklich nicht erwähnt werden wollte. Sehr fein auch die beiden getrageneren Stücke „What's Goin' Ahn“ und „Daisy Glaze“, welches hinten raus noch einmal überraschend Fahrt aufnimmt. Und dann natürlich „September Gurls“ – ihr allerschönster Song und, für mein Dafürhalten, einer der heißesten Anwärter auf den perfekten Popsong; mit wahrhaft beatle-esken Harmonien und der grellsten E-Gitarre seit „Nowhere Man“.

Von der Kritik regelrecht gefeiert

Vielleicht spricht mich das Lied, in dessen Chorus „December boys got it bad“ gesungen wird, auch deshalb so sehr an, weil meine Mutter ein „September Gurl“ und mein Vater ein „December Boy“ war. Und der hat es wirklich schlecht erwischt: geboren 1918, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg; aufgewachsen in den Zwanzigern, die in der fränkischen Provinz wahrscheinlich alles andere als „wild“ waren; dann Hyperinflation, wo am Ende ein Hühnerei hunderte Milliarden Mark kostete; und schließlich die Weltwirtschaftskrise mit Depression und Massenarbeitslosigkeit, was damals noch Massenarmut und Hunger bedeutete. Und kaum, dass er einen eigenständigen Gedanken fassen konnte, wurde er vom Bolzplatz weg von Hitlers Häschern gekrallt und kriegstauglich gemacht. Wenigstens hat er die ganze Scheiße überlebt und dann glücklicherweise noch meine Mutter kennengelernt, sonst könnte ich heute keinen so unnützen, wohlstandsverwöhnten Quark verzapfen.

Damit wieder zurück zu Big Star. Auch ihr zweites Album „Radio City“ wurde von der Kritik regelrecht gefeiert. Doch auch dieses Mal sollte das Schicksal der vom Pech verfolgten Band einen Strich durch die Rechnung machen: Kurz vor der offiziellen Veröffentlichung des Albums platzte ein Vertriebsdeal zwischen Columbia und Stax, was zur Folge hatte, dass Stax Insolvenz anmelden musste und kein einziges Exemplar der Scheibe das Lager verließ. Unglaublich! Schon davor hatte Bassist Andy Hummel seine Kündigung eingereicht, da er sich auf seinen College-Abschluss konzentrieren wollte und überhaupt ein normaleres Leben führen wollte. Da waren's nur noch zwei. Die sagten sich wohl: „Jetzt erst recht!“ und machten sich an die Aufnahmen zu einem dritten Album. Das wurde dann – man möchte fast sagen: folgerichtig – gar nicht mehr fertigproduziert. Interessanterweise hört man der Musik auf dem Album, das erst 1978 unter dem Titel „3rd“ veröffentlicht werden sollte, die Desillusionierung und den Zerfall regelrecht an. Vielleicht auch deshalb wird „3rd“ gemeinhin als Big Stars Meisterwerk angesehen.

Im selben Jahr war in Großbritannien schon ein Doppelalbum mit den ersten beiden Big-Star-Alben erschienen, das neues Interesse an der beinahe in Vergessenheit geratenen Combo weckte. Vor allem Bands der aufkeimenden Independent-Bewegung wie The dB's, R.E.M., Game Theory, The Bangles, The Posies oder Teenage Fanclub bezogen sich auf Big Stars Power-Pop als maßgeblichen Einfluss auf ihre Musik. Alle drei Big-Star-Alben wurden übrigens in die Liste der 500 besten Alben aller Zeiten des Rolling Stone-Magazins aufgenommen. Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle Chris Bells tragischer Autounfall bleiben, bei dem er ebenfalls im Jahr 1978 im Alter von 27 Jahren tödlich verunglückte (womit er in die Annalen des mysteriösen Klub 27 einging). Auch er hatte nach seinem Ausstieg bei Big Star Solomaterial aufgenommen, das allerdings erst 1992 unter dem Titel "I Am The Cosmos" veröffentlicht wurde und das überdeutlich erkennen lässt, welch prägenden Einfluss er auf den ursprünglichen Big-Star-Sound gehabt hatte.

Jähes Ende des Comebacks

Alex Chilton tummelte sich indessen in der New Yorker Underground-Szene und produzierte die ersten Platten von The Cramps und Tav Falco's Panther Burns, wo er auch als Gitarrist mitwirkte. Zudem veröffentlichte er selbst eine ganze Reihe kurioser Soloalben und EPs, die jedoch lediglich bei einer relativ überschaubaren Hörerschaft Anklang fanden. Nachdem Big Star im Zuge der 80er Jahre endgültig zur Kultband avanciert war und ihre Musik immer mehr Aufmerksamkeit und Würdigung erfahren hatte, entschieden sich Chilton und Stephens im Jahr 1993, die Band mit den beiden Posies-Gründern Jon Auer und Ken Stringfellow wieder aufleben zu lassen. Noch im selben Jahr gaben sie ihr erstes Konzert in der neuen Besetzung. Es folgten Auftritte in TV-Shows und Konzertreisen, die sie um die ganze Welt führten. 2005 erschien unter dem Titel „In Space“ sogar noch ein neues, viertes Big Star-Album, das sich vor seinen über dreißig Jahre alten Vorgängern nicht zu verstecken braucht.

Das Comeback, das zwischenzeitlich schon über fünfzehn Jahre andauerte, fand ein jähes Ende, als Alex Chilton am 17. März 2010 völlig unerwartet infolge eines Herzinfarkts aus dem Leben schied. Für diesen Tag war ein Auftritt beim SXSW Music Festival in Austin Texas angesetzt gewesen, zu dem sich neben den verbliebenen Bandmitgliedern spontan Originalbassist Andy Hummel sowie weitere Musikerkollegen etwa von R.E.M., The dB's oder The Lemonheads einfanden, um Alex Chilton die letzte Ehre zu erweisen. Der krebskranke Hummel folgte Chilton nur wenige Monate später. Sie wurden beide 59 Jahre alt. Schlagzeuger Jody Stephens, das einzige noch lebende Mitglied der Originalbesetzung, gründete zuletzt eine neue Band namens Those Pretty Wrongs und arbeitete mit The Reputations und den Lemon Twigs. Im Oktober dieses Jahres darf er seinen 74. Geburtstag feiern.

P.S. Wer sich für die ganze Geschichte interessiert, sei auf die liebevoll gemachte Dokumentation „Big Star: Nothing Can Hurt Me“ von Drew DeNicola und Olivia Mori aus dem Jahr 2012 verwiesen.

YouTube-Link zu „September Gurls“dem „größten Nummer-eins-Hit“, der nie einer geworden ist

YouTube-Link zu „My Life Is Right“ vom ersten Big Star-Album mit schönem Fan-Made-Video

YouTube-Link zum vom Zerfall gezeichneten Stück „Kanga Roo“ vom dritten Album

 

Hans Scheuerlein ist gelernter Musikalienfachverkäufer. Später glaubte er, noch Soziologie, Psychologie und Politik studieren zu müssen. Seine Leidenschaft gehörte aber immer der Musik.

Foto: Christopher Bahn CC BY-SA 4.0, Link

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