Will jemand ernsthaft behaupten, das bloße Auswechseln der letzten Zahl des Datums bedeute bereits etwas wirklich und wahrhaftig ganz anderes?
An die Magie von Zahlen habe ich nie so recht geglaubt. In Mathematik war ich nicht gut, und Malen nach Zahlen fand ich doof. Und besonders albern waren die halbgaren Jungs, deren Schrottkisten mit einem Nummernschild angaben, auf dem „666“ stand. Das war kein Versprechen, es war noch nicht einmal eine Drohung. „33“ verstand ich ja noch gerade so, aber für „88“ brauchte ich eine Weile. Wie gesagt: schlecht in Mathe. Und wo war da die Magie?
Eben. Deshalb verstehe ich auch das ganze Gewese um ein „neues Jahr“ nicht. Was soll das sein, ein neues Jahr? Frisch erworben? Oder will jemand ernsthaft behaupten, das bloße Auswechseln der letzten Zahl des Datums bedeute bereits etwas wirklich und wahrhaftig ganz anderes? 4 die bessere 3? Unfassbare Steigerung des Glücksempfindens in einer blitzeblank frischgeputzten Welt, porentief rein? Ach nein, es wird weitergehen wie bisher, mit ein paar ungewissen Steigerungen – nicht zum größeren Glück der meisten.
Ich als alte Heidin, die Bäume umarmt und Steine streichelt, ziehe, sollte es tatsächlich um Erneuerung gehen, das Datum der Wintersonnenwende vor: den 22. Dezember. Hier liegt das Versprechen auf Erneuerung: mit jeder Minute, an der es tags heller bleibt, steigen die Säfte – und ja: man kann dabei zusehen. Im Januar beginnt es langsam mit etwa einer Minute, es beschleunigt sich dann ab Mitte Februar. Wer zuschauen will, beziehe täglich einen erhöhten Posten Richtung Sonnenuntergang, nehme die Stoppuhr und verzeichne, um wie viele Sekunden das große Gelbe länger oben bleibt. Das hilft überleben bis März.
Der 1.1. hat für sich keine Bedeutung
Also warum dieses Theater wegen eines neuen Kalenderblattes? Welche Magie einer einzigen Zahl sollte dafür sorgen, dass nun alles anders wird? Da müsste schon mehr passieren. Weit mehr. Eine gigantische Machtdemonstration von Traktoren und Lieferwagen aller Sorten etwa. Ein Rücktritt dieser und der nächsten Regierung. Eine Überflutung des Bundeskanzleramts, ersatzweise des Kölner Doms. Aber was hat das mit irgendeinem 1.1. zu tun? Eben. Nichts.
Der 1.1. hat für sich keine Bedeutung. Und deshalb gibt es auch keinen Grund, sein Heraufkommen mit Feuerwerk und Böllern zu feiern. Umgekehrt wird ein Polenböller draus: Der allgemeinen Randale musste im Nachhinein ein Grund verpasst werden. Jeder andere Anlass wäre den meisten Neujahrsrandalierern wahrscheinlich mindestens ebenso recht: Die Oberammergauer Filmfestspiele oder der Jahrestag des Ausbruchs des Krakatau oder die Wiederkunft der Willkommenskultur. Also lassen wir sie ballern und gehen Bäume umarmen im Park. Nur die Gläubigen schauen derweil mit selig geöffneten Augen aufs Ziffernblatt der großen Weltenuhr und erwarten, dass der Himmel aufreißt und „The Great Gig in the Sky“ zum letzten Walzer lädt:
„And I am not frightened of dying, Any time will do, I don't mind. Why should I be frightened of dying? There's no reason for it, you've gotta go sometime.“
Cora Stephan ist Publizistin und Schriftstellerin. Viele ihrer Romane und Sachbücher wurden Bestseller. Ihr aktueller Roman heißt „Über alle Gräben hinweg. Roman einer Freundschaft“.