In Amerika findet eine Kulturrevolution von oben statt. Die lange nur von linksesoterischen akademischen Zirkeln in unlesbaren Büchern vertretene Idee, dass die multiethnische und multireligiöse amerikanische Demokratie in Wirklichkeit von einem gewalttätigen und allumfassenden weißen Rassismus dominiert werde, setzte sich erstaunlicherweise an den meisten Universitäten, in den großen traditionellen Medien und in der Unterhaltungsindustrie durch.
Wissenschaftler, Journalisten, Regisseure verwandeln sich in Aktivisten, denen der Kampf für die gute Sache wichtiger ist als die bewährten Kodexe ihrer Profession, und die ihre einwandfreie Moral und Gesinnung unter Beweis stellen, indem sie die dummgefährlichen Einstellungen ihrer bedauernswert minderbemittelten weißen Mitbürger verurteilen und verlachen. Die Geschichte als sinngebende Erzählung der nationalen Identität wird umgeschrieben. Nicht mehr die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Befreiung von der Kolonialmacht England markieren die Geburtsstunde der Nation, sondern die Ankunft des ersten Sklavenschiffes im Jahre 1619.
Stolz ist verboten
Die Vergangenheit ist toxisch, keinem Kind soll in der Schule gelehrt werden, stolz zu sein auf die Taten seiner Vorfahren. Symbole und Statuen aus der alten Zeit werden dem Mob zur Zerstörung freigegeben, Bücher und Filme auf den Index gesetzt, die Sprache laufend bereinigt; und wer auch nur leises Unbehagen an diesem totalitären Furor zu erkennen gibt, riskiert, von einem Twittergericht als Rassist gebrandmarkt zu werden und sein Ansehen und seine wirtschaftliche Existenz zu verlieren. Ob Mondlandung, Wohlstand, Glühbirne, Befreiung Europas von Hitler: Alle zivilisatorischen Leistungen des Landes haben keinen Wert. Denn sie sind besudelt vom Stigma der Erbsünde: die ungebrochene Herrschaft der Weißen über die schwarzen Nachkommen der Sklaven.
Das 2016 neben dem Weißen Haus in Washington eröffnete erste National Museum of African American History and Culture empfing die Besucher bis vor kurzem mit einem „Guide to Whiteness“ („Einführung in das Weiß-Sein“). Die Schaugrafik führt die nach Meinung ihrer antirassistischen Autoren wichtigsten Merkmale der „weißen dominanten Kultur“ Amerikas auf.
Höflichkeit ist Rassismus
Dies sind unter anderem: „Individuum steht im Mittelpunkt“, „Betonung der wissenschaftlichen Methode“, „objektives, rational lineares Denken“, „strenge Termintreue“, „Höflichkeit“, „schriftliche Tradition“, „Selbstständigkeit“, „Steak und Kartoffeln“, „zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen“ und, bezogen auf die Rechtsprechung, „die Absicht zählt“ und „Schutz des Eigentums“.
Die Verknüpfung von „wissenschaftlicher Methode“ oder „Höflichkeit“ mit weißem Rassismus ist groteske intellektuelle Quacksalberei und könnte als Parodie plumper ethnischer Stereotypen missverstanden werden. Doch den Kuratoren stand der Sinn nicht nach Satire und Humor. Sie meinten es ernst und machten gerade dadurch klar, was das Neuwort „whiteness“ wirklich bedeutet.
Mit Weiß-Sein wird nicht eine Hautfarbe bezeichnet, sondern ein Zustand zwischen Krankheit und Schuld. Weiß-Sein ist die Matrix alles Bösen. Die Antirassisten lassen jene dunkle Zeit wieder aufleben, als ein Mensch nicht nach seinem Charakter, sondern nach seiner angeborenen Hautpigmentierung beurteilt wurde. Nur die Farben sind ausgetauscht worden. Und kein einziger der unzähligen Gleichheits- und Diversitätsbeaufragten an den Hochschulen des Landes hatte gegen den unwürdigen Auftritt des Museums protestiert.
Die Umerziehung kennt kein Ende
Kulturrevolutionen neigen zur Radikalisierung und zur Paranoia. Ihr Feind sind die überlieferten Werte und Einstellungen, doch diese sind schwer greifbar. Sie leben in den Köpfen der Menschen, in ihren Gedanken, Phantasien, in ihrer Sprache. Kaum wird eine Ketzerei entlarvt, wird bereits wieder die nächste enttarnt. Die Umerziehung kommt zu keinem Ende. Will die Kulturrevolution den Feind ganz besiegen, muss sie die Menschen psychologisch unterwerfen, muss sie deren Bewusstsein und Ängste kontrollieren.
Eine Kostprobe lieferte die Vier-Millionen-Stadt Seattle. Das Amt für Bürgerrechte führte letzten Juni eine Weiterbildung durch. Thema: „Unterbrechen der internalisierten rassischen Überlegenheit und des Weiß-Seins“. Eingeladen waren nur „weiße Stadtangestellte“. Die Anwesenden lernten unter anderem, dass sie als Weiße unfähig zur „Menschlichkeit“ seien und deswegen schwarzen Menschen „Leid und Gewalt“ antun würden. Sie wurden ermuntert, ihre rassistische Komplizenschaft als Weiße anzuerkennen, ihr „weißes normatives Verhalten“, ihren „Individualismus“, „Perfektionismus“ und ihre „Objektivität“ wie überhaupt ihr „Weiß-Sein“ aufzugeben.
Seattles Fortbildung ist Teil einer Milliardenindustrie. Die meisten US-Konzerne und Verwaltungen bieten mittlerweile „Diversitäts- und Inklusionstraining“ an. Bücher wie „White Fragility“ (geschrieben von einer Weißen), die eine weiße Identität als per se pathologisch-rassistisch diagnostizieren und weiße Selbstauflösung predigen, finden ein (hauptsächlich weißes) Millionenpublikum. Die Umwertung aller Werte ist im Gange. Die Kulturrevolution schreitet voran.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche