Eugen Sorg, Gastautor / 20.02.2021 / 12:00 / Foto: Pixabay / 34 / Seite ausdrucken

Niemand kann die menschliche Geschichte kontrollieren

Die Französische Revolution pflügte vor 230 Jahren nicht nur Frankreich um, sondern erschütterte und veränderte den Lauf der ganzen Welt. Der Preis für den Sturz der Feudalmonarchie war jedoch unermesslich hoch. Die entfesselte Blutmühle des jakobinischen Tugendterrors löschte die Leben von unzähligen angeblichen „Verrätern“ und „Volksfeinden“ aus, und die auf den Zusammenbruch des Ancien Régime folgenden Kriege forderten Millionen von Toten in ganz Europa. Es dauerte ein Vierteljahrhundert, um auf dem alten Kontinent wieder einigermaßen Stabilität herzustellen. 

Gehorchen solche epochalen Umwälzungen geschichtlich-gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten? Und kann man die sie begleitenden Katastrophen und Tragödien verhindern, wenn man diese Gesetze kennt?

Die italienische Historikerin Benedetta Craveri hat mit ihrem Buch „The last Libertines“ ein faszinierendes und reiches Porträt der Endzeit der französischen Monarchie geschaffen. Anhand von sieben Zeitzeugen lässt sie eine untergegangene Welt nochmals lebendig werden. Die sieben Protagonisten sind Angehörige der aristokratischen Oberschicht, meist schon als Kinder soldatisch ausgebildet, später in diplomatischen Diensten tätig, bekannt oder verwandt mit den Adelshäusern in ganz Europa, reich, privilegiert, weltläufig und – laut Craveri – charakterisiert durch „erlesene Höflichkeit, elegante Manieren, unerschütterliche Freundlichkeit und Treue zu ihrer aristokratischen Kultur.“

Kein Sinn für aristokratischen Stolz

Letztere wurde durch strikte Codes geregelt. Als vulgär und ehrlos galt es – vor allem in Anwesenheit von Untertanen –, die Kontrolle über seine Emotionen und Impulse zu verlieren. Als Madame du Barry, nach Madame du Pompadour die letzte offizielle Mätresse von Ludwig XV., von den jakobinischen Blutrichtern aufs Schafott geführt wurde, habe sie geschrien und gebettelt und getobt. Als Tochter aus einfachem Volk habe sie eben keinen Sinn für aristokratischen Stolz gehabt, gibt Craveri die kühle Reaktion von adligen Zeitgenossen wieder. Ehrenvoll und stilgerecht verhielt sich hingegen der Herzog von Lauzun, einer von Caveris Protagonisten. Er soll seinem Henker freundlich einen Drink angeboten und gemeint haben: „Ihr braucht gewiss Kraft für Euer Gewerbe.“

Strenge und raffinierte Regeln galten auch in der libidinösen Sphäre. Heiraten dienten nüchternen dynastischen und geschäftlichen Interessen. Liebe und Leidenschaft wurden von Männern wie Frauen in vielfältigen außerehelichen Affären und Liaisons ausgelebt. Zeitgenössische Tagebücher, intime Memoiren, romantische Korrespondenzen, Briefromane, Gedichte zeugen von einem aristokratischen Kanon, der die Macht der Erotik, das sinnliche Abenteuer, „die Süße des Lebens“ (Talleyrand) feierte und die Verführung zu einer subtilen Kunstform entwickelte.         

Bemerkenswert ist, dass Craveris Libertins wie viele ihrer Standesgenossen mit den Ideen der Aufklärung sympathisierten und die amerikanische Revolution unterstützten. Sie wussten um die desaströse Ökonomie des Feudalstaates und um die Notwendigkeit politischer und moralischer Reformen. Und sie applaudierten, als das Stück „Die Hochzeit des Figaro“ von Beaumarchais, eine subversive Verhöhnung der Adelsherrschaft, aufgeführt wurde. Doch keiner von ihnen konnte sich vorstellen, dass nur acht Jahre später König Louis XVI. unter dem Gejohle des Plebs öffentlich geköpft, tausende von Aristokraten erschlagen, gejagt, ausgeplündert und ihre Kultur für immer von der Welt verschwinden würde. 

Geschichte folgt keinem Gesetz

Es ging ihnen ähnlich wie in der jüngeren Geschichte den Völkern der Sowjetunion oder des Iran. Beide Länder implodierten so unerwartet wie plötzlich. Und ebenso verblüffend verlief deren weitere Entwicklung. Das riesige, für die kommunistische Ewigkeit gebaute Sowjet-Imperium zerfiel relativ unblutig in eine Vielzahl neuer Staaten, darunter viele Demokratien. Der Sturz der persischen Monarchie hingegen wurde zum Geburtshelfer für einen archaischen, totalitären Islam, der die Welt seit Jahrzehnten mit frommem Terror überzieht.  

Die Geschichte folgt keinem Gesetz, keinem höheren Ziel, keinem Sinn. Sie verläuft chaotisch, gleicht einer Geisterbahn, ist nicht vorhersehbar. Zwar erinnert beispielsweise die Situation in den USA in vielem an die Zustände im revolutionären Frankreich. Die stärkste Volkswirtschaft der Welt lebt auf Pump; durch das soziale Gewebe geht ein tiefer Riss; eine starke neojakobinische Bewegung versucht, ermutigt von einer dekadenten kulturellen, intellektuellen, politischen und technologischen Elite, die nationale Geschichte neu zu schreiben und alle Spuren der angeblich zutiefst rassistisch verderbten Verfasstheit des Landes respektive des weißen heterosexuellen Mannes auszumerzen; das Vertrauen in die demokratischen Institutionen ist auf bedenklich tiefem Niveau etc.   

Doch Historie wiederholt sich nicht. Unzählige, nicht berechenbare Faktoren, vorab die Unberechenbarkeit des menschlichen Subjekts selbst, schaffen laufend neue unbekannte Ursachen, die ihren Gang bestimmen. Die gute Nachricht: „Niemand ist mächtig genug, die menschliche Geschichte unter Kontrolle zu bringen.“ Die schlechte: „Der Preis der Abwesenheit von Kontrolle ist die permanente Möglichkeit von hässlichen Überraschungen.“ (Theodore Dalrymple)    

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

Foto: Pixabay

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Gabriele Klein / 21.02.2021

Na ja, so einfach sollte man die Protagonisten sich nicht aus der Verantwortung stehlen lassen.  Die Geschichte schreibt sich so wenig von alleine und ohne “Zutaten” wie sich ein “Menü” von alleine kocht.  Oder irgendwelche Viren z.B. aus dem “Nichts” entstehen… Die Frage nach der Verantwortung bleibt immer und stehts. Damals wie heute. Um das mit den “Zutaten” d. Geschichte etwas besser zu verstehen empfehle ich wärmstens die Autobiographie von P.Anderman, Der Wille zu leben,, Der Autor erlebte als Zeitzeuge gleich mehrere “Resets” und beschreibt in seinem erschütternden Werk u.a. die Soziologie einer Hölle die er hautnah selbst erlebte und die durchaus der ihr eigenen teuflischen Gesetzmäßigkeit folgt.  Ein Zeitzeugnis so erschütternd wie ernüchternd.  Ich lege es vor allem jenen ans Herz die in Hörsälen und auf Regierungsbänken vom neuen “Reset” träumen.  Dieser “Reset” Knopf scheint unglaublich faszinierend in Regierungskreisen. Da, wer immer ihn drückt, bestimmt wer als nächstes abtransportiert wird, sei es ins braune KZ oder ins rote Arbeitslager nach Sibirien od. nach China. Mögen Zeitzeugen wie P. Anderman jene die bei der Ausarbeitung ihrer “Visionen” und “Theorien” verantwortungslos die Zukunft der ganzen Menschheit aufs Spiel setzten auf den Boden der Wirklichkeit zurückholen

Richard Roth / 20.02.2021

Sprüche 14,22 Die mit bösen Ränken umgehen, werden fehlgehen; die aber Gutes denken, denen wird Treue und Güte widerfahren. Sprüche 14,34 Gerechtigkeit erhöhet ein Volk; aber die Sünde ist der Leute Verderben. Einfach mal die Bibel aufschlagen und man wird feststellen das es doch, Gesetzmäßigkeiten gibt nach denen man die Geschichte verstehen kann. der Gott der Bibel spielt nämlich mächtig mit. Bevor die Dekadente Französische Aristokratie ihr jähes ende auf dem Schafott fand hatte sie dem Protestantismus den Hugenotten das Ende bereitet. Die Hugenotten flüchteten allesamt, nach Deutschland und in die Schweiz Niederlande und England, diese Länder wurden gewaltig aufgebaut durch diese Rechtschaffenen Migranten. Bis etwa 1870 war die Deutsche Exportware Gerechtigkeit Ordnung und Vertrauen, Ergebnis - des in der Reformation stattgefundenen durchtränkt werden mit dem Wort Gottes. Doch langsam verdrängte die Aufklärung die Wahrheit des Evangeliums. Der Adel wurde stolz, das Ergebnis ein furchtbarer Krieg, den Deutschland verlor gefolgt von einem Nächsten Krieg, den Deutschland verlor der noch Menschen verachtender und vor allem noch Gottloser gewesen ist. Die Aufklärung hat auf Deutschem Boden, aber auch die beiden Gottlosen Geisteskrankheiten Nationalsozialismus und Kommunismus geboren. Alle Reiche dieser Welt, versinken vor ihrem Untergang in Ungerechtigkeit Dekadenz und moralischen Sünden aller Art.

Hans-Peter Dollhopf / 20.02.2021

Herr Kah, ich darf Sie an der Stelle korrigieren, an der Sie falsch zitieren: “Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce”, ja? Der Autor des Originals schrieb aber Folgendes: “Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen [nicht wiederholen, bitte!!!]. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.” Derselbe schrieb auch ebenso vom “Opium des Volkes”, aber nie vom “Opium fürs Volk”, was exakt diesen kleinen Unterschied zwischen “Himmel” und “Hölle” ausmacht!

J.Zobel / 20.02.2021

@RMPetersen / 20.02.2021 Eine sehr gelungene und logische Analyse!

J.Zobel / 20.02.2021

PALLA, Manfred / 20.02.2021 Keine Überraschung (mehr) bietet grösster und schnellster ASTERIX in 2021 - unter “2001 FO32” googeln -  aber dann doch EINE,  wenn ER am Sonntag (21/03 um 16 UTC) mal “nicht vorbei-kommt” !?!  ;-) Was soll dieser Kommentar? Machen wir jetzt Geheimkommunikation?

Hans-Peter Dollhopf / 20.02.2021

Herr Sorg, wie sehr Sie doch auch noch in der Denkungsart verwurzelt sind, die Sie hier bestreiten, das verrät die Formulierung: “Gehorchen solche epochalen Umwälzungen[!] geschichtlich-gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten?” Denn der Terminus technicus “Umwälzung” (Revolution) allein repräsentiert bei allen abendländisch-marxistischen Ideologiebildungen, ob Histomat oder sonst ein “Rad der Geschichte”, schreiend die philosophisch behauptete ur-ursachenverhimmelnde Vermurxung des Umstandes, dass unter allen ausgegrabenen Artefakten vergangener Epochen jüngere immer öfter mitunter über einen als Schrift-Auftrag vorhandenen verwertbaren Bezug verfügt hatten ... geritzt, gekeilt, gestemmt, gepinselt, auf Stein, Rinde, Knochen, Holz, Ton, Leder,  Papier, wie auch immer: Erzähltes, aka Geschichte(n)! Bei Marx, dem größten jemals fehlgegangenen Ideologie-Kritiker, endet “Geschichte” aufgrund Entzugs ökonomischen Brennstoffs für Klassenkämpfe im Moment des Überschreitens eines qualitativen Niveaus des technologischen Fortschritts. Allein mit dieser Behauptung begab er sich vollkommen über jeden schriftlichen Geschichtsverlaufsbeleg hinaus ins Reich reinster Spekulation; eines Fantasierens, welches er, überwiegend fatal für seine Fangemeinde, die in ihren besten Zeiten die Hälfte der Menschheit unterjochte, zusätzlich noch in die Zukunft in ein neues Paradies interpoliert hatte! Man muss sich darüber im Klaren sein, dass das 19. Jahrhundert vergleichsweise über gerade einmal rudimentär historische Evidenz von “Geschichte” verfügte! Was darum solcherlei Rausch bei Marx ausgelöst haben mag? Es mag das pure Opium des Volkes gewesen sein! Er jedenfalls beschwebte bereits die Schale des achten Himmels.

Uwe Kah / 20.02.2021

“Doch Historie wiederholt sich nicht. ” ... Falsch. Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.

lutzgerke / 20.02.2021

Sofia Coppola hat ein entspanntes Drama über den Untergang der französischen Monarchchie produziert: “Marie Antoinette”. Die Mäträsse Ludwig XV., Madame du Barry, kam danach aus den Niederungen der käuflichen Liebe. - Ein Wilddieb, der in deutschen Wäldern seinem Handwerk nachgegangen war, erfuhr im Kerker, daß er am Montag hingerichtet werden sollte, worauf er meinte: Die Woche fängt ja gut an. - Gutes Benehmen ist doch angeboren. Und macht unsterblich. - Die EU (Paneuropa) war schon in der Weimarer Republik ein Projekt. Einstein war nicht die einzige schillernde Persönlichkeit, die sich dafür eingesetzt hat. Die ersten Kapitel in Oswald Spenglers Morphologie der Weltgeschichte befassen sich ausführlich mit dem Traum der Oligarchen. Spengler war auf seine Art sicher inspirierend, aber auch für Oligarchen und Sozialdarwinisten interessant, die eine Rechtfertigung für Korruption und Machtmißbrauch suchten. Spengler sagte die Grenzöffnungen übrigens für das Jahr 2000 voraus. Man kann den “Untergang des Abendlandes” auch als strategischen Plan lesen. Der Plan der Globalisierung wird seit langem verfolgt. Aber wie ich das sehe, war der eine Sackgasse.

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