Thilo Sarrazin / 12.11.2018 / 06:20 / Foto: Achgut.com / 49 / Seite ausdrucken

Warum Bundeskanzler der sicherste Job in Deutschland ist

Der frühere Ministerpräsident von Hessen, Holger Börner (SPD), von Beruf gelernter Maurer, sagte vor 36 Jahren, im Mai 1982, etwas sehnsüchtig: Früher, auf dem Bau, habe man gewisse Konflikte mit der Dachlatte geregelt. Er bezog sich auf die Demonstrationen gegen die Startbahn West, einer der Ursprünge und Kraftquellen der grünen Bewegung. Drei Jahre später – 1985 – vereidigte er den Grünen Joschka Fischer, der in weißen Turnschuhen vor ihm stand, als hessischen Umweltminister. 33 Jahre später, bei der jüngsten Hessenwahl, zogen die Grünen mit 93 Stimmen Vorsprung an der SPD vorbei und wurden nach der CDU zweitgrößte Partei. Dass die SPD in ihrem Stammland von den Grünen deklassiert wurde, ist ein Vorgang von großer symbolischer Bedeutung.

Auch die CDU wurde von ihren riesigen Stimmenverlusten im erfolgreich regierten Hessen am 28. Oktober ins Mark getroffen. Aber Angela Merkel eröffnete schon einen Tag später mit ihrem Verzicht auf den CDU-Parteivorsitz und der Ankündigung, zur nächsten Bundestagswahl 2021 ganz aus der Politik auszuscheiden, für die Neuausrichtung ihrer Partei eine glaubwürdige Verfahrensperspektive. Als ihr wesentliches Erbe wird bleiben, dass sie durch die Öffnung der CDU nach links der SPD die großen Themen geraubt und gleichzeitig durch eine rigorose Umweltpolitik die grünen Themen in die Union geholt hat.

Als neues Muster gilt offenbar: Wer „fortschrittlich“ denkt und die Union nicht wählen will, stimmt für die Grünen. Die SPD ist als zweitgrößte Partei wohl endgültig durch die Grünen abgelöst worden. In den Umfragen auf Bundesebene pendelt sie bei 14 bis 15 Prozent. Das blamable Ergebnis von 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl 2017 erscheint heute wie ein unerreichbarer Traum. 

Vor diesem Hintergrund wäre es für die SPD absolut irrational und politischer Selbstmord, Neuwahlen zu riskieren. Sie muss deshalb bis September 2021 treu zur großen Koalition und zu Angela Merkel stehen. Ebenso wenig kann irgendjemand in der CDU/CSU ein Interesse an Neuwahlen auf Bundesebene haben. Zu furchterregend ist die Lücke zwischen den gegenwärtigen Umfragewerten von 24 bis 27 Prozent und dem Ergebnis der Bundestagswahl von 32,9 Prozent.

Keine Mehrheiten für ein konstruktives Misstrauensvotum

Ohne Neuwahlen gehört aber das Amt des Bundeskanzlers bis September 2021 zu den sichersten Arbeitsplätzen in Deutschland, denn Mehrheiten für ein konstruktives Misstrauensvotum oder auch nur der Wille dazu sind weit und breit nicht in Sicht. Angela Merkel kann sich jetzt drei Jahre lang in Ruhe den Regierungsgeschäften widmen und den Selbstfindungsprozessen ihrer drei Koalitionsparteien aus der Distanz zuschauen:

  • Im Kampf um den Parteivorsitz der CDU wird beim Parteitag im Dezember 2018 aller Voraussicht nach die Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer das Rennen machen. Für ihren Konkurrenten, den Gesundheitsminister Jens Spahn, kommt der Zeitpunkt der Entscheidung zu früh. Mit Kramp-Karrenbauer als Kanzlerkandidatin eröffnet sich gleichzeitig 2021 die Perspektive für eine schwarz-grüne Bundesregierung, quasi die aktualisierte Neuauflage einer großen Koalition.
  • Seehofers Tage als CSU-Parteivorsitzender und als Bundesinnenminister scheinen gezählt. Er ist zum Symbol des Scheiterns geworden und hat alle Chancen verstreichen lassen, soviel taktisches Gespür wie Angela Merkel zu zeigen. Nicht einmal in der Flüchtlings- und Einwanderungsfrage hat er sich Glaubwürdigkeit bewahren können.
  • Zur tragischen Figur scheint Andrea Nahles bestimmt. Sympathisch und frisch im Auftreten, hat sie doch in nur wenigen Monaten als Parteivorsitzende gezeigt, dass sie ihrem Amt weder taktisch noch strategisch gewachsen ist: Für das grün-bürgerliche Biotop ist sie nicht intellektuell genug, für die klassische Arbeiterschaft fehlt es ihr an Stallgeruch, und für den konservativen SPD-Wähler, der der Anziehungskraft der AfD zu erliegen droht oder schon erlegen ist, ist sie zu links.

Als kleinere Oppositionsparteien scheinen sich FDP und Linke dauerhaft zu etablieren, aber für beide ist keine Rolle in Sicht, die zum Regieren führen könnte: Nur die Grünen scheinen künftig noch stark genug für eine Regierungsmehrheit an der Seite einer durch die Merkel-Zeit strukturell geschwächten Union. Die Linke dagegen lebt traditionell von den Fundamentalisten, die sich von der SPD abgewandt haben, eine stabile, aber verlässlich kleine Größenordnung. Die einzige Machtperspektive, die die Linke auf Bundesebene je haben könnte, wäre rot-rot-grün, was angesichts der SPD-Schwäche auf lange Zeit undenkbar erscheint.

Union und Grüne künftige Regierungsparteien

Es verbleibt die AfD, die betont unbeachtet wie ein Elefant im politischen Raume steht. Sie ist jetzt in allen 16 Länderparlamenten und im Bundestag vertreten und häufig größer als die SPD. Selbst im traditionell linken Hessen hatten bei der jüngsten Landtagswahl CDU, FDP und AfD zusammen mehr Stimmen als Grüne, SPD und Linke. Solange aber die AfD bei der politischen Koalitionsarithmetik ausgeschlossen wird, ist der klassische Regierungswechsel zwischen links und rechts in Deutschland unmöglich geworden. Das mag man noch für einige Jahre durchhalten, aber genau wie bei Grünen und Linken wird dies dauerhaft nicht möglich sein.

AfD und SPD werden auf absehbare Zeit die führenden Oppositionsparteien in deutschen Parlamenten sein. Das Schicksal der SPD wird auch davon abhängen, wie sie sich in diesem Wettbewerb behauptet. Es wird nicht reichen, wenn die SPD sich darauf beschränkt, auf den Oppositionsbänken in Bund und Ländern der verlängerte Arm der künftigen Regierungsparteien Union und Grüne zu sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zürcher Weltwoche

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Sepp Kneip / 12.11.2018

Es ist in der Tat eine etwas verzwickte Situation derzeit. Warum? Weil es keine Demokratie mehr gibt in Deutschland. Die hat Merkel zerstört, um bis zum bitteren Ende weiter regieren zu können. Sie hat ja noch einen Auftrag zu erfüllen: Deutschland und Eiropa mit Migranten zu fluten. Zwar bekommen viele in der Union kalte Füße. Aber Merkels Auftraggeber haben vorgesorgt. Irgend wie hat man den Grünen Wachstumshormone verpasst. In welcher Form auch immer. Dagegen werden Millionen aufgewndet um die AfD zu zerstören. Die Unterschrift unter den Migrationspakt darf ja nicht gefährdet werden. Die SPD hat sich in dem Moment selbst zerstört, als sie wieder in eine GroKo eingestiegen ist. Wer es als Kanzler/ln fertig bringt, solche parlamentarische Mehrheiten hinter sich zu bringen, dass ein Misstrauensvotum scheitern muss, hat in der Tat einen festen Arbeitsplatz. Zum Schaden der Kanzlerpartei und zum Schaden Deutschlands und seiner Demokratie.

Axel Großmann / 12.11.2018

Der SPD fällt verdientermassen ihr grenzenloser Opportunismus gegenüber dem jeweiligen Zeitgeist bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Anliegen ihrer eigentlichen Wählerklientel höchst verdientermassen auf die Füße. Angefangen vom engen Schulterschluss mit dieser unsäglichen Friedensbewegung in den 80er Jahren, die in der selbstbetrügerischen Analyse gipfelte, dass die Brandt/Bahr´sche Appeasementpolitik gegenüber Breschnew der Wiedervereinigung den Boden bereitet hätte bis in die heutige Zeit, wo ihr dieser Gender-Quatsch wichtiger ist als wahre Sozialpolitik, es passt nichts. Hat man von der SPD bisher z.B. ein Wort zur in die Urne gefahrenen Gesundheitspolitik gehört, zu dem Irrsinn, dass Krankenhäuser über irgendwelche Kapitalgesellschaften finanziert werden und Gewinne erwirtschaften müssen anstatt Menschen zu heilen? Nur ein Beispiel von vielen!

Klaus Reichert / 12.11.2018

Ich habe gelesen, Nahles sei beim Debattencamp auf dem Catwalk gelaufen. Es gibt dazu aber keine Bilder. Glück gehabt? Dies nur nebenbei. Zu den Grünen fällt mir ein, dass ihr sensationeller Aufstieg etwas zu schnell geht. Trotz zehnjährigem Niedergang der SPD und Vergrünung der CDU blieben sie Special - Interest Partei zwischen acht und elf Prozent. Und nun größer Zwanzig? Was ist in den wenigen Wochen geschehen? Ich glaube eher an ein Gefühlsding. Solange die meisten Wähler Merkel vertraut haben, bekamen sie SPD- und Grünenpolitik mit Merkel als Sahnehäubchen, wenn sie nur CDU wählten. Man fühlte sich wohl und irgendwie war alles gut, sofern man nicht genau hinsah. Nun ist Merkels Ruf hin und was machen die Leute? Wählen die Grünen. Nette junge Leute, die sich nicht streiten, wie sie es bei CDU und SPD tun. Man fühlt sich wieder wohl und irgendwie ist wieder alles gut, sofern man nicht genau hinsieht. Es könnte eine Blase sein, die sich da aufbaut. Die Grünen als neue Volkspartei? Oder als die neue Partei derjenigen, die sich nicht wirklich mit Politik beschäftigen wollen?

Jürgen Keil / 12.11.2018

Ich folge im wesentlichen Ihren Vorhersagen, Herr Sarazzin. Allerdings könnte die AFD Stimmen dazugewinnen, wenn sie einen charismatischen Sympathiefänger an ihre Spitze wählen würde. Eine Frau oder einen Mann, welcher den soliden, bürgerlichen Kern der AFD repräsentiert, nicht mit jeder Rede Steilvorlagen für die “Guten” gibt und damit potenzielle bürgerliche Wähler abschreckt. Zweitens könnte die AFD von einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation infolge einer Krise, wahrscheinlich einer Bankenkrise profitieren. Die Marxisten hatten den Krisenzyklus mit 10- 12 Jahren bestimmt. Das wäre dann noch vor 2021.

Dietrich Herrmann / 12.11.2018

AKK als Kanzlerin? Oh Gott, wieder eine Dampfplauderin, Geschwurbel, Geplapper, Blabla ohne Ende dahingelispelt. Das ist eine krasse Strafe für die CDU-Wählerinnen und -Wähler. Oder auch nicht, vielleicht werden die diese Figur ebenso anhimmeln ( etwa 100%?) wie diese unsäglich charakterlose Merkel.

Wolfgang Kaufmann / 12.11.2018

Der generelle Trend im Bund und in den Ländern zeigt ein leichtes Erstarken der Konservativ-Bürgerlichen gegenüber den wie auch immer gefärbten Linken. Der Wille des Wählers ist eine konservative Regierung, Union plus FDP plus AfD. Die Linke hat sich durch zu viel Dogmatismus ins Abseits gespielt; die SPD vor lauter Zeitgeist gar selbstverschuldet Harakiri begangen. Soll sie sich doch auf ihr Kerngeschäft besinnen: Medien- und Verlagsarbeit, vielleicht findet sie dort eine neue Heimat. Bätschi.

H.Milde / 12.11.2018

Zukünftig wären noch mehr “Player” in der bundesweiten Parteienlandschaft denkbar. Sollten in Bayern Söder u Aiwanger vernünftige Politik mache und sich nicht zerstreiten, was eher unwahrscheinlich ist da die FW ja Fleisch vom Fleische CSU) sind, könnten diese uU auch bundesweit antreten? Das könnte den Konservativen, die in der vermerkelten cDUsPDGrünnen/SED2.0 keine Option mehr sehen, und denen die AfD irgendwie unangenehm ist eine alternative Perspektive haben? DAS würde das auswürfeln von Koalitionen und das regieren in D deutlich spannender machen, dann hieße es nämlich “Lumpen sammeln” für Getzesvorhaben, wie einst ein physisch etwas überrepräsentatives GroKo Mitglied absonderte. Schaunmermal.

Okko tom Brok / 12.11.2018

Erfrischend sachlich, wie Thilo Sarrazin immer wieder ohne Denkverbote die politische Wirklichkeit Deutschlands beschreibt und analysiert. Wie ausgerechnet er in den Ruf eines „Hetzers“ kommen konnte, erschließt sich wohl nur denen, die noch die verleumderische DDR-Propaganda kannten, der nicht nur der Begriff „Hetzer“, sondern weite Teile der Rhetorik heutiger Bundesregierungen („Kulturschaffende“, „“überwältigende Mehrheit“, „breites Bündnis“ usw.) zu entstammen scheint.

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