Immer wenn ich die Supremes höre, denke ich mir, dass sie eines dieser Dinge sind, die ich wohl am meisten vermissen werde, wenn ich einmal das Zeitliche segne.
Dieser zuckersüße Soul-Pop, der sich wie ein Chocolate Malted Milkshake direkt ins Herz ergießt und den Puls wie platzendes Popcorn hüpfen lässt, ist für mich immer wieder ein Quell purer Freude. Und das, obwohl es in ihren Songs fast immer um Herzschmerz geht: entweder um eine Liebe, die gerade auf der Kippe steht, oder um eine, die schon den Bach runtergegangen ist. Gesungen von einer weichen, grazilen und unschuldigen Stimme, deren Besitzerin man am liebsten tröstend in den Arm nehmen möchte.
Diana Ross heißt die Sängerin, die man in unseren Gefilden wohl eher von ihrem Disco-Hit „Upside Down“ aus dem Jahr 1980 kennt, der seinerzeit bis auf Platz 3 der westdeutschen Hitliste kletterte. Fünfzehn Jahre zuvor war sie da jedoch schon einmal gewesen; und zwar als Frontfrau der Girlgroup The Supremes und ihrem Evergreen „Stop! In the Name of Love“. Ihren internationalen Durchbruch hatten die Supremes aber bereits im Jahr davor mit den Hit-Singles „Baby Love“, „Come See About Me“ und „Where Did Our Love Go“, die sich allesamt auf ihrem gleichnamigen zweiten Album von 1964 befinden, das dieses Jahr seinen 60. Geburtstag feiert.
Diana Ross (Jahrgang 1944 und bis 1964 noch Diane) war gerade mal zarte fünfzehn Jahre alt, als sie zu der Girlgroup stieß, die von den beiden Freundinnen Florence Ballard und Mary Wilson gegründet worden war. Die Geschichte der Supremes beginnt in einer Sozialbausiedlung in Detroit, den Brewster-Douglass Housing Projects im Osten der Stadt. Sowohl Ballard und Wilson als auch Ross wohnten in einem der braunen vierzehnstöckigen Hochhäuser.
Zunächst sangen aber nur Ballard und Wilson zusammen. Ihr erster Erfolg war der erste Platz bei einem lokalen Talentwettbewerb im Jahr 1959 gewesen. Unterdessen hatte Ballard die Bekanntschaft von Paul Williams und Eddie Kendricks gemacht, die einer Gesangsgruppe namens The Primes angehörten, aus der später die berühmten Temptations („My Girl“, „Papa Was a Rollin' Stone“) hervorgehen sollten. Der Manager der Primes wollte ihnen einen sogenannten Sister Act an die Seite stellen, eine Schwestergruppe, die sich The Primettes nennen sollte.
Siegerinnen beim internationalen Musikfestival der Stadt Detroit
Williams empfahl ihm Ballard und Wilson sowie seine eigene Freundin Betty McGlown. Mit dabei war auch noch eine gewisse Betty Travis, die aber schon bald wieder ausschied und auf Empfehlung von Kendricks durch Diane Ross ersetzt wurde. Damit war das Quartett komplett. Quartett? Waren die Supremes nicht nur zu dritt? Ja, das stimmt. Aber das kam erst etwas später. Bis dahin gab es so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, das besagte, dass Gesangsgruppen aus vier (z. B. The Drifters, The Marvelettes), wenn nicht sogar fünf Mitgliedern (z. B. The Platters, The Miracles) bestehen müssten.
Apropos Miracles: Ross wiederum kannte aus ihrer Nachbarschaft einen jungen Mann namens William „Smokey“ Robinson, der auch in einem der Brewster-Douglass Towers wohnte und Sänger bei den Miracles war sowie als Songwriter und Produzent für die neu gegründete Motown Record Corporation arbeitete. (Fun Fact am Rande: Seinetwegen musste die britische Pop-Band Smokey Mitte der 70er Jahre die Schreibweise ihres Namens in Smokie umändern.)
Die junge Diane hoffte, über ihren imposanten Nachbarn an einen Plattenvertrag bei Motown heranzukommen. Nach etwas Überzeugungsarbeit konnte Robinson den Primettes dann auch einen Termin zur Vorsprache bei Label-Boss Berry Gordy vermitteln. Der aber gab den unbedarften Teenagern den väterlichen Rat, erst einmal die Schule abzuschließen und noch etwas Auftrittserfahrung zu sammeln. Das taten sie dann auch und gingen prompt als Siegerinnen beim großen internationalen Musikfestival der Stadt Detroit am Independence Day des Jahres 1960 hervor.
Dadurch wurden auch andere Talentjäger auf die Primettes aufmerksam, was ihnen ihren ersten Deal bei dem lokalen R&B-Label Lu Pine Records einbrachte. Die vier jungen Frauen träumten aber nach wie vor von Motown und hingen weiterhin mit der Crew und den Musikern im Hitsville U.S.A. Studio am West Grand Boulevard nahe Downtown Detroit herum. Betty McGlown hatte zwischenzeitlich geheiratet und die Gruppe verlassen. Für sie kam Barbara Martin. Und als dann die Primes von Motown unter Vertrag genommen wurden, sahen auch die Primettes ihre Stunde gekommen.
An die Spitze der allgemeinen US-amerikanischen Charts
Und so begab es sich, dass Berry Gordy den Primettes noch im Jahr 1960 einen Plattenvertrag anbot; aber nur unter der Bedingung, dass sie ihren Namen änderten, der Gordy zufolge zu sehr nach Primates klang. Er legte ihnen eine Liste mit Namensvorschlägen vor, aus der Florence Ballard schließlich den Namen The Supremes auswählte. Das klang zwar etwas hochgestochen, aber man hatte ja schließlich auch hohe Ziele. Bereits im Frühling 1961 wurde die erste Single der Supremes mit dem Titel „I Want a Guy“ veröffentlicht. Die erhoffte Chartnotierung stellte sich jedoch nicht ein. Auch von den nachfolgenden fünf Singles konnte keine so richtig zünden, so dass man die erfolglose Girlgroup Motown-intern schon als die No-Hit-Supremes verspottete. Inzwischen erwartete Barbara Martin ein Kind und hatte ebenfalls die Gruppe verlassen.
Die verbliebenen drei beschlossen, fortan als Trio weiterzumachen. Derweil hatte Motown-Chef Gordy entschieden, Ross stärker in den Mittelpunkt zu rücken und ihr den Leadgesang zu übertragen, da ihre Stimme weniger schwarz klang, als die der beiden anderen. Inwiefern diese Entscheidung einer Liebesbeziehung geschuldet war, die Gordy und Ross unter Geheimhaltung führten und aus der sogar ein gemeinsames Kind hervorging, oder von Gordys Intention motiviert war, mit der Musik seines Labels auch in den weißen Markt vorzudringen, gehört zu den bestgehütetsten Geheimnissen des Musikbusiness.
Wie dem auch sei, der eigentliche Gamechanger ergab sich aus der Zusammenarbeit mit den beiden Brüdern Eddie und Brian Holland und dem Songwriter und Arrangeur Lamont Dozier, die unter dem Signet Holland-Dozier-Holland – oder kurz: H-D-H – zu einem der erfolgreichsten Songwriter- und Produzententeams der 60er Jahre aufsteigen sollten. Mit Songs wie „Heat Wave“ und „Quicksand“ für Martha and the Vandellas oder „Mickey's Monkey“ für die Miracles, die allesamt sowohl die Top Ten der R&B-Charts als auch der regulären US-Hitliste erreichten, hatten sich die drei Songbirds schon als Hit-Maschine empfohlen.
Und so sollte auch ihr erster Song für die Supremes mit dem etwas sperrigen Titel „When the Lovelight Starts Shining Through His Eyes“ aus dem Stand bis auf den zweiten Platz der R&B-Sparte des tonangebenden US-amerikanischen Billboard-Magazins klettern. Danach folgten mit „Where Did Our Love Go“, „Baby Love“, „Come See About Me“, „Stop! In the Name of Love“ und „Back in My Arms Again“ fünf Singles, mit denen es die Supremes sogar bis an die Spitze der allgemeinen US-amerikanischen Charts schafften.
Das war bis dahin noch niemandem aus der Black-Community gelungen. Mit weiteren sieben Nummer-eins-Platzierungen, darunter so unsterbliche Songs wie „I Hear A Symphony“, „My World Is Empty Without You“, „You Can't Hurry Love“ oder „You Keep Me Hangin' On“, avancierten die Supremes zu Motowns Aushängeschild und zur berühmtesten Girlgroup der 60er Jahre. Tja, wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Nicht ohne Reibereien
Aber natürlich geht so eine Sause nicht ohne Reibereien über die Bühne. Wilson und Ballard neideten es ihrer Kollegin Ross schon etwas, dass sie zur Hauptsängerin auserkoren worden war, während sie, die zuvor durchaus auch schon mal die Leadvocals gesungen hatten, zu reinen Backgroundsängerinnen degradiert wurden. Insbesondere Florence Ballard die zu Primettes-Zeiten öfter mal die Hauptstimme sang, wie etwa auch bei der frühen Supremes-Single „Buttered Popcorn“, litt zunehmend unter der ganzen Situation, was sie immer öfter zur Flasche greifen ließ. Zum Missfallen von Motown-Boss Gordy nahm sie auch immer mehr zu, so dass sie gar nicht mehr richtig in die eng geschnittenen Bühnenkostüme passte. Und als sie dann eines Tages nicht zu einer Aufnahmesession erschien, war das Maß voll. Gordy legte ihr Anfang 1967 nahe, die Gruppe freiwillig zu verlassen, und ersetzte sie vorübergehend durch Marlene Barrow von den Andantes und dann schließlich ganz durch Cindy Birdsong von Patti LaBelle and the Blue Belles.
Zudem ergriff Gordy die Gelegenheit, das Trio – gemäß der neuen Motown-Politik – in Diana Ross and the Supremes umzubenennen. Die H-D-H-Komposition „Reflections“ war die erste Single, die in der neuen Besetzung und unter dem geänderten Namen erschien. Nach einer Reihe von vier Nummer-eins-Hits am Stück, verfehlte sie – wenn auch nur knapp – erstmals die Spitze der Charts. Die nachfolgenden Auskoppelungen konnten dann gar nicht mehr so punkten, wie man es aus den vorangegangenen Jahren gewohnt war.
Dazu kam, dass sich Dozier und die Holland-Brüder mit Label-Chef Gordy zerstritten hatten und Motown Anfang 1968 den Rücken kehrten. Wer sollte jetzt die Hits schreiben? Zwar gelangen Ross und ihren Supremes mit „Love Child“ von 1968 und „Someday We'll Be Together“ von 1969 nochmal zwei Chart-Topper, aber ihre große Zeit war zweifelsohne vorbei. Nach einem Auftritt im Januar 1970 verließ Ross dann schließlich die Gruppe, um mit einer Solo-Karriere durchzustarten. Der Rest ist Geschichte. Diana Ross zählt heute zu den erfolgreichsten Sängerinnen der populären Musik und feierte kürzlich ihren 80. Geburtstag. Florence Ballard war bereits 1976 überraschend, mit nur 32 Jahren, verstorben. Mary Wilson blieb noch bis 1977 Mitglied der Supremes in unterschiedlichen Formationen. Sie starb Anfang Februar 2021 im Alter von 76 Jahren.
P.S. Um auch die Kurve zu unserer 50-Jahres-Schiene zu kriegen, sei auf das Dreifachalbum „Diana Ross & The Supremes Anthology“ hingewiesen, das Motown im Mai 1974 herausbrachte und das mit 35 Titeln die bis dahin umfangreichste Werkschau eines Motown-Acts war. Die Kompilation wurde zwischenzeitlich mehrfach editiert und neu aufgelegt und ist nach wie vor der Königsweg, um sich einen umfassenden Überblick über die Musik der Supremes zu schaffen.
P.P.S. Die Karriere der Supremes war auch die Vorlage des durchaus sehenswerten Musikfilms „Dreamgirls“ von 2006 mit Jamie Foxx, R&B-Superstar Beyoncé und einem überragenden Eddie Murphy. Leider fällt die Musik im Film weit hinter das Original zurück.
YouTube-Link zum herrlichen „Baby Love“ bei einem Auftritt in den britischen Top of the Pops von 1964 (man achte auch auf das tanzende Publikum im Hintergrund!)
YouTube-Link zum dritten Nummer-eins-Hit „Come See About Me“ mit Bildern aus ihrer Karriere
YouTube-Link zu „Where Did Our Love Go“, mit dem den Supremes der große Durchbruch gelang
Hans Scheuerlein ist gelernter Musikalienfachverkäufer. Später glaubte er, noch Soziologie, Psychologie und Politik studieren zu müssen. Seine Leidenschaft gehörte aber immer der Musik.