Nicht alles, was ein Amtsrichter in Weimar in ein Urteil schreibt, muss richtig sein. Aber auch nicht alles, was der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einen Beschluss schreibt, ist zutreffend. Auch Richter sind bekanntlich Menschen. Menschen können irren. Das macht sie liebenswert und sympathisch. Zu einem guten Diskurs gehört, einander respektvoll auf derartige Irrtümer aufmerksam zu machen, denen wir Menschen aufsitzen. So – und nur so – kommen wir gemeinsam am Ende zu den richtigen Entscheidungen. Und das ist es ja, was wir wollen. Hier einige Anmerkungen zur besseren juristischen Methodik.
Was fällt auf an der Entscheidung der Münchner Verwaltungsrichter vom 24. Januar 2021? In der Entscheidung BayVGH 10 CS 21.249 heißt es:
„Auch der Hinweis des Antragstellers auf die Mitteilung der WHO vom 20. Januar 2021 zum Gebrauch von PCR-Tests stellt die Gefahrenprognose nicht in Zweifel. Diese Mitteilung betont lediglich die Notwendigkeit einer sachgemäßen Durchführung von PCR-Tests zur Feststellung einer Infektion und adressiert Anwender auf der ganzen Welt. Für die Annahme, dass PCR-Tests in Deutschland nicht ordnungsgemäß durchgeführt würden, nennt der Antragsteller jedoch keinerlei Beleg. Das weitergehende sinngemäße Argument des Antragstellers, dass mittels PCR-Tests keine aktuelle Infektiosität der Testperson nachgewiesen werden könne und deshalb die Voraussetzungen des IfSG für Schutzmaßnahmen nach den §§ 28 und 28a IfSG nicht durch den Verweis auf das mittels PCR-Tests ermittelte Infektionsgeschehen nachgewiesen werden könnten, beruht auf einer unzutreffenden Interpretation der gesetzlichen Grundlagen und ist deshalb irrelevant (im Ergebnis ebenso BayVGH, B.v. 8.12.2020 – 20 CE 20.2875 – juris Rn. 9; OVG NW – B.v. 30.11.2020 – 13 B 1658/20.NE – juris Rn. 32 f.). § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG und daran anknüpfend § 28a Abs. 1 Nr. 10 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 IfSG verlangen als Voraussetzung für eine Schutzmaßnahme nicht, dass infektiöse Personen festgestellt werden. Erforderlich ist nach dem ausdrücklichen Wortlaut, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden. Allein die Anzahl der hospitalisierten Covid-19-Patienten einschließlich der entsprechenden Belegung von Intensivbetten auch in Bayern (Zahlenmaterial bei https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/kartenansichten) genügt ohne Weiteres für die Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG und daran anknüpfend § 28a Abs. 1 Nr. 10 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 IfSG.“
Das ist leider methodisch verfehlt.
Wenn – nach der Klarstellung der WHO vom 20.01.2021 – ein bloß positiver PCR-Test keine Infektion nachweist, kommt auch nicht in Betracht, einen dergestalt positiv Getesteten als „Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheider“ zu klassifizieren. Denn wer nicht infiziert ist (und bei wem nicht einmal eine Kontamination unzweifelhaft festgestellt ist), der fällt per definitionem in keine dieser vier Gruppen. Weiß man nicht, ob Hans in ein Kalkfass gefallen ist, dann kann man nicht sagen, ob er eingestaubt oder möglicherweise eingestaubt ist. Man kann folglich auch nicht wissen, ob er andere einstauben könnte oder gar beim Gehen Kalk verliert.
Ebenfalls denkgesetzlich unstatthaft ist, von der Anzahl „hospitalisierter Covid-19-Patienten“ auf eine kritische Anzahl „Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider“ außerhalb des hospitalisierten Bereiches rückzuschließen. Denn aus dem Umstand, dass z.B. 7 Prozent aller Patienten in einem Krankenhaus ein gebrochenes Bein haben, lässt sich nicht drauf schließen, dass auch 7 Prozent der Gesamtbevölkerung außerhalb des Krankenhauses gebrochene Beine hätten.
Wenn man einen Tirolerhut für eine Ente hält
Mehr noch: Auch der Verweis des BayVGH auf seine eigene Entscheidung vom 8.12.2020 zu 20 CE 20.2875 verfängt tatsächlich nicht. Dort hat der BayVGH wörtlich ausgeführt:
„Das Beschwerdevorbringen, PCR-Tests könnten keine Infektionen nachweisen, greift nicht durch. PCR-Tests sind grundsätzlich nicht ungeeignet, um die Infektionsgefahr von SARS-CoV-2 abzubilden. Solange keine zuverlässigere Testmethode vorhanden und anerkannt ist, stellt der PCR-Test ein geeignetes Instrument zur Einschätzung der Übertragungsgefahr von SARS-CoV-2 dar (BayVGH, B.v. 8.9.2020 - 20 NE 20.2001 - juris Rn. 28; OVG NW - B.v. 30.11.2020 - 13 B 1658/20.NE - juris Rn. 32 f.).“
Diese Darstellung ist als Argumentation rein verfassungsrechtlich schon im Ansatz schwierig. Denn nicht alles, was „grundsätzlich nicht ungeeignet“ ist, ist auch im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung schon hinlänglich geeignet. Das Tasten nach einer Feder ist nicht grundsätzlich ungeeignet, wenn man nach einer Ente sucht. Man darf sich dann aber auch nicht wundern, wenn man einen Tirolerhut für eine Ente hält.
Die weitere Begründung des BayVGH zeigt aber auch, daß der Senat augenscheinlich in der Vorstellung lebt, es gäbe ‚den‘ PCR-Test. Das ist aber rein tatsächlich unzutreffend. In Wahrheit gibt es eine unabsehbare Vielzahl von PCR-Tests, die – und das ist entscheidend – mit unterschiedlichen Replikationszyklen arbeiten. Ein PCR-Test mit 25 Zyklen (25Ct) liefert wesentlich andere Testergebnisse als ein Test mit 30, 35 oder gar – wie der „Drosten-Test“ – 45 Zyklen (in den Worten der WHO Information Nr. 2020/05: „The cycle threshold (Ct) needed to detect virus is inversely proportional to the patient’s viral load.“). Ein PCR-Testergebnis kann daher allenfalls dann ein „geeignetes Instrument zur Einschätzung der Übertragungsgefahr von SARS-CoV-2“ sein, wenn der Ct-Wert zu statistischen Vergleichs- und Erkenntniszwecken generell und lückenlos offengelegt wird. Eine derartige verbindliche „Eichung“ ist auch aus Rechtsgründen zweifellos einforderbar. Maße, Gewichte und Zeitbestimmungen unterliegen von Verfassungs wegen mit guten Gründen der Rechtsklarheit ebenfalls der bundesgesetzlichen Normierung: Art. 73 Nr. 3 GG.
Erkennbar nicht in sein Begründungskonzept gepaßt
Irritieren muss nächstens, wenn der BayVGH im Zusammenhang mit der Verteidigung des (nach WHO-Angaben nun alleinig infektionsschutzrechtlich unzureichenden) PCR-Tests ausgerechnet auf die Entscheidung OVG NW vom 30.11.2020 – 13 B 1658/20.NE Bezug nimmt. Diese Entscheidung erwähnt nämlich den PCR-Test überhaupt nicht, sondern führt nur aus:
„Die gegenwärtige Situation ist durch einen starken Anstieg der Infektionszahlen gekennzeichnet. Die 7-Tage-Inzidenz liegt mit Stand vom 27. November 2020 für ganz Deutschland bei einem Wert von 136 und für Nordrhein-Westfalen nochmals deutlich darüber bei einem Wert von 150. Die berichteten R-Werte liegen derzeit bei 0,82 (4-Tage-R-Wert) und 0,93 (7-Tage-R-Wert). Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich in den vergangenen Wochen von 618 Patienten am 13. Oktober 2020 auf 3.854 Patienten am 27. November 2020, von denen 60 % invasiv beatmet werden müssen, mehr als versechsfacht. Dies lässt sich auch nicht mehr durch wenige einzelne Ursachen erklären. Vielmehr stellt sich das aktuelle Infektionsgeschehen sehr diffus dar.“
Da die dort beschriebenen „Inzidenzwerte“ aber ausschließlich auf PCR-Testungen beruhen statt auf sorgsamer ärztlicher Diagnostik im Einzelfall, liegt in der Bezugnahme auf jenen Beschluss des OVG NRW vom 30.11.2020 lediglich ein doppelt unzulässiger Zirkelschluss. Das OVG NRW argumentiert ohne belastbare Tatsachengrundlage mit steigenden Infektionszahlen und der BayVGH folgt ihm hierin unbesehen. Das ist denkgesetzlich unzureichend. Zutreffender wäre gewesen, wenn der BayVGH auf einen anderen Beschluss des OVG NRW vom 25.11.2020 (13 B 1780/20 NE) verwiesen hätte, der sich tatsächlich mit der Leistungsfähigkeit von PCR-Testergebnissen auseinandersetzt. Die Aussage des OVG NRW hat dem BayVGH aber erkennbar nicht in sein Begründungskonzept gepasst. Vielleicht hat er ihn deshalb unerwähnt gelassen Das OVG sagte nämlich am 25.11.2020 wörtlich:
„Der Antragsteller weist zwar zutreffend darauf hin, dass ein positiver PCR-Test als solcher noch keine Infektiosität im Einzelfall belegt. Dies ändert aber nichts an dem Umstand, dass die Entwicklung der positiven Testungen insgesamt sowie die daraus abgeleiteten Inzidenz- und R-Werte und nicht zuletzt auch die steigende Zahl der stationär behandelten COVID-19-Patienten, einen belastbaren Rückschluss auf die Dynamik des Infektionsgeschehens erlauben.“
Mit dieser Begründung liefert das OVG NRW der interessierten Leserschaft zweierlei: Erstens die obergerichtliche Bestätigung, dass ein (sic!) positiver PCR-Test keine Infektiosität beweist. Insoweit befindet sich das OVG NRW also bereits in Harmonie mit der WHO User-Information vom 20.01.2021. Zweitens aber leitet das OVG NRW seine dortige richterliche Annahme zur „Dynamik des Infektionsgeschehens“ in der folgenden Begründung von diesen PCR-Testergebnissen ab. Und genau das ist auch hier unzulässig. Denn wo keine Infektionen nachgewiesen werden (können), da kann auch keine Infektionsdynamik erkannt werden. Wenn ich nicht weiß, ob überhaupt Schneeflocken fallen, kann ich nicht plötzlich sagen, es würden jetzt immer mehr.
Kurz: Die gerichtliche Beantwortung der gestellten Fragen geht landauf landab weiter. Und das ist gut so. Schauen wir nicht auf die Menschen, die argumentieren, sondern setzen wir uns mit ihren Argumenten auseinander! Ob ein Richter, der ein Urteil gesprochen hat, privat Masken trägt, klagt oder nicht klagt, auf Demonstrationen geht oder nicht, ist für die Beurteilung seiner Arbeit irrelevant, mag die journalistische Versuchung auch noch so groß sein, sich an der Farbe seiner Socken oder der Gestalt seiner Frisur abzuarbeiten. Die juristische Herausforderung lautet: Sachlichkeit! Das strafft den streitigen Diskurs nach aller Erfahrung erheblich, spart Zeit und Nerven und führt zu belastbareren Ergebnissen. Wir suchen doch die Wahrheit und nicht den Irrtum, oder?
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