Quentin Quencher / 04.10.2023 / 16:00 / Foto: Achgut.com / 10 / Seite ausdrucken

Warum ich kein Antisemit wurde

Warum bin ich kein Antisemit geworden? Natürlich ist es verführerisch, diese Frage unter Verwendung von viel Moral und Ethik zu beantworten. In Wahrheit verdanke ich meine Einstellung meiner Mutter und einem Pfarrer.

Es gab einen Zeitpunkt in meiner Kindheit, ab da war ich davor gefeit, ein Antisemit zu werden, das war im Oktober 1973. Damals war ich dreizehn Jahre alt und Juden kamen, bis dahin, in meinem Leben nicht vor. Natürlich wusste ich vom Holocaust, von Auschwitz und den Konzentrationslagern, doch irgendwie schien mir das alles so weit weg, ich kannte keine Juden. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen, und was mir in der Schule darüber erzählt wurde, einer Polytechnischen Oberschule (vergleichbar mit einer Realschule im Westen), das ging an mir vorbei. Manchmal hörte ich von Gleichaltrigen dumme Sprüche, wenn sie beispielsweise über jemanden, den sie nicht leiden konnten, sagten: „Den sollte man vergasen!“ Wahrscheinlich habe ich diesen Spruch nie gebraucht, wenn den meine Mutter mitbekommen hätte, sie hätte mir die Leviten gelesen, mich wahrscheinlich sogar geohrfeigt.

Einmal hatte ich einen aufgeschnappten Fluch benutzt „Gott, verdamm mich!“, eigentlich ein weit verbreiteter Spruch, wenn irgendwas misslungen ist, doch sie nahm das ernst. „Überlege dir, was du dir wünschst, Gott soll dich also verdammen?“, ermahnte sie mich eindringlich. Worte, auch wenn sie nur leichtfertig ausgesprochen wurden, haben eine Bedeutung, die auf den zurückfällt, der sie ausspricht. Das wurde mir schon in der Kindheit klargemacht, allerdings nur im Elternhaus, nicht in der Schule, dort war die Sprache sowieso künstlich und verlogen, ein immerwährendes Nachplappern des Gewünschten.

Eine kleine Anmerkung noch, als Beispiel, wie wichtig meine Mutter Flüche und Verwünschungen nahm, hat mit dem Heine-Gedicht „Die schlesischen Weber“ zu tun. Das mussten wir in der Schule lernen und im Deutschunterricht vortragen. Ich aber weigerte mich, kündigte das wenigstens an, wollte die zweite Strophe nicht aufsagen. Die beginnt mit den Worten „Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten“ und hatte damit die volle Unterstützung der Mutter, was selten vorkam, meist wurde ich dazu angehalten, zu folgen und mich anzupassen. Hier aber unterstützte sie mich. Allerdings hatte die Deutschlehrerin, Fräulein Joachim – auf die Anrede Fräulein bestand sie – wohl von meiner geplanten Verweigerung Wind bekommen, vielleicht konnte sie mich auch nur gut einschätzen, sodass ich nicht aufgefordert wurde, dieses Gedicht vorzutragen.

Scherze und Angriffe

Ich konnte die Lehrerin damals nur schwer einschätzen, sie schien mir zu sehr im System eingebunden, was kein Wunder ist, bei der Literatur, die auf dem Lehrplan stand. Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ etwa. Fairerweise muss ich natürlich sagen, dass auch viel richtig gute Literatur gelehrt wurde, doch die wurde immer in den gewünschten politischen Kontext gesetzt. Auch deshalb las ich, schon als Kind, nur Literatur, die nicht in der Schule behandelt wurde.

Was Fräulein Joachim wirklich dachte, erfuhr ich erst viel später, als ich schon zwei oder drei Jahre aus der Schule raus war. Ich traf sie in einer Buchhandlung in Glauchau, hatte dort gerade eine illustrierte Ausgabe von E. T. A. Hoffmanns „Das fremde Kind“ erstanden. Sie erblickte mich und das Buch in meiner Hand, und ein Lächeln des Glücks erfasste ihr Gesicht. Sofort sprach sie mich an und erzählte mir, immer noch ganz Lehrerin, was für ein großartiger Schriftsteller dieser Autor sei. Wir unterhielten uns noch eine Weile und das war das angenehmste Gespräch, was ich je mit ihr geführt habe. Auf dem Heimweg machte ich mir ein paar Gedanken darüber, wie es jemand wie sie die ganze Zeit, die vielen Jahre, in dem Schulsystem ausgehalten hatte, wo praktisch nur indoktriniert wurde, freie Gedanken aber als gefährlich galten.

Manchmal, in der Schule, trieben wir Schüler unsere Scherze mit den Lehrern, hinter den aufklappbaren Tafeln wurden, beispielsweise, obszöne Zeichnungen gekritzelt, oder andere kleine Gemeinheiten. Die, die das taten, machten es nicht in erster Linie, um den Lehrer zu schädigen oder zu ärgern, sondern meist nur, um in der Klasse als toller Hecht wahrgenommen zu werden. Nun aber, da ich meine Deutschlehrerin als wirklich sehr nette Person kennenlernte – die wahrscheinlich auch unter einem politischen Anpassungsdruck stand und im Unterricht nicht sagen durfte, was sie wirklich dachte –, erfasste mich ein schlechtes Gewissen, wegen dieser auch mit ihr gemachten Scherze. Manchmal, wenn ein Lehrer besonders verhasst war, dann wurden aus den Scherzen direkte Angriffe. Bei mir war es der Sportlehrer, nicht wegen des Unterrichtsfachs, sondern wegen seiner autoritären und diktatorischen, manchmal gemeinen Art, wie er mit uns umging.

Er, der Sportlehrer, kam immer mit seinem Moped zur Schule, einem Sperber, wie ich mich noch gut erinnern kann. Das Gefährt haben wir sabotiert, in den Kerzenstecker Papierschnipsel gesteckt, Luft aus den Reifen gelassen, Verschraubung von Seitenteilen entfernt und so manches mehr. Das hätte teilweise schon gefährlich für ihn werden können und war kein allgemeiner Scherz mehr, sondern persönlich. Er sollte büßen für das, was er uns antat. Heute wäre das sicher justiziabel, war es damals wahrscheinlich auch, aber es ist sowieso verjährt.

Lernen, mit Ungerechtigkeiten zu leben

Wichtig ist, bei allem Unsinn und allen Gemeinheiten, die in der Schule von den Kindern gemacht werden, aus welchem Grund sie geschehen. Ist es Selbstdarstellung vor den Kumpels, wie die Scherze mit der Deutschlehrerin, oder Antwort auf eine Kränkung oder empfundene ungerechte Behandlung, wie beim Sportlehrer?

Doch wie hätte meine Mutter reagiert, wenn sie etwas davon mitbekommen hätte? Natürlich wäre ich ins Gebet genommen, wie man umgangssprachlich so sagt, und meine mangelnde Empathie gegenüber der Deutschlehrerin angesprochen worden. „Deine Selbsterhöhung geht auf Kosten anderer Menschen, die dir nichts Böses wollen“, höre ich sie sagen, natürlich nur imaginär, ich habe ihr diese Worte einfach in den Mund gelegt. Wahrscheinlich hätte sie sich etwas anders ausgedrückt, aber sinngemäß stimmen sie sicher.

Komplizierter wäre der Fall beim Sportlehrer, denn hier gingen Kränkungen voraus, sich dagegen zu wehren hätte natürlich, in ihren Augen, eine gewisse Berechtigung gehabt. Hier wäre es dann zu einer Belehrung über die Wahl der Mittel gekommen, wie man sich gegen als ungerecht empfundende Behandlung wehren kann. Sicher hätte sie mich dabei auch ermahnt, dass ein erlittenes Unrecht nicht durch ein von mir begangenes Unrecht beantwortet werden darf, und dass ich lernen muss, mit Ungerechtigkeiten zu leben, die Welt ist voll davon, sie als Heimatvertriebene aus Schlesien machte es vor. Gerade dieser letzte Punkt, Unrecht zu ertragen, fiel mir immer schwer, bis heute.

In welche Kategorie fällt eigentlich das Aiwanger-Flugblatt, das wohl vom Bruder des derzeitigen Vorsitzenden der Freien Wähler in Bayern verfasst wurde – diente es der Selbsterhöhung oder war es eine Antwort auf eine erlittene Kränkung? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht, doch wenn man den Verlautbarungen des Bruders glaubt, war es wohl hauptsächlich letzteres. Aber mir ist das letztlich auch egal, ich will mich mit diesem Text eines Schülers, von dem ich so gut wie gar nichts weiß, den ich nicht kenne, nicht beschäftigen. Wenn ich hier nur den Text beurteile, das einzige, was ich seriös tun kann, da ich von den Umständen seiner Entstehung nur eine nebulöse Vorstellung habe, dann sieht es doch sehr nach einer misslungenen Antwort auf eine Kränkung aus.

Die ach so Moralischen erwecken mein Misstrauen

Damit wäre es für mich auch erledigt, eine weitere Beschäftigung mit diesem Flugblatt oder der Familie Aiwanger nicht notwendig, lediglich ein Anlass, darüber nachzudenken, welchen Unsinn man selbst eigentlich in Schulzeiten angestellt hat. Dass es dennoch der Grund für diesen Text hier ist, hat mit der Reaktion der Öffentlichkeit zu tun, insbesondere mit dem Vorwurf des Antisemitismus. Was es dazu zu sagen gäbe, hat schon Michael Wolffsohn getan, und dem habe ich nichts hinzuzufügen. Ich will auch nicht weiter auf das üble Spiel von Politikern und Journalisten eingehen, die Vorwürfe kreieren, um einen Gegner fertigzumachen, auch dazu ist schon genug gesagt worden. Nein, was mich umtreibt, ist der in den Raum gestellte Antisemitismus und speziell die Frage: Warum wurde ich kein Antisemit? Es ist so eine Marotte von mir, immer wenn irgendein Thema die Öffentlichkeit beherrscht, darüber nachzudenken, was es mit mir zu tun hat. Betrifft es mich, bekomme ich Ängste, ein ungutes Gefühl, vielleicht Zorn, und vor allem, warum bin ich anders als die Erregten, oder, je nach Thema, die Gleichgültigen?

Oberflächlich betrachtet, werden solche Emotionen oft mit Erkenntnissen und Sachverhalten in Verbindung gebracht, auch weil sie in Diskussionen das Einzige sind, was man vorbringen kann. Klimakleber haben das Kohlendioxid, Antisemiten irgendwelche Verschwörungen, Islamisten Koranauslegungen. Mir sind diese Begründungen meist zu oberflächlich, schon weil es immer Gegenargumente gibt, die Möglichkeit, einen Sachverhalt anders zu sehen. Das trifft auch auf Argumente zu, die eigentlich meine Sicht der Dinge unterstützen – je häufiger ich sie höre, desto skeptischer werde ich. „Erkläre mir den Weg, wie du zu deinen Erkenntnissen gekommen bist, erzähl mir von deiner Kultur, die dich prägte?“, möchte ich dann gerne den Argumentierer fragen. Ein Mathelehrer interessiert sich auch für den Rechenweg, die Klarheit einer Gleichung und nicht nur, ob das Ergebnis stimmt.

Warum bin ich also kein Antisemit geworden? Natürlich ist es verführerisch, diese Frage unter Verwendung von viel Moral und Ethik zu beantworten, doch gerade damit wird, vor allem in der Politik, viel Schindluder getrieben. Die ach so Moralischen erwecken regelmäßig mein Misstrauen. Also beginne ich in meiner Vergangenheit zu graben und lande wieder in der Kindheit. Immer häufiger geschieht mir das, zehn oder fünfzehn Jahre werden dominant in der Erklärung meines Selbst, so stark, dass die folgenden 40 oder 50 Jahre wie ein Abspann wirken.

Juden oder Israel waren kein Thema

Vier Kreise zeichne ich, in denen ich mich hauptsächlich bewegte: das Elternhaus, die Schule, die Kumpels und die Kirche; später, mit der erwachenden Sexualität, wird es ein wenig komplizierter, mit neuen Begierden und Sehnsüchten ändern sich auch die Kreise, in denen man sich bewegt, doch die will ich hier nicht besprechen. Beim Thema Antisemitismus muss ich nur bis in mein 13. Lebensjahr gehen, was da geschah, prägte mich, und die Sexualität spielte noch keine Rolle.

Für jemanden wie mich, dessen Gedankengänge meist mäandern und selten geradlinig sind, ist nun die Verlockung groß, die Frühsexualisierung anzusprechen, deren Auswüchse heute zu beobachten sind. Doch diese Kurve nehme ich jetzt hier nicht, obwohl es sicherlich auch mal einer Betrachtung wert wäre, mir auszumalen, was mit mir passiert wäre, wenn dieses Thema in meine Kindheit hinein mir aufgedrängt worden wäre.

Jetzt bleiben wir aber mal bei den vier Kreisen und lassen den Sex beiseite, er spielte damals noch keine Rolle für mich. Die Kumpels habe ich oben schon erwähnt, Sprüche wie „den sollte man vergasen“ waren geläufig, aber mehr als Wichtigtuerei. Juden oder Israel waren kein Thema, wir kannten niemanden, wussten von niemandem, der Jude ist. Nicht mal interessierte es uns, ob irgendwelche Schauspieler, Schriftsteller oder Musiker jüdisch sind. Im Elternhaus sah es ähnlich aus. Hier kann ich nur aus dem, wie sich meine Mutter sonst bei verwandten Themen verhalten hat, ableiten, was sie dazu gesagt hätte. Sicher ist, wäre ein antisemitischer Text von mir aufgetaucht, oder so etwas wie das Aiwanger-Flugblatt, sie hätte geweint, aus Enttäuschung über mich.

Dann die Schule. Dort wurde von den Zionisten gesprochen, wie die den Palästinensern das Land und die Heimat raubten und ähnliche Narrative. Keiner wusste, was Zionist bedeutet, es wurde auch nicht erklärt. Wenn also von aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Phänomenen gesprochen wurde, dann immer im Kontext einer als Wunschziel angestrebten sozialistischen Völkergemeinschaft unter Führung der Sowjetunion. So ähnlich ist es bei Linken bis heute, ein wenig angepasst und den Fokus nicht mehr auf ein Land mit Führungsanspruch gelegt, aber im Grunde vergleichbar. Ein Klassenkamerad wagte es einmal, im Unterricht zu sagen, er habe nichts gegen die Kapitalisten, sie seien auch Menschen. Das genügte, den Direktor der Schule auf den Plan zu rufen, und der ging dann in die Klassen und erklärte den Schülern, dass der Schüler Christoph ein Kapitalistenfreund sei und somit ein Feind unseres fortschrittlichen Sozialismus. Der Schüler wurde an den Pranger gestellt, was ihn aber sehr populär machte und ihm Bewunderung für seinen Mut einbrachte.

Die Zionisten diskreditieren

Die Welt war zweigeteilt, hier die sozialistischen Guten unter Führung der Sowjetunion, dort die kapitalistischen Bösen, von den USA verführt. Wie gesagt, bei den Linken hat sich nicht viel geändert seitdem, außer die Lobpreisungen auf die UdSSR, die verkneift man sich. Diese Zweiteilung der Welt in Gut in Böse bewirkte, dass Israel als Feind betrachtet wurde. Ob das schon unter die Kategorie Antisemitismus fällt, weiß ich nicht, aber sicher wurde mit vorhandenen antijüdischen Bildern gespielt. Dass diese Bilder wirksam waren, daran besteht kein Zweifel, auch der Fluch der Kumpels „den sollte man vergasen“, ist ein starkes Indiz dafür. Kaum einer reflektierte diese Sprüche, die meisten Kumpels oder Klassenkameraden hatten andere Mütter als ich.

Sicher ist, Antisemitismus hat sich gut mit der Propaganda vertragen, er stand nie im Widerspruch zum System, wurde vor allem dann billigend in Kauf genommen, wenn es darum ging, den Feind Israel, die Zionisten, zu diskreditieren. Dieser Fokus auf den Staat Israel macht sicher den Unterschied zwischen dem Antisemitismus der Nazis und dem der Kommunisten aus. Während die einen wissenschaftlich argumentierten, über Blut und Abstammung, taten es die anderen politisch. Im Ergebnis kamen sie zur gleichen Aussage: Der Charakter der Juden ist verdorben, so die Nazis, der Charakter der Zionisten ist verdorben, so die Kommunisten.

Wenn wir die Gedankengänge, wie diese Personen zu ihren Überzeugungen kamen, etwas genauer verfolgen, die Rechenwege kontrollieren, wie der Mathematiker sagt, dann werden viele Ungereimtheiten sichtbar, beispielsweise die durchaus politisch linke Ausrichtung des Zionismus. Aber das auszusprechen, hätte einen ähnlichen Pranger zur Folge gehabt, wie ihn mein Klassenkamerad erfahren hat.

Die Welt der Kultur und des Geistes

Kommen wir zum vierten Kreis, der Kirche. Fairerweise kann ich von „der Kirche“ gar nicht viel berichten, zu unklar und wenig deutlich erscheint sie mir bis heute. Eine Organisation, die Glaubensfragen und die Religion vertritt und repräsentiert, Identitätsprozesse ebenso, ein Zugehörigkeitsgefühl? Sicher von allem etwas, für mich aber war sie ein Ort der Suche nach alternativen Erklärungen, nach irgendwas, was weder im Elternhaus, schon gar nicht in der Schule oder bei den Kumpels zu finden war.

In der Georgenkirche in Glauchau befand sich eine Silbermannorgel, und wenn da Bach gespielt wurde, ein Konzert gegeben wurde, dann war die Hütte voll. Eine Ahnung von Freiheit entwickelte sich, ein Glücksgefühl entwickelte sich dort. Für mich ist Johann Sebastian Bach bis heute der größte Komponist aller Zeiten, ganz einfach wegen dieser Konzerterlebnisse in Kindertagen. Keine Rockband der Siebziger Jahre, die von uns natürlich auch vergöttert wurden, kam da je heran.

Aber diese Offerte in die Welt der Kultur und des Geistes, die mir die Kirche gab, hat erst mal nichts damit zu tun, dass ich kein Antisemit wurde, sondern mit einem Pfarrer. Der war nämlich ein Rebell, ich erzählte schon mal von ihm. Also dieser Pfarrer war in unsere kleine Gemeinde versetzt worden und somit auch der, der uns in Religion unterrichtete, Christenlehre nannten wir es. Das geschah natürlich nicht in der Schule, sondern im Gemeindehaus und war ganz und gar freiwillig. Etwa ein Drittel meiner Klasse ging da hin.

Das Wissen, ein Außenseiter zu sein

Jetzt kommen wir zum Oktober 1973, der Jom-Kippur-Krieg brach aus, Israel wurde von seinen Nachbarn überfallen. Sofort ging in der Schule die Propaganda los, der Überfall wurde als Befreiungskampf gegen die Zionisten dargestellt, das Übliche eben, nur etwas intensiver. Im Elternhaus wurde, zumindest vor den Kindern, nicht darüber gesprochen, und die Kumpels interessierte dieser Krieg nicht, viel zu weit weg. Doch der neue Pfarrer, der ergriff Partei für Israel. In der Christenlehre zeigte er Landkarten, machte uns begreiflich, welch kleines Land Israel ist und von welcher Übermacht es überfallen wurde. Den Kriegsverlauf auf dem Sinai zeigte er uns auf, beschrieb, wie Ariel Scharon die 3. ägyptische Armee einkesselte und wie es den Israelis dann gelang, bis kurz vor Kairo vorzustoßen. Nein, unser Pfarrer versuchte gar nicht den Anschein von Neutralität zu bewahren, er zeigt klar und deutlich, wo seine Sympathien lagen. Der Religionsunterricht wurde zur Nebensache, wir sprachen nur vom Verteidigungsfall der Israelis.

Anfangs waren wir Jugendlichen etwas irritiert, wie hier jemand so eindeutig Partei ergreifen kann, so klar gegen die staatliche Propaganda gerichtet. Ein Kumpel meinte auf dem Heimweg: „Naja, der stellt das schon ein wenig einseitig dar.“ Ich erkannte da das erste Mal seine Feigheit, er wollte bloß nicht mit etwas in Verbindung gebracht werden, was ihm schaden könnte. Das zog sich später durch sein weiteres Leben. Auf einem Klassentreffen, Anfang der 90er Jahre, rechtfertigte sich dieser Kumpel wortreich mit einem Unglücksfall in der Familie, der hätte bewältigt werden müssen, warum er sich nicht an den Protesten zum Ende der DDR beteiligte.

Doch in mir war das Interesse geweckt, an Israel, an den Juden. Wie schaffte es ein so kleines Land, mit einer Übermacht von Feinden als Nachbarn, zu überleben? Der Holocaust kam mir in den Sinn, auch der hatte das Volk nicht vernichten können. Was mir früher nie aufgefallen war, einfach weil es mich nicht interessierte, wurde nun beachtet. Wie viele deutsche Juden es als Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller, überhaupt Geistesgrößen gab. Irgendwas Besonderes musste an ihnen sein. Dass die von Natur aus schlauer als andere Leute sind, wollte ich nicht glauben, es musste mit der Kultur oder der Erziehung zu tun haben, mit dem Wissen, ein Außenseiter zu sein. Weitere, andere Erklärungen folgten, keine befriedigte mich. Es wird wohl eine der unbeantworteten Fragen bleiben, die mein Leben weiter begleiten.

Momentan neige ich dazu, es als eine Auswirkung der zwei Perspektiven zu deuten. Einerseits sind sie dazugehörig, empfinden sich als Deutsche, verbunden mit der Kultur und den Menschen, andererseits aber auch wieder nicht. Sie haben gleichzeitig eine Innen- und eine Außenperspektive, das wird ihnen geradezu in die Wiege gelegt und ist etwas, was ich mir erst mühsam erkämpfen musste.

Aber jetzt gleite ich so eine Art selbstgebastelter Philosophie ab, wenngleich Sloterdijks Ausführungen zur Neotenie des Menschen schon mit reinspielen, wonach der Mensch vor allem ein Kulturgeschöpf ist, und beende besser diesen Text – mit einem Dank an meine Mutter und den Pfarrer, die hauptsächlich dafür sorgten, dass ich kein Antisemit wurde. Aber nicht nur das, ich habe gerade diesen beiden noch erheblich mehr zu verdanken, einen Großteil meines Seins. Die Kumpels verschwinden dagegen in der Bedeutungslosigkeit, und was die Schule betrifft, da bin ich froh, dass die keinen noch größeren Schaden angerichtet hat. Ich brauche keine Massen oder Ideologien, um mich zu identifizieren und zu erklären, es genügen einige wenige Einzelpersonen.

Auch erschienen auf Quentin Quenchers Blog Glitzerwasser.

 

Quentin Quencher, geb. 1960 in Glauchau, Sachsen, wuchs in der ehemaligen DDR auf, die er 1983 verließ. Seine Heimat war es nicht, die er verlassen hat, er war nie heimisch dort. Auch der Westen oder das wiedervereinigte Deutschland wurde ihm nie ein Zuhause. Immer ist sein Blick der eines Außenstehenden. Hier wie dort, heute wie damals. So ist er ein Vagabund zwischen den Welten. Nach mehrjährigen Aufenthalten in Asien lebt er heute mit seiner Familie in Baden-Württemberg.

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Ralf Pöhling / 04.10.2023

Warum bin ich kein Antisemit geworden? Aus einem einfachen Grund: Ich verlasse mich nicht darauf, was andere sagen und so den ganzen Tag behaupten, sondern darauf, was ich selbst sehe, höre und erlebe und ob das alles logisch Sinn ergibt. Da kommt man interessanterweise andauernd auf ganz andere Ergebnisse, als wenn man einfach dem vertraut, was einem erzählt wird. Man muss Dinge generell in Frage stellen und sich seines eigenen Verstandes bedienen. Das ist anstrengend und führt oftmals nicht zu den einfachen Ergebnissen, die die meisten Menschen so gerne haben wollen. Aber es führt viel öfter zu den richtigen Ergebnissen. Und zwar auch dann, wenn sie einem oder der Mehrheit nicht gefallen. Man wird dadurch bisweilen einsam. Aber das ist mir egal. Ich muss morgens noch in den Spiegel schauen können, ohne mich selbst zu hassen oder verleugnen zu müssen. Das ist mir viel mehr wert, als unbedingt mit der Masse zu schwimmen. Insbesondere dann, wenn die Masse nicht richtig im Kopf tickt. Lieber einsam und gesund als gemeinsam nicht ganz dicht.

Michael Müller / 04.10.2023

Ihre Texte lese ich immer besonders gern. Es kommen dabei immer eigene Erinnerungen hoch. Auch ich hatte eine Lehrerin, die Fräulein genannt werden wollte. Ich war in der 2. Klasse und sprach unsere Klassenlehrerin, eine grauhaarige Dame, mit “Frau” an. Sie korrigierte mich: “Fräulein”. “Aber”, so mein Einwand, “Sie sind doch schon so alt ...” “Trotzdem”, sagte das Fräulein Hinne. Sie sei unverheiratet, deshalb werde sie immer noch mit “Fräulein” angeredet. Viele Jahre später sagte ich zu einer rotgrünen 40-jährigen Lehrerin, dass man sie eigentlich mit “Fräulein” anreden müsse, da sie doch unverheiratet sei. Ich solle das ja nicht machen, sagte sie empört. Tja, die Zeiten ändern sich. Ich stand im Unterricht in der Grundschule mehr vorne beim Lehrer in der Ecke, weil ich mich daneben benahm, als dass ich auf meinem Platz saß. Besonders die Mädchen haben mich ständig beim Lehrer denunziert. Wenn ich in der Pause dies oder das tat, wurde ich von diesen kleinen Hexen verpetzt. Ich dachte immer, die können mich leiden, aber als wir die Grundschule verließen, bekam ich von zig Mädchen Briefe. Überall stand im Prinzip das Gleiche: ” Wir werden uns ja nicht mehr sehen, daher Folgendes: Ich habe dich nur deshalb immer bei den Lehrern verpetzt, weil du nie auf mich geachtet hattest. Ich war immer so verliebt in dich, aber du hast mich immer übersehen. Deshalb wollte ich mich an dir rächen.” Da habe ich schon früh gemerkt, dass Weiber irgendwie einen an der Waffel haben. Nur weil die unglücklich verliebt waren, bekam ich ständig nach der Pause vom Lehrer eine Ohrfeige und wurde unter dem Gelächter der ganzen Klasse von ihm am Ohrläppchen gezogen und von meinem Sitzplatz aus durch die ganze Klasse geschleift, bis ich vorne in seiner Nähe in der Ecke abgestellt wurde. Da stand ich dann stundenlang. Und die Weiber waren dann tatsächlich der Meinung, dass ich diese Strafe wegen “Nichtachtung ihrer Schönheit” verdient hatte.  

Hans-Peter Dollhopf / 04.10.2023

Die Prägung von uns Menschen ist ein gut funktionierendes Teufelsding. Ich habe keine besondere Bevorzugung vom Teufel erhalten, Gott sei Dank. Von Josef Schuster, diesem geistigen Brandstifter, der vor dem versuchten Anschlag auf Alice Weidel eine anti-AfD Promiliste zeichnete, kann man das nicht mehr klar behaupten. Sorry, Karl Marx und Bertolt Brecht waren verglichen mit dir noch Menschenfreunde, yo Joe!

Marcel Seiler / 04.10.2023

Vielen Dank für diesen Beitrag! An diesem Artikel hat mir besonders das ganze Beiwerk gefallen, also weniger die Frage des Antisemitismus als die Schilderungen der damaligen Umstände und die Betrachtungen und Kommentare des Autors über diese Umstände: gut kommentiert und sehr einfühlsam.

Heinz Thomas / 04.10.2023

Herzlichen Dank, Herr Quencher! Der Text… einfach berührend und nicht zuletzt die Erinnerung an die eigene Jugend weckend. Vieles entspricht den eigenen Erlebnissen und Erkenntnissen. Was die Christenlehre betraf, war so ein Pfarrer bei uns leider weit und breit nicht in Sicht. Stattdessen schwafelte eine Diakonin damals schon (und bei mir liegt es etwas weiter zurück), dass die Christen und die Kommunisten ja eigentlich die gleichen Ziele haben… Das verschaffte mir dann viel Freizeit - das Geschwafel habe ich mir dann erspart.

Ulrich Trentepohl / 04.10.2023

Schön, dass Sie der Versuchung ein Antisemit zu werden widerstehen konnten! Da stellt sich aber die Frage: wie kann das passieren? Dass man Antisemit wird, oder aber Semit? Wer sind denn die Semiten? Die Nachfahren von Sem, einem der drei Söhne Noahs. Von diesem stammen aber nicht nur die Juden, sondern auch die meisten Vorderasiaten und Europäer ab. Wenn man nur keine Juden mag, ihnen eventuell auch den Tod wünscht, bzw. wo möglich noch selbst Hand anlegt, was ja in vielen arabischen sowie in anderen islamisch infizierten Gesellschaften Konsens ist, wäre es doch sinnvoller von Antijudaismus zu sprechen. Wem das zu primitiv ist, der spreche doch bitte von Antizionismus, also dass er etwas dagegen hat, dass die Juden ihr angestammtes Land wieder in Besitz nehmen (weil man sie sonst nirgendwo haben will). Da gibt es aber noch ein paar ganz feinsinnige Antirassisten, die sich mit Israelkritik begnügen und meinen, sich damit unauffällig zwischen den Kongo- Tahiti- und Bulgarienkritikern verstecken zu können. Nein! Es ist alles dasselbe! Wer nicht akzeptieren kann, dass der Segen den Gott über Abraham und über die Nachkommen seines Sohnes Isaak aussprach (siehe 1. Buch Mose, ab Kapitel 13, mehrfach wiederholt) immer noch gilt und sich mit Gottes Souveränität nicht abfinden kann, eventuell sich darüber ärgert zu den Nachkommen Ismaels zu zählen und meint die Menschheitsgeschichte selbst schreiben zu müssen, der ist immer Anti-Gott, egal wie er oder sie sich verkleiden. Sie glauben alle der ersten Lüge der Schlange: Ihr werdet sein wie Gott

Franz Klar / 04.10.2023

Was wir schon immer wissen wollten und nie zu fragen wagten !

Regina Becker / 04.10.2023

Hallo Herr Quencher. Ihren Artikel finde ich gut. Doch ich muss sagen, die politische Instrumentalisierung eines “Zionismus” ist nur ein Teil der Sache. Die DDR hat offen die Palästinenser unterstützt und ihren Terror gefördert. So ähnlich, wie sie der RAF einen Rückzugsort geboten hat. 1972 fand der Terroranschlag auf die Olympischen Spiele in München statt. Die Palästinensergruppe Schwarzer September hatte Verbindungen zur Fatah von Jassir Arafat. Ein Jahr später, 1973, war Jassir Arafat Ehrengast der X. Weltfestspiele in Ostberlin. Er saß neben Honecker auf der Tribüne und die linke Jugend der Welt jubelte ihm zu. Juli/August 1973 - man erinnere sich. Wie gesagt, war das Attentat in München im Jahr davor. Ebenso der Freispruch der kommunistischen US-Bürgerrechtlerin Angela Davis. Anfang des Jahres 1973 ging der Vietnamkrieg zu Ende, die Situation in Chile wurde immer dramatischer. Die politisch linke Jugend der Welt traf sich in Berlin. Angela Davis war da und - Palästinenserführer Arafat. Die DDR-Führung schickte Arafats Fatah Maschinenpistolen und unterstützte finanziell. Die DDR nahm Palästinenserkinder auf. Arafat war regelmäßig in der DDR zu Gast - muss sich gelohnt haben. Es gab ja den Witz, dass es nur 2 Hosen hatte: ne PUMP-Hose und ne SCHLAUCH-Hose. Beim Jom Kippur war klar, auf wessen Seite die DDR stehen würde. Die DDR wollte Israel weg haben. Arafat wurde als Staatsgast empfangen. Zu Israel gab es keine diplomatischen Beziehungen, denn dieses Land wurde zum Vorposten des amerikanischen Imperialismus in Nahost erklärt. Auch ich bin nicht antisemitisch/antiisraelisch geworden. Die Gewalt der Palästinenser hat mich damals wie heute abgestoßen. Doch wieder werden sie hofiert. Wieder werden Juden geschlagen, Israelflaggen runtergerissen, Palästinenserflaggen geschwenkt und antiisraelische Parolen gegrölt. Mitten in Deutschland. Statt Arafat hat man Abbas. Was hat sich geändert?

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